Seine Toten kann man sich nicht aussuchen

2004

 

Unter uns Polizisten gibt es zwei Gruppen: die Glückskinder und diejenigen, denen grundsätzlich die Scheiße an den Händen klebt. Ich gehöre seit meiner Ausbildung stets zur letzten Gruppe. Passiert irgendwo ein tödlicher Unfall, bin ich, sofern ich denn im Dienst bin, grundsätzlich die Erste vor Ort. Gäbe es Preise für die Beamtin, die die verrücktesten Einsätze bekommt, ich stünde garantiert mit auf dem Treppchen. Auch gibt es Kollegenkonstellationen, bei denen man genau weiß: Wenn die zwei in einem Auto sitzen, dann rappelt es immer irgendwo gewaltig.

Aberglaube? Mag sein, doch es gibt tatsächlich diese Glückskinder, die in ihrer ganzen Dienstzeit noch nie eine eklige Leiche sehen mussten, die bei den blöden Einsätzen immer frei haben oder die gerade mit dem Streifenwagen am anderen Ende des Bereichs stehen, wenn es irgendwo eine Schlägerei gibt. Mit einem solchen Glückskind war ich damals unterwegs …

Es ist kurz vor Feierabend. Die Kollegen und ich sitzen auf der Wache herum und warten darauf, dass die Zeit vergeht. Noch zehn Minuten, und wir können nach Hause gehen. Die ersten Kollegen der Ablösung ziehen sich bereits um, als plötzlich Hektik aufkommt und unser Chef durch die Wache flitzt.

»Einer muss schnell noch mal raus, da liegt ein totes Wildschwein mitten auf der Fahrbahn!«

Zwei Kollegen stehen murrend auf und fahren los, das Wildschwein von der Fahrbahn räumen, damit keiner mehr drüberrollt.

Keine zwei Minuten später schallt erneut die Stimme unseres Vorgesetzten durch den Aufenthaltsraum.

»Schnell noch wer raus, da soll jemand von einer Brücke gesprungen sein!«

Da die Ablöse noch nicht fertig umgezogen ist, gibt er mir die Örtlichkeit durch, und mein heutiger Streifenpartner Holger und ich düsen los. Ganz kurz kommt mir die Ortsangabe komisch vor. Das hab ich doch eben schon mal gehört, aber keine Zeit, drüber nachzudenken. Blaulicht an und losgebrettert.

Auf dem Beifahrersitz hockt mein Kollege, starrt vor sich hin und wird immer weißer im Gesicht. Er ist viel älter als ich und hat schon leicht graue Schläfen

Ich gucke ihn entgeistert an. »Alles klar bei dir??«

»Mmpff … Das ist dann mein allererster Toter …«, grunzt Holger und wischt sich über die Stirn.

Tja, was sagt man da als dreiundzwanzigjähriges Gör, das von Verbrannten über Bahnleichen bis hin zur Wasserleiche schon so ziemlich alles gesehen hat? Erst mal gar nichts.

«Schau dir alles nicht zu genau an«, rate ich ihm schließlich, »und wenn’s dir schlecht geht, kannst du dich ruhig in den Streifenwagen verkriechen. Ich mach das dann schon irgendwie.« Erst hinterher fällt mir auf, dass ich ihm die gleiche Ansprache gehalten habe, die ich vor Jahren im Praktikum von meinem Tutor bekam, als wir auf dem Weg zu meiner ersten Leiche waren.

Der Kollege nickt und stiert weiter auf die Fahrbahn vor uns, während unser Streifenwagen blau blinkend durch den Verkehr fliegt.

Wir treffen vor Ort ein. Die Kollegen, die das »Wildschwein« von der Fahrbahn entfernen sollten, sind schon da. Ich schlage mir mit der Hand vor die Stirn. Daher kam mir die Örtlichkeit so bekannt vor!

Erleichtert will ich schon aufatmen. Kein Brückenspringer, nur totes Schwarzwild. Doch dann sehe ich die blutigen Spuren auf der Fahrbahn. Ich schlucke. Doch kein Wildschwein. Kein Zweifel, das ist eindeutig ein Mensch oder das, was von ihm noch übrig ist. Es sei denn, Wildschweine trügen seit Neuestem Nike-Air-Turnschuhe und Jeans.

Ich verschaffe mir einen Überblick und zähle eins und eins zusammen. Auf dem Seitenstreifen steht ein Vierzigtonner. Die Spuren auf der Fahrbahn, die Brücke darüber.

Der Mann mit der Jeans und den Turnschuhen hat den Moment genau abgepasst und ist dem Vierzigtonner direkt vor die Scheibe gesprungen. Der Fahrer sitzt schockiert am Straßenrand. Alleine. Ich gucke in die Runde. Alle, Kollegen und Feuerwehrleute, stehen ein bisschen ratlos herum. Also nehme ich das in die Hand.

»Okay, wach werden«, sage ich zu mir und zu den anderen. »Tom, ihr nehmt den Unfall auf?«

»Jaaaaaa.«

»Gut, dann mach ich euch Fotos und ’ne Skizze.«

Ein dankbarer Blick des Kollegen, weil ich ihm die eklige Arbeit abnehme. Ich lächle, obwohl mir ganz und gar nicht nach Lächeln zumute ist. Weitere Streifenwagen kommen an, unter anderem der Chef, der direkt die Führung übernimmt und meine Einteilung fortsetzt.

»Einer hoch auf die Brücke, gucken, ob da noch ein Auto oder so steht. Wir müssen wissen, wer das da ist.« Er deutet auf den größten Blutmatschfleck. Ein Kollege rennt sofort die Treppen der Brücke hoch. »Einer bleibt beim Lkw-Fahrer und lässt ihn nicht aus den Augen. Ich will hier nicht noch einen haben, der sich was antut.« Alle nicken, eine Kollegin setzt sich in Bewegung.

Ich krame im Kofferraum unseres Streifenwagens, während hinter mir aus dem Stau wütendes Hupen einsetzt. Block, Stift, Kamera, Messrad, alles da. Das Hupen hört nicht auf. Ich atme tief durch, dann drehe ich mich um und marschiere auf einen schwarzen S-Klasse-Mercedes zu, von dem das Gehupe kommt. Kaum bin ich da, geht’s los.

»Die Fahrbahn ist doch frei, was soll denn das?«, blökt mich der offenbar befehlsgewohnte Herr im feinen Anzug an. »Ich habe einen wichtigen Termin, also bewegen Sie mal Ihren Hintern und die Streifenwagen da weg, und zwar zügig! Sonst beschwere ich mich bei Ihrem Vorgesetzten!« Bei den letzten Worten spuckt er mir vor Wut ein paar Sabberfäden auf die Lederjacke.

Gelassen warte ich, bis er fertig geschimpft hat, wische den Sabber weg, zucke dann resigniert mit den Achseln und öffne ihm die Autotür. Er guckt mich erst verständnislos an und steigt dann zögernd aus. Ich führe ihn um die Motorhaube herum und deute stumm auf etwas, das im Scheinwerferlicht des Wagens auf der Straße liegt. Es ist eine Hand des Toten, und zwar nur die Hand.

Der Mercedes-Fahrer sieht mich schockiert an, schluckt, steigt in sein Auto und sagt nichts mehr. Ich lächle ihn an, krame in meiner Jackentasche und gebe ihm meine Visitenkarte. »Hier können Sie Ihre Beschwerde über mich dann hinschicken.« Er schüttelt den Kopf, starrt mich immer noch entsetzt an und legt die Hände in den Schoß. Braver Kerl.

Ich zücke die Kamera, während Holger mir mit seiner Maglite leuchtet, damit wir nirgends reintreten. Er ist ziemlich blass im Gesicht, reißt sich aber sichtlich zusammen.

Wir fotografieren. Blutflecken, Bremsspuren, Glassplitter, Körperteile, die nicht mehr identifizierbar und über knapp zweihundert Meter verteilt sind. Kein schöner Tod, aber ein schneller.

Der Lastwagen sieht vorne ziemlich demoliert aus, der Fahrer sitzt immer noch fassungslos daneben. Mein Kollege will die Kamera wegpacken, doch ich schüttele stumm den Kopf, schnappe mir die Maglite und krieche unter den Lkw. Schäden festhalten und weitere Blutspuren sichern. Irgendwas Blutiges, Schleimiges tropft mir auf die Jacke. Ich wische es fast achtlos weg, als ich wieder unter dem Fahrzeug hervorkrieche.

Mein Kollege steht rauchend daneben und tritt von einem Bein aufs andere. Seine Gesichtsfarbe hat sich immer noch nicht normalisiert.

Ich krame in meiner Tasche und finde meinen Notfallschokoriegel. Als ich anfange, den zu futtern, folgen mir ungläubige Blicke. Ich kann nichts dafür. Andere rauchen zur Beruhigung, ich futtere Schokoriegel, auch wenn neben mir Leichenteile liegen. Es hilft mir, mich zu konzentrieren und die Nerven zu behalten.

Kauend räume ich die Kamera ins Auto, als der Notarzt zu mir kommt. »Du machst die Skizze?«

»Ja!«

»Komm, ich helf dir. Ich kann dir sagen, was hier alles rumliegt, und für den Toten kann ich eh nichts mehr tun.« Kurz deute ich fragend auf den Lkw-Fahrer. »Dem hab ich schon was zur Beruhigung gegeben.« Dann stapfen wir los.

Ich zerre das Messrad hinter mir her. Er trägt meinen Block, und ich zeichne ein, was er mir sagt. Dann beschriftet er die einzelnen Teile: »Niere«, »Rippen«, »vermutlich Arme«, »Fuß«, »Speiseröhre samt Luftröhre« und »Teile der Wirbelsäule«, kann ich lesen. Ich schlucke, und selbst mir mittlerweile recht abgebrühten Beamtin wird ein wenig schummerig.

Ich krame hastig in meinen Taschen, finde aber keinen weiteren Notfallschokoriegel. Als mein Chef mein verzweifeltes Gesicht sieht, reicht er mir einen halb geschmolzenen Kinderriegel. Ich lächele dankbar und gehe messend und Schokolade lutschend weiter, den Notarzt immer im Schlepptau. Es soll die wohl fieseste Skizze meiner bisherigen Laufbahn werden, und das will schon einiges heißen.

Der Leichenwagen ist angekommen. Mit einer Schaufel tragen die Bestatter die Leichenteile zusammen. An der Unfallstelle herrscht Stille, jeder arbeitet stumm vor sich hin. Die übliche Hektik fehlt, alle sind zu schockiert. So was hat noch keiner von uns gesehen. Brückenspringer ja, auch Überfahrene auf der Autobahn. Aber eine Leiche, die als solche nicht mehr zu erkennen ist und definitiv mehr nach Mettbrötchen als nach Mensch aussieht, so was hat man auch auf der Autobahn nicht alle Tage.

Für den Lkw-Fahrer ist ein Seelsorger eingetroffen, der ihn ins Krankenhaus bringt und auch bei uns Einsatzkräften nachfragt, ob alles in Ordnung sei. Alle nicken, aber ich sehe, wie Holger dankbar die Karte mit der Telefonnummer des Geistlichen entgegennimmt und fast heimlich in seine Tasche gleiten lässt.

Ich schaue den Kollegen aufmunternd an. Das größte Problem bei unseren harten Kerlen ist, dass sie sich oft erst eingestehen müssen, mit einer Situation alleine nicht klarzukommen und wirklich Hilfe zu brauchen. Denn ein Polizist, ein guter Polizist, der braucht so was wie Seelsorger und Psychologen nicht. Zumindest glauben das leider immer noch sehr viele meiner männlichen Kollegen und fressen all ihre Erlebnisse in sich hinein. Verdrängung ja, Verarbeitung eher nein, leider.

Hinter mir beginnt die Feuerwehr, die Reifen des Lkw sauber zu spritzen, und reinigt anschließend die Fahrbahn. Ein Rinnsal aus Wasser, Blut und Fleisch fließt in einen Gully, und wenige Minuten später sieht es aus, als wäre nichts passiert.

Mittlerweile wissen wir, wer da vor uns liegt. Die Kollegen haben auf der Brücke ein Auto gefunden. Zwei Beamte und ein weiterer Seelsorger sind unterwegs zur Lebensgefährtin des Toten. Langsam rücken die Streifenwagen und die inzwischen ebenfalls erschienene Kripo ab. Ein Abschleppdienst lädt den beschädigten Lkw auf. Wir verlassen die Stelle als Letztes.

Holger sitzt neben mir, immer noch schweigsam.

»Alles klar?«, stelle ich die dümmste Frage nach so einem Einsatz.

»Hm, geht schon. Ich hätte mir nur gewünscht, mein erster Toter wäre nicht so schlimm.«

»Seine Toten kann man sich nicht aussuchen«, antworte ich. Dann muss ich an den Lkw-Fahrer denken. Armer Kerl! Er kann nichts dafür und wird wohl nie vergessen, wie der Mensch gegen seine Scheibe geflogen ist. Das Krachen des Aufpralls und den Anblick danach – ob er wirklich zuerst dachte, er hätte ein Wildschwein überfahren?

Ein bisschen bin ich dem toten Menschen böse, dass er sich nicht eine andere Art ausgesucht hat, aus dem Leben zu gehen. Eine Art, bei der er keinem anderen Leid zufügt und die vielleicht nicht so rasch wirksam, aber dafür rücksichtsvoller gewesen wäre.

Auf der Wache bekomme ich mit, dass auch die Kollegen, die zuerst vor Ort waren, noch immer schockiert sind, weil sie statt des Wildschweins einen Menschen vorgefunden haben. Aber so ist das bei uns manchmal. Man bekommt das eine gemeldet und findet vor Ort etwas ganz anderes, mit dem man dann klarkommen muss.

Seine Toten kann man sich nicht aussuchen: Eine Polizistin erzählt
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