Jahressieger

2006

 

Bevor es mich nach Chorweiler verschlug, machte ich noch zwei kleine Hospitationsausflüge zu anderen Dienststellen, um mir ein Bild machen zu können, wo ich beruflich später vielleicht mal hinwollte, und auch, um Neues zu lernen und für meinen täglichen Dienst mitzunehmen.

Meine erste Station war für einige Wochen die Kriminalwache in Köln-Kalk. Kriminalwache – das hört sich für Laien gefährlich an, ist aber einfach eine Art Bereitschaftsdienst der Kripo. Die Kollegen auf der K-Wache machen all die Dinge, für die die Kriminalkommissariate gerade keine Zeit haben, und was anfällt, wenn die Bürozeiten der Kolleginnen und Kollegen von der Kripo vorbei sind. Sie fahren zu Leichenfundorten, übernehmen die Spurensicherung an Tatorten, unterstützen auch mal bei der Vollstreckung eines Haftbefehls, kümmern sich um Vermisstenfälle und sind immer dann Ansprechpartner, wenn der Streifenbeamte auf der Straße einen etwas komplexeren Fall zu lösen hat, an den vielleicht auch Wohnungsdurchsuchungen, Festnahmen, andere rechtlich nicht immer ganz einfache Maßnahmen oder kriminalistische Ermittlungen gebunden sind.

Ich schlage also im Sommer 2006 dort als Hospitierende auf und stehe zunächst einmal vor der Schwierigkeit, dass es brüllend heiß ist und ich zivile Kleidung plus Waffe tragen soll. Hört sich nach keinem sonderlich großen Problem an. Wenn man allerdings so zierlich ist wie ich, dann fällt eine Waffe auch dann noch auf, wenn man sie unter einem weiten T-Shirt versteckt. Ein Schulterholster mit einer Weste darüber ergibt eine komische Beule unter der Achsel. Man kann die Waffe auch nicht locker im Handtäschchen spazieren führen, wie man das manchmal in Filmen sieht, das ist viel zu gefährlich: Wenn sich etwas im Abzug verkeilt, geht das Ding womöglich plötzlich los.

Im Einsatztrupp hatte ich das Problem eigentlich nie gehabt, dort versteckte ich die Waffe entweder unter einem um die Hüfte geknoteten Pullover, oder man sah sie sowieso nicht, da wir meist im Auto saßen.

Ich probiere also verschiedene Möglichkeiten aus, bekomme von den hilfreichen Kollegen so ziemlich jedes denkbare Holster geliehen, und trotzdem sehe ich aus, als hätte Rotkäppchen sich die Waffe des Terminators geliehen – also nicht sehr vertrauenerweckend.

Schließlich hat einer der Kollegen den rettenden Einfall: Eine spezielle Bauchtasche muss her. Sie ist schwarz und alles andere als kleidsam, aber immerhin praktisch. In einem dafür vorgesehenen Fach kann ich Waffe, Reservemagazine, Handfesseln und alles verstauen, was ich sonst noch benötige – auch meine Notfallschokoladenriegel, die ich statt Zigaretten immer noch für stressige Einsätze dabeihabe. Endlich kann ich, vernünftig ausgerüstet, seriös und kompetent wirkend, meinen Dienst versehen, auch wenn ich immer noch wesentlich jünger und unerfahrener bin als meine Kollegen dort. Aber ich bin ja zum Lernen da.

Es ist ein sehr ruhiger Sommer, den ich auf der K-Wache verbringe. Die Hitze ist selbst in den klimatisierten Räumen kaum zu ertragen, und ganz Köln scheint unter einer großen Dunstglocke friedlich zu schlafen. Wenn ich mir möglichst viele Einsätze erhofft habe, um ein breites Spektrum an Erfahrungen zu sammeln, werde ich enttäuscht: Die meiste Zeit verbringe ich damit, mir mit den Kollegen die Zeit zwischen den Einsätzen vor dem Fernseher, am Computer oder mit einem Buch zu vertreiben.

Hier und da werden wir zu einer Leiche gerufen, weil der Notarzt zunächst einen nicht natürlichen Tod bescheinigt hat. Manchmal stellt sich dann heraus, dass die Todesursache Kreislaufkollaps aufgrund der Hitze war oder dass eine andere Erkrankung zum Tod geführt hat.

In diesem Sommer komme ich auch in den fragwürdigen Genuss meiner ersten Leichenschau, der weitere folgen, und besuche die Gerichtsmedizin. Dort spähe ich in die Körperöffnungen von Toten, halte fahle Arme fest, während die Kollegen den Körper abtasten, dokumentiere das Brechen der Leichenstarre, das manchmal notwendig ist, um die steifen Glieder der Toten bewegen zu können, was natürlich genauestens dokumentiert werden muss, da die Verletzungen der Muskulatur sonst einen Gerichtsmediziner eventuell zu falschen Schlüssen verleiten könnten.

Dabei entdecke ich, dass mir der Leichengeruch, mit dem viele Kollegen zu kämpfen haben, nichts ausmacht. Jeder Polizist hat seine Schwachstelle: Viele Kollegen verdrehen angeekelt die Augen, wenn sie in eine Wohnung müssen, in der eine nicht ganz frische Leiche liegt. Einige haben Probleme, wenn sie mit Kot und Urin konfrontiert werden. Mein Schwachpunkt ist Kotze. Erbricht sich jemand in meiner Nähe, habe ich Mühe, nicht daneben zu reihern. Einer meiner Lieblingskollegen behauptet, das komme daher, dass sich mir einmal der Mageninhalt eines Suizidenten, der sich unter dem Dach seines Hauses erhängt hatte, auf die Schuhe ergoss, als wir den Körper vorsichtig abnahmen und dem Toten dabei versehentlich auf den Bauch drückten. Ich bin jedenfalls froh, dass mir Leichengestank nicht so sehr zu schaffen macht, denn damit haben wir doch recht häufig zu tun.

So eben auch in diesem Sommer. Durch die Hitze werden Leichen rasch zu großen Stinkern, die schlimmstenfalls schon seit Wochen und Monaten einsam in ihren Wohnungen vor sich hinmodern und bisher von niemandem gefunden wurden. Die Überreste einsamer Existenzen, die von niemandem vermisst werden und deren Nachbarn auch die Fliegen am Fenster oder der unangenehme Geruch im Flur bisher nicht aufgefallen sind oder nicht auffallen wollten.

Zu so einem Stinker sind wir auch an diesem sonnigen Dienstagmittag im Zivilwagen unterwegs. Bereits am Funk konnte man hören, dass die Streifenbeamten vor Ort sich ordentlich ekelten.

Als wir vor dem Hochhaus halten, stehen zwei Kollegen vor dem Haus und wedeln sich Luft zu. Um die Nasen sind sie leicht grün angelaufen. Mein Partner Norbert, ein erfahrener Kripobeamter, zieht tadelnd eine Augenbraue hoch. »Warum seid ihr nicht oben in der Wohnung?«

Er erntet lediglich angeekelte Blicke. »Da kriegen mich keine zehn Pferde mehr rein!«, ächzt einer der beiden, den ich zufällig kenne und den ich bisher für recht hart im Nehmen gehalten habe. Ich bin also gewappnet. Dass mir jedoch bereits im Erdgeschoss der süßliche Verwesungsgeruch wie eine Wand entgegenschlagen würde, obwohl der Tote in der dritten Etage liegt, hätte ich nicht gedacht.

Auf dem Treppenabsatz zum Flur der dritten Etage bleiben die uniformierten Kollegen stehen und deuten auf eine Tür. »Da hinten ist es! Wir warten dann mal hier. Viel Spaß!«

Kaum haben wir uns umgedreht, sind sie die Treppe schon wieder runtergeflitzt, und ich höre, wie sie im Erdgeschoss nach Luft schnappen.

Es ist wirklich eklig. Die Luft ist irgendwie dick und dicht, der Leichengeruch liegt wie ein Nebel im Hausflur, man schmeckt ihn sogar, wenn man sich mit der Zunge über die Lippen fährt.

»Wie kann man so was so lange nicht bemerken?«, murmelt Norbert und steuert auf die Wohnungstür zu, während er sich Mentholpaste unter die Nase schmiert und mir dann das Döschen hinhält. »Da, nimm!«

Ich schüttle den Kopf. »Mir macht das irgendwie nichts!«

»Nimm, Mädchen! Bei mir brauchst du nicht die Harte zu spielen!«

Ich schüttle wieder den Kopf, er steckt sein Döschen ein. »Kotz mir bloß nicht irgendwo hin!«

Neugierig folge ich ihm in die Wohnung. Ich weiß, ich werde nicht kotzen. Trotzdem reiße ich kurz entsetzt die Augen auf, als er die Tür aufschiebt. Auf den Wänden und auf dem Boden wimmelt und krabbelt es. Fliegen, Maden, kleine Käfer und leere Insektenpuppen liegen herum, kaum ein Quadratzentimeter, auf dem sich nicht irgendwelches Getier tummelt.

»Macht dir das auch nichts?«, fragt mich der Kollege, öffnet seinen Koffer und reicht mir grinsend Einmalhandschuhe und Plastiküberzieher für meine Schuhe.

Mir kribbelt vor Ekel der ganze Körper, als wir uns unseren Weg durch die wimmelnde und wogende Masse auf dem Fußboden suchen. Es knackt und knirscht bei jedem Schritt.

»Wenn wir bei dem Toten sind, pass auf, dass du nicht mit dem Leichenwasser in Kontakt kommst. Es sammelt sich durch die Verwesung unter der Haut und ist hochinfektiös!«, warnt er mich.

Ich nicke stumm, folge Norberts Beispiel und lege mir einen Mundschutz an. Dann betreten wir das Wohnzimmer, wo der Tote liegt, und plötzlich regt sich auch in mir der dringende Wunsch, ein Fenster zu öffnen. Aber das oberste Gebot an Tatorten – und darum handelt es sich hier – lautet: Nichts verändern, bis alles fotografiert ist. Also harre ich aus und versuche, möglichst flach zu atmen und all die Tierchen, die vermutlich grad auch auf meiner Kleidung sitzen und herumkrabbeln, auszublenden.

Norbert fotografiert, und ich stöbere durch die anderen Zimmer, die offenbar schon vor dem Tod ihres Bewohners ein wahres Paradies für Insekten und Kleingetier gewesen waren. Im Bad liegt eine tote, angeknabberte Ratte, das Waschbecken hat so tiefbraune Krusten, dass ich mir nicht erklären kann, wie man sich hier hätte waschen sollen.

In der Küche stoße ich unter einem Stapel Geschirr auf die größte Made, die ich je gesehen habe. Fasziniert beuge ich mich vor und beobachte den dicken weißen Wurm. Er ist fast so groß wie mein kleiner Finger und frisst sich gemächlich durch die verschimmelten und verfaulten Essensreste.

»Wahnsinn!«, entfährt es mir. Fasziniert gehe ich noch näher dran und stoße das Riesenviech leicht mit meinem Kugelschreiber an.

»Kind, lass es, das ist ja ekelhaft!«, ertönt Norberts Stimme neben mir, und ich ernte einen tadelnden Blick.

Es fällt mir schwer, meine Begeisterung zu verbergen. »Hast du schon mal so eine Made gesehen?«

Er nickt und verzieht das Gesicht. »Schon. Aber so genau wie du hab ich sie mir nicht angesehen. Widerlich! Komm, ich brauch deine Hilfe.«

Zögernd reiße ich mich los und folge ihm zurück ins Wohnzimmer.

Neben einem Sessel bleibt er stehen und deutet auf eine schleimige, leicht grünliche, wachsartige Fläche auf dem Sessel. »Weißt du, was das ist?«

Ich runzle die Stirn und schaue mich um. Da fällt mein Blick auf den neben dem Sessel liegenden Leichnam eines Mannes. Er hat nur eine Unterhose an, liegt auf der Seite, wirkt unnatürlich aufgedunsen und hat durch die fortgeschrittene Verwesung eine gräulich grüne Farbe angenommen. Überall auf dem Körper krabbeln Fliegen und Käfer herum.

Mit meiner behandschuhten Hand wedle ich die Tiere weg und habe die Lösung.

»Kluges Kind!«, grunzt mein Mentor und beginnt vorsichtig, das Zeug abzulösen, das fest am Sessel klebt. Es ist die oberste Hautschicht, die sich ehemals am Rücken des Toten befand.

»Wie passiert so was?«, will ich wissen, während ich Norbert bei seiner unappetitlichen Arbeit helfe.

»Willst du die Kurzform oder den biologischen Teil?«

»Die Kurzform reicht mir!«

»Nun, der hier ist in seinem Sessel gestorben, entweder aufgrund einer Erkrankung« – er deutet auf die Stapel von Pillenpackungen auf dem Wohnzimmertisch –, »im Suff« – sein Zeigefinger wandert über die verschimmelten Bier- und Schnapsflaschen – »oder aus einem anderen Grund, der sich mir noch nicht erschließt. Dann saß er tot in seinem Sessel, und langsam setzte die Verwesung ein. Die Hautschicht hat sich vom Körper gelöst und ist am Sessel kleben geblieben, während er vom Stuhl runtergerutscht und auf dem Boden gelandet ist. So eine glatte und großflächige Ablösung der Haut hab ich allerdings auch noch nie gesehen.« Er betrachtet eingehend die grünliche Masse. »Das Ganze ist ziemlich genau sechs Wochen her.«

»Woher willst du das wissen?«

»Guck dich um, und finde es selbst heraus.«

Ich wandere durch den Raum, schaue mich um. Auf dem Tisch liegt eine Fernsehzeitung vom Juni. Ich deute darauf, der Kollege nickt. »Weiter, was noch?«

Plötzlich wird mir bewusst, wie warm es in der Wohnung ist. Es ist ein heißer Tag, aber die Rollos sind überall heruntergelassen. So heiß dürfte es eigentlich nicht sein.

Entschlossen steuere ich auf den Heizkörper zu. Der Regler steht auf der höchsten Stufe. »Wäre er jetzt in der Hitzewelle gestorben, wäre wohl die Heizung nicht an. Im Juni hatten wir aber ein paar recht kühle Tage, stimmt’s?«

Wieder ein Nicken: »Komm, denk nach, eins fehlt noch!«

Ratlos schaue ich mich weiter um. In der Küche, direkt neben meiner dicken Made, werde ich fündig: Dort steht ein kleiner Tischkalender, auf dem das Blatt für den Juni noch nicht abgerissen ist.

»Sehr gut, Frau Sherlock Holmes!« Norbert nickt anerkennend.

»Ich dachte immer, in der Hitze vertrocknen Leichen irgendwann. Der hier ist aber doch noch ziemlich … ähm … schwammig!« Vorsichtig stoße ich mit der Fußspitze gegen den Leichnam. Aus einer aufgerissenen Hautstelle rinnt ölig schillerndes Leichenwasser.

Norbert zuckt mit den Schultern. »Ist mal so, mal so. Hängt auch viel von den äußeren Umständen ab. Das Haus hier ist ziemlich feucht, außerdem die vielen Tierchen. Da kann so was schon mal vorkommen.«

Es klopft an der Wohnungstür. Norbert hält sich die Nase zu, da ein Luftzug den Geruch plötzlich noch mal verstärkt. Dann öffnet er. Zwei Bestatter betreten mit einer Zinkwanne die Wohnung.

»Herrgott noch mal, das ist ja …« Mehr bekommt der Jüngere der beiden nicht raus, bevor er ins Bad rennt und sich ins Waschbecken übergibt. Als er wieder auftaucht, entschuldigt er sich. »Himmel, so einen hatten wir ja schon lange nicht mehr! Scheint, als wärt ihr Kandidaten für das Prädikat ›Ekligste Leiche des Sommers‹!« Er wischt sich noch mal über den Mund und klopft dann Norbert auf die Schulter.

»Ja, scheint so, als sei das der diesjährige Jahressieger!«, grunzt der nur.

Wir helfen, den Leichnam in die Zinkwanne zu hieven. Dabei stelle ich fest, dass er tatsächlich an manchen Stellen eher vertrocknet als aufgedunsen ist. Am Kopf, an den Füßen und an den Fingern ist die Haut so von Insekten zerfressen, dass man die Knochen sieht. Unter der Bauchdecke brodelt und wabbert es bedrohlich, als er endlich in dem unteren Teil des Zinksargs liegt.

»Scheiße, da sind überall Viecher drin!« Die Bestatter sind von ihrem Kunden offenbar wenig angetan.

Ich gehe zum Heizkörper und drehe ihn aus. Mein Kollege öffnet die Fenster, und eine Wolke von Insekten schießt an uns vorbei ins Sonnenlicht. Dann machen wir alles wieder dicht und versiegeln die Wohnung, in der es für uns im Moment nichts mehr zu tun gibt. Der Leichnam muss obduziert werden, denn noch ist nicht sicher, ob der Mann nicht doch Opfer eines Verbrechens wurde. Die Leiche ist so stark verwest, dass wir das vor Ort nicht feststellen können. Wir würden bei einer Leichenschau mehr kaputt machen als entdecken. Später erfahre ich, dass er an einem Herzinfarkt verstorben ist.

Jetzt heißt es für uns, die Nachbarn zu befragen. Doch egal, wo wir läuten – nur wenige öffnen uns, obwohl wir hinter fast jeder Tür eine Bewegung wahrnehmen. Noch weniger sind bereit, uns Auskunft zu geben. Den Toten gekannt hat angeblich niemand. Der Geruch? Ja, den habe man wohl wahrgenommen, aber wer mischt sich hier schon in die Angelegenheiten der Nachbarn ein. »Der Geruch ist auch nicht schlimmer als der Gestank nach ausländischem Essen auf dem Flur«, meint eine ältere Dame schnippisch, bevor sie uns die Tür vor der Nase zuknallt.

Eine Etage unter der Wohnung des Toten finden wir endlich jemanden, der mehr zu berichten weiß. »Vor einigen Wochen hat sich an meiner Wohnzimmerdecke dieser feuchte Fleck gebildet«, meint der ältere Mann, dessen Kleidung eher so aussieht, als würde er jede Nacht unter einer Brücke schlafen, und dessen Bart gelb vom Nikotin verfärbt ist. »Fand ich erst noch ganz normal, alte Leitungen halt, da tropft es schon mal hier und da. Aber vor ein paar Tagen hat es dann angefangen, ständig aus dem Fleck zu tropfen!«

Er zieht uns in die Wohnung und deutet an die Decke im Wohnzimmer, an der ein großer brauner Fleck zu sehen ist – genau unter der Stelle, wo der Leichnam lag.

Mich schüttelt es, als ich mir vorstelle, wie die Körpersäfte des Toten in den Boden eingedrungen sind und in der Wohnung darunter auf den Wohnzimmertisch tropften.

Ob wir was gegen die undichte Wasserleitung getan hätten, will der Herr wissen. Keine Frage, ob beim Nachbarn oben alles in Ordnung sei, keine Frage, woher der eklige Geruch komme, der auch in seiner Wohnung deutlich wahrzunehmen ist. Nichts. Ich will ihm gerade eröffnen, dass das kein Wasser war, das da auf seine Sitzgruppe getropft ist, als Norbert mir die Hand auf den Arm legt. »Lass gut sein.«

Bedrückt schweigend, verlassen wir das Haus. Die uniformierten Kollegen stehen immer noch draußen vor der Treppe und schauen uns entgegen. Die Bestatter laden gerade den Zinksarg ein, um ihn in die Gerichtsmedizin zu fahren.

Einer der Kollegen in Uniform fischt mir zwei Käfer aus den Haaren. »Sag bloß, du hast in den Viechern rumgewühlt? Ist ja widerlich! Warum machst du so was?«

»Weil sie es kann, ohne zu kotzen«, antwortet Norbert an meiner Stelle. Ich grinse, weil er tatsächlich leicht beeindruckt klingt.

Es dauert ganze zwei Tage, bis wir uns den Geruch endlich aus Haaren und Händen gewaschen haben. In diesen zwei Tagen habe ich mir gefühlte zwanzig Mal die Haare eingeseift und meine Klamotten mit dem schärfsten Waschmittel behandelt, das ich kriegen konnte. Nichts hat gewirkt. Norbert und ich stanken vor uns hin, als hätten unsere Poren den Geruch absorbiert und wollten ihn nur unter Protest wieder preisgeben.

Am ersten Tag, an dem niemand mehr die Nase rümpft, wenn wir einen Raum betreten, sitze ich mit Norbert im Zivilwagen. Wir haben gerade einen total besoffenen jugendlichen Ausreißer in einer Kneipe in der Innenstadt eingesammelt und sollen ihn zu seinen Eltern zurückbringen.

Während der Autofahrt wird der Bursche immer grüner im Gesicht. Ich hocke neben ihm auf dem Rücksitz, peinlichst darauf bedacht, ihn beim kleinsten Anzeichen in die andere Richtung zu drücken, damit ich bloß nichts von seiner Alkoholkotze abbekomme. Was soll ich sagen – es gelingt mir nicht. Als wir am Zielort ankommen, ist alles voll mit Erbrochenem. Meine Jeans, mein Pullover, meine Hände und der Rücksitz.

Ich schubse den Burschen recht unsanft aus dem Auto, betrachte kurz die Sauerei, habe mich noch genau zwei Sekunden im Griff und entsorge dann die Pizza, die ich mittags gegessen habe, in einen Mülleimer am Straßenrand. Norbert liefert währenddessen den kleinen Alkoholsünder bei seinen Eltern ab und steht dann mit verschränkten Armen und grinsend neben mir, während ich mich ordentlich auskotze.

»Aha, Schwachstelle gefunden! Wäre mir auch unheimlich gewesen, wenn du dich vor nix ekelst«, lacht er, als ich endlich so weit bin, dass ich wieder ins Auto steigen kann.

»Gib mir ’ne richtig fiese, matschige Leiche, und ich veranstalte damit, was du willst. Aber Kotze ist wirklich das Widerlichste, was es gibt auf der Welt!« Ich wische mir den Schweiß von der Stirn, trinke einen Schluck Wasser und betrachte mit Grausen die klebrige Masse auf dem Rücksitz und auf meiner Kleidung. Der einzige Vorteil ist, dass der Geruch nach dem Duschen komplett weg ist und auch die Kleidung nach einer Wäsche wieder normal riecht, anders als beim süßlichen Leichengeruch, der sich regelrecht in allem festfrisst, was mit ihm in Berührung kommt.

In diesem Sommer auf der Kriminalwache bekomme ich einen Einblick in die Dinge, die ein Streifenpolizist normalerweise nicht mehr mitbekommt, weil es die Arbeit der Kripo ist. Nach einem Bankraub helfe ich bei der Spurensicherung, ich lerne, wie man Fingerabdrücke abnimmt und wie man mit den Bakterietten – langstieligen Wattestäbchen mit einer durchsichtigen, versiegelbaren Plastikhülle – DNA-Spuren sichert. Ich helfe bei Wohnungsdurchsuchungen und fahre mit Vergewaltigungsopfern zum Arzt, um dort die nötigen Untersuchungen durchführen zu lassen.

Kurz: Ich lerne viel, erfahre Neues und lote wieder mal meine Grenzen aus. Und ich weiß genau, dass diese Dienststelle für mich einmal eine interessante Alternative zum Streifendienst sein könnte.

Seine Toten kann man sich nicht aussuchen: Eine Polizistin erzählt
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