Aus der Bahn geworfen
2005
Der Überraschungseffekt bei jedem Dienst und jedem Einsatz macht für mich einen großen Teil des Reizes am Polizistenberuf aus. Man weiß nie, wie der Tag werden wird. Hat man sich gerade auf einen beschaulichen Nachtdienst eingestellt, spielt die halbe Welt verrückt, man wirbelt von A nach B und möchte sich fast zerreißen, um jeden zufriedenzustellen. Weiß man vor lauter Stress kaum noch, wo einem der Kopf steht, kommt einem plötzlich ein Einsatz unter, bei dem man erst mal nur rumsteht und wartet und nichts Besonderes tun kann.
Trotz der unterschiedlichen Einsätze und wechselnden Belastungen heißt es für uns immer, sofort voll und ganz da zu sein und uns auf unsere Aufgabe zu konzentrieren, Hilfe zu leisten und zu tun, was von uns erwartet wird. In den vier Jahren, die ich nun schon auf der Autobahn arbeitete, war mir dies bislang auch immer gelungen – mit einer Ausnahme.
Es war ein eigentlich alltäglicher Einsatz, der mich komplett aus der Bahn warf – mich, die ich, wie einer meiner Vorgesetzten mal sagte, »eigentlich immer und in jeder Situation überraschend gut funktioniert«.
»Internistischer Notfall auf der A4 im Kreuz Kerpen! Wer von euch steht günstig? Feuerwehr rollt schon!«
Mechanisch drückt Nadine auf dem Beifahrersitz neben mir auf die Sprechtaste unseres Funkgeräts, wir stehen nicht so weit weg von der Örtlichkeit.
»Okay, Mädels, da steht ein Lkw. Dem Fahrer ist offenbar schlecht geworden, der liegt neben dem Fahrzeug im Gras …«
Ich höre bereits nicht mehr richtig zu, schalte das Blaulicht ein und das Martinshorn ebenfalls, dann trete ich aufs Gaspedal. Der Streifenwagen schießt die Autobahn entlang, ich gebe auf dem Scheitelpunkt der Kurve wieder Gas, als der Funker der Leitstelle sich erneut zu Wort meldet: »… Kennzeichen des Lkw ist AC-FB 1 …«
Ich blinzele zweimal. Mein Bauch fühlt sich urplötzlich an, als wären Würmer drin, und mir wird brennend heiß. Mit einem Griff schnappe ich mir das Funkgerät. »Wiederhol das Kennzeichen noch mal!«
»AC-FB 1, warum?«
AC für Aachen, FB für Fred Binder und die 1, weil mit diesem Lkw nur er fährt.
Ich schlucke und trete das Gaspedal fester durch, fühle, wie Nadine mich fragend anschaut.
Am Funk herrscht Stille. Mit einer Hand steuere ich den Streifenwagen mit zweihundert Sachen über die Überholspur, mit der anderen angele ich in meiner Hemdtasche herum. Ich fische mein Handy heraus und werfe es Nadine in den Schoß. »Unter P ist eine Nummer mit PAPA Handy abgespeichert, wähl sie!«
Sie sieht mich weiter schief an, tut aber, was ich sage. »Teilnehmer zurzeit nicht zu erreichen«, sagt sie Sekunden später.
»Scheiße!« Meine Hände krampfen sich ums Lenkrad, der Streifenwagen schießt noch schneller durch den Verkehr.
»Verrätst du mir mal, was los ist?« Nadine trommelt auf dem Armaturenbrett herum.
Ich schlucke und will gerade antworten, als der Funk dazwischenkräht. »Janine, ich hab einen Halter ausgemacht von dem Lkw …« Pause … »Brich dir nicht den Hals, ich schick euch einen zweiten Streifenwagen. Lieber wäre mir, ihr brecht ab, aber das ist wohl kein Vorschlag, den du akzeptierst …«
»Was zum Geier ist los!?« Nadines Stimme ist jetzt schrill, und wir rasen immer noch über die Autobahn.
»Das ist der Lkw von meinem Vater. Papa hatte im letzten Jahr mehrere Schlaganfälle.« Ich rassele die Worte nur so runter und sehe mechanisch auf die Straße. Das Horn jodelt auf unserem Dach, Nadine schweigt.
Vor uns plötzlich Stau, wir kommen nicht weiter, in der Baustelle ist kein Durchkommen. Kurz entschlossen jage ich den Streifenwagen in die Ausfahrt und nehme die Nebenstrecke über die Landstraße.
Vor der roten Ampel bremse ich kurz ab und trete das Gaspedal sofort wieder durch. Nadine wählt mit meinem Handy immer wieder die Nummer meines Vaters.
»Scheiße, der hat das Handy nie aus. Nie!« Ich schimpfe vor mich hin und wünsche lautstark die langsamen Fahrzeuge vor uns nach Nowosibirsk oder gleich zur Hölle.
Ein Kreisverkehr, ich muss mich hinter einem langsam tuckernden Kleinwagen einordnen. »Scheiße, Tussi, bist du blind und taub, oder was?«, fluche ich und würde am liebsten ins Lenkrad beißen.
Am nächsten Kreisverkehr probiere ich Trick siebzehn und biege direkt links ab, statt den Kreisel auszufahren. Nadine krallt sich am Türgriff fest, und ich versuche, mich selbst zu bremsen. Geht aber nicht. Im Geiste sehe ich meinen Vater bewusstlos auf der Erde liegen. Kaum habe ich mich so weit unter Kontrolle, dass ich nicht mehr suizidalschnell fahre, treibt sein Gesicht vor meinem inneren Auge vorbei, und mein Gasfuß zuckt tiefer.
»Ankommen! Er hat nichts davon, wenn wir nicht ankommen …«, murmele ich vor mich hin. Nadine wählt wieder die Nummer mit meinem Handy.
Der dritte Kreisverkehr besteht nur aus einer kleinen Betonerhebung in der Mitte. Ich schalte einen Gang runter und trete aufs Gas, wir segeln mittig durch den Kreisverkehr, und das Heck bricht leicht aus. Rasch fange ich den Wagen wieder ab, ziehe leicht an der Handbremse, und wir schleudern in die Auffahrt am AK Kerpen.
Von Weitem sehe ich den Laster. Weißer Lkw, großes rotes Logo, wie ein Stoppschild. Kein Irrtum, es ist eindeutig der Lkw meines Vaters.
Ich muss heftig schlucken und spüre, wie meine Zunge nervös über meine Lippen flitzt.
Nadine lässt das Handy in Ruhe und sieht mich nur an.
»Scheiße, das ist der Grund, warum ich nicht da arbeite, wo ich wohne. NIE wollte ich so einen Einsatz haben. NIE! SCHEISSE!« Ich haue gegen das Lenkrad und trete gleichzeitig auf die Bremse.
Der Streifenwagen kommt fast sofort hinter dem Lkw zum Stehen. AC-FB 1. Davor sehe ich zum Glück bereits einen Rettungswagen. Die Sanitäter kauern im Böschungsbereich und verarzten jemanden, der dort liegt. Ich sehe nur Schuhe und Hosenbeine, die durchaus die meines Vaters sein könnten.
Als ich aussteigen will, sacken mir kurz die Beine weg. Meine Fingernägel bohren sich in meine Handflächen, der Schmerz hilft, mich wieder zu fassen. Hinter mir sehe ich den zweiten Streifenwagen eintreffen.
Ich renne vor, komme aber wegen der arbeitenden Rettungssanis nicht nah genug heran, um genau zu sehen, wen die Jungs da verarzten. Also reiße ich mich zusammen und sage mir, dass die Sanitäter wichtiger sind als mein Wunsch zu erfahren, wer dort liegt. Obwohl ich es am liebsten tun würde, schubse ich niemanden zur Seite, sondern stehe unbeteiligt daneben.
Nadine funkt nach einem Notarztwagen, das bekomme ich noch mit, der Rest ist wie in Watte gepackt. Ich bin nicht fähig, irgendwas zu tun, starre nur in den Lkw, in dem sich ziemlich viel Krempel von meinem Vater befindet. Hinter der Sonnenblende ein Bild von mir und meiner Schwester. In der Mittelkonsole liegen die leeren Hüllen seiner Zigarren, und ich sehe seine dumme CD, die er in die Sonnenblende geklebt hat, weil er mir schlicht nicht glaubt, dass das bei einer Radarkontrolle rein gar nichts nützt.
Mir passiert, was mir noch nie passiert ist und auch hoffentlich nie wieder passieren wird: Ich kann meine Arbeit nicht tun.
Während die Sanis arbeiten und meine Kollegen herumwuseln, stehe ich einfach nur da und sehe in den Lkw. Mir ist schwindelig. Ich würde mich gern setzen, will aber nicht, dass die Kollegen mitbekommen, wie sehr ich neben mir stehe. Vor meinem inneren Auge rattern die Bilder der letzten Jahre vorbei. Mein Vater im Krankenhausbett. Mein Vater blass und schmal im Gesicht, mit einem leicht gelähmten Mundwinkel. Mein Vater, wie er nach Hause darf, sich schonen soll, was er natürlich nicht tut.
Ich unterdrücke die Tränen, indem ich mir wieder feste in die Hände kneife.
Scheiße, ich habe mir extra eine Stelle gesucht, die weit genug weg ist von zu Hause, damit ich nie meine Klassenkameraden festnehmen muss, keine Leichen von Menschen sehe, die ich kenne, und nicht zu Unglücksfällen gerufen werde, bei denen ich selbst unglücklich bin! Warum also jetzt das?
Ich knete meine Finger, trete von einem Fuß auf den anderen und habe das Gefühl, ich müsste gleich tot umfallen, wenn ich nicht sofort herausfinde, ob das tatsächlich mein Vater ist.
Endlich steht einer der Sanis auf, ich erhasche einen Blick auf die Person am Boden, und mein Herz macht einen Hüpfer. Dort liegt nicht mein Vater!
Vor Erleichterung geben meine Knie nach, und ich lasse mich auf das Trittbrett des Lkw sinken. Nadine kommt zu mir. »Nicht mein Vater!«, murmele ich und sehe starr auf den Menschen, der mit der Trage in den Rettungswagen geschafft wird.
»Die Sanis sagen, es ist halb so schlimm. Nur ein Kreislaufzusammenbruch, wegen der Hitze.«
Ich nicke und versuche, mich nicht zu schämen, dass ich solche Freude verspürt habe, weil das nicht mein Vater ist.
Im Streifenwagen höre ich mein Handy klingeln und renne hin.
»Du hast angerufen?«
»PAPA!!«
»Ja, was ist denn los?«
»Wer ist mit deinem Lkw unterwegs?«
»Der Raimund ist für mich gefahren. Mir war nicht so gut heute Morgen.«
Ich schildere ihm kurz, was passiert ist, und kläre ab, was wir mit seinem Lkw und der Ladung anstellen sollen, denn auf der Autobahn kann er schlecht stehen bleiben. Mein Vater verspricht, jemanden zu schicken, der sich kümmert, und außerdem Raimunds Familie zu benachrichtigen.
Als er schon fast aufgelegt hat, flüstere ich in den Hörer: »Ich hab dich lieb, Papa!«
Ich kann seine Überraschung fast hören, so was sage ich sonst nicht. Wir sind nicht so gefühlsduselig bei Binders. Sehr herzlich, aber über Gefühle spricht man nicht, man zeigt sie.
»Ich dich auch!«, brummt er zurück. »Ich hoffe, du bist vorsichtig zu dem Einsatz gefahren?«
Ich kreuze die Finger. »Ja, klar, Papa! Nie schneller, als der Schutzengel fliegen kann!«
Nadine neben mir kichert leise. Als ich aufgelegt habe und wir zum Streifenwagen gehen, sagt sie: »Dein Schutzengel hat Düsenantrieb, oder?«