Wie alles begann

1998

 

Doch bevor ich Einsätze fahren konnte, die mich überraschen, aus der Bahn werfen, zum Lachen bringen, berühren, bewegen und manchmal tatsächlich auch langweilen würden, musste ich erst einmal die Entscheidung treffen, Polizistin zu werden. Eigentlich wollte ich ja immer etwas ganz anderes werden. Seit dem Kindergarten antwortete ich auf die Frage nach meinem Berufswunsch: Lehrerin, und zwar für Mathe, Deutsch und Biologie. Dass es letztlich so kam, wie es kam, habe ich zum einen der Situation zu verdanken, dass sich all meine Klassenkameraden auf eine Lehre vorbereiteten und auch ich vor diesem Hintergrund die Idee von Abitur und Studium immer weniger reizvoll fand, zum anderen meiner Mutter, die mich mit Informationsmaterial zu allen möglichen und unmöglichen Berufen eindeckte, und letztlich einem Einstellungsberater, der in mir einen nie zuvor gekannten Ehrgeiz weckte. Aber lesen Sie selbst.

»So, dann gehen wir mal zum Lauf auf den Sportplatz!«, fordert uns der Herr im ballonseidenen blauen Sportanzug und mit dem eindrucksvollen Schnurrbart auf.

Ich bin von den Turnübungen, die ich gerade erst absolviert habe, noch ziemlich aus der Puste und schnaufe ordentlich. Die Aussicht, mich jetzt auf den Sportplatz des Ausbildungsinstituts in Münster zu begeben, wo gerade Hunderte von Polizisten in kompletter Uniform Mittagspause machen – mehr, als ich in meinem ganzen bisherigen Leben zusammengerechnet gesehen habe –, ist mir alles andere als angenehm. Ich soll vor unzähligen Männeraugen meine Laufübungen absolvieren, dabei bin ich gerade sechzehn geworden, unsicher und schüchtern. Ich werde schon knallrot, wenn mich ein männliches Wesen auch nur in Jeans und T-Shirt sieht. Jetzt trage ich Sportzeug, knappe rosa Shorts und ein T-Shirt in Lila. Ganz sicher werde ich sterben, wenn ich da draußen laufen soll.

»Ähm, können wir nicht hier drinnen …?« Verlegen knete ich an meiner Turnhose herum und weiche dem Blick des Prüfers aus.

»Nix da, draußen wird gelaufen oder gar nicht!«

Ich schlucke und tausche einen raschen Blick mit meiner Leidensgenossin, die gemeinsam mit mir als Einzige aus einer Gruppe von hundert Bewerbern den schriftlichen und ärztlichen Einstellungstest erfolgreich absolviert hat. Schicksalsergeben schleichen wir hinter dem Prüfer nach draußen.

«Du kannst immer noch verschwinden«, sage ich mir. »Ja, war nett hier, ich wollt nur mal Tag sagen. Tschö, ich bin dann mal weg!« Das würde schon genügen.

Meiner Mitbewerberin geht es augenscheinlich nicht viel besser, ich sehe deutlich, wie sie zittert. Dabei ist sie in meinen Augen bereits erwachsen: groß und schön und vor allem mindestens fünf Jahre älter als ich!

Unter dem Gejohle der überwiegend männlichen Polizeibeamten, die auf der Wiese in der Mitte des Sportplatzes die Sonne genießen, stellen wir uns an die Startlinie.

Zwei Kilometer sind zu laufen, und ich weiß, dass ich mich anstrengen muss, um diese Strecke im geforderten Zeitlimit zu schaffen. Zu Hause ist mir das immer nur ganz knapp gelungen, und jetzt bin ich schon wegen der Aufregung total durcheinander.

Nervös balle ich die Hände zu Fäusten, murmele leise vor mich hin, dass ich diesen verschissenen Scheißtest auch noch schaffen werde, gehe in Startposition und frage mich, welcher Teufel mich eigentlich reitet, dass ich diesen Schwachsinn hier mitmache.

Wochen scheint es mir her zu sein, dass meine Mutter mit einem Flyer der Polizei nach Hause kam. In meiner Ratlosigkeit, was ich denn nach zehn Jahren Schule weiter lernen sollte, hatte ich ihn einfach ausgefüllt und abgeschickt. Noch länger her schien mir der Besuch dieses unsympathischen Einstellungsberaters der Polizei Nordrhein-Westfalen. Nachdem er sich minutenlang über mich lustig gemacht hatte – meine mangelnde Größe, meinen zierlichen Körperbau und überhaupt Frauen bei der Polizei –, verabschiedete er sich von meiner besorgten Mutter, der der Gedanke, eine Polizistin zur Tochter zu haben, plötzlich so gar nicht mehr gefiel, mit den Worten: »Machen Sie sich mal keine Sorgen, das schafft das Mädchen sowieso nicht!«

War die Polizei vorher für mich nur eine Berufsoption von vielen gewesen, reizte mich dieser Satz bis aufs Blut. Dieser Heini! Zu klein? Zu schwach? Zu zierlich? Pah!

Ohne mich weiter mit den Folgen meiner Entscheidung oder gar den Anforderungen des Berufs auseinandergesetzt zu haben, entschied ich trotzig: »Dem zeig ich, wo der Hammer hängt. Ich werde Polizistin! Jetzt erst recht!«

Und so stehe ich nun hier in der prallen Sonne, die Füße im Startblock. Die erwartungsvollen Gesichter all dieser Polizisten sind auf mich und meine Mitläuferin gerichtet. Manche mustern uns skeptisch, der eine oder andere nickt uns aufmunternd zu. Ich werde trotzdem immer kleiner.

Der Prüfer zieht grinsend eine Startschusspistole und feuert in die Luft. »Das schafft das Mädchen sowieso nicht!« Noch einmal schießt mir der Satz durch den Kopf, dann renne ich los.

Aus dem Augenwinkel bekomme ich mit, wie meine Konkurrentin stürzt. Ich will anhalten, um ihr zu helfen, und werde angeschrien weiterzulaufen. Ich laufe. Die Hitze ist unerträglich, bereits nach wenigen Minuten bin ich nass geschwitzt, und ich merke, wie meine in den letzten Wochen mühsam antrainierte Kondition nachlässt. Verbissen kämpfe ich mich weiter. Ich muss das hier schaffen! Der dämliche Einstellungshansel darf nicht recht behalten.

Meine Mitstreiterin sitzt unterdessen im Gras und sieht mir traurig zu, während der Arzt ihre, wie ich später erfahre, gerissenen Bänder begutachtet.

Ich schnaufe inzwischen wie eine Dampflok. Als ich gerade denke, ich müsse jeden Moment tot umfallen, meinen bescheuerten Ehrgeiz verfluche und mich gedanklich mit einer Stelle als Bankkauffrau anzufreunden beginne, nehme ich neben mir einen Schatten wahr. Einer der Beamten hat sich von seinem Beobachtungsposten auf der Wiese fortbewegt und joggt jetzt locker neben mir her.

»Ruhig atmen, du schaffst das. Schön ruhig atmen, einfach weiterlaufen, bisschen schneller noch. Super!«, murmelt er mir leise zu und hält mit mir Schritt. Viele seiner Kollegen sind mittlerweile ebenfalls aufgestanden und feuern uns, oder vielmehr mich, lautstark an. Als ich das nächste Mal den Prüfer passiere, stimmt der in das mittlerweile ziemlich laute Gebrüll ein: »LAUF! LAUF

Und ich laufe, nein, ich renne. Ich muss einfach schnell genug sein. Ich muss diesen doofen Test bestehen, alles andere würde zum sofortigen Tod durch Peinlichkeit führen. Der Polizist joggt auch in der letzten Runde noch neben mir her und murmelt freundlich lächelnd sein Mantra vor sich hin. »Ruhig atmen, ruhig atmen. Du schaffst das!«

Ich hebe den Blick, sehe, wie viele Menschen mir da zusehen, und gebe auf den letzten Metern, angespornt von der Masse der Zuschauer und den lauten Rufen, noch mal Gas.

»Ich schaff das! HAST DU DAS GESEHEN? Einstellungsberatungshansel!!«, nuschele ich, als ich hinter der Ziellinie mit dem Gesicht voran ins Gras falle und einfach liegen bleibe. Ein vorsichtiger Blick auf die große Uhr am Rand des Sportplatzes bestätigt es: Ich habe es geschafft!

Mein Mitläufer nickt mir freundlich zu. »Sag ich doch, du schaffst das, Kollegin!« Er reicht mir die Hand, hilft mir beim Aufstehen, klopft mir kurz auf die Schulter und geht wieder zu seinen Kollegen, die mir kurz Beifall spenden und sich dann wieder anderen Dingen zuwenden. Den Kollegen habe ich nie wiedergesehen, aber seine Worte klingen mir heute noch in den Ohren, wenn ich in Situationen bin, in denen ich an mir zweifle.

Der Prüfer reicht mir die Hand: »Herzlichen Glückwunsch, Frau Binder! Somit steht fest, dass Sie am 1. Oktober 1998 Ihre Ausbildung zur Polizistin beginnen werden.«

Mein Vater wartet auf dem Parkplatz auf mich und kann bereits an den lustigen kleinen Hopsern, mit denen ich auf ihn zulaufe, erkennen, dass ich auch den Sporttest erfolgreich absolviert habe. Und das, obwohl mein Sportlehrer in der Schule mich irgendwann den faulsten kleinen Wurm genannt hat, den er je unterrichtet hat!

Während mein Vater vor Stolz fast platzt, folgen viele tränenreiche Diskussionen mit meiner Mutter und immer wieder die Bitte, doch noch mal darüber nachzudenken. Rechtsanwaltsfachangestellte oder Bankkauffrau seien doch auch ehrbare Berufe. Meine beiden fürsorglichen älteren Brüder beginnen mich genüsslich für »den Job« abzuhärten – natürlich mit den besten Absichten.

So werde ich plötzlich beim Kaffeetrinken gewürgt, finde mich ans Treppengeländer gefesselt wieder und muss unerwartete Angriffe beim Frühstück oder am Mittagstisch mit den Fäusten abwehren, während man mir gleichzeitig mit den Worten: »Als Bulette musst du dem was entgegenzusetzen haben!« die Arme auf dem Rücken fesselt.

Auch meine Klassenkameraden machen sich über mich lustig: Ob man mich als Polizeihund eingestellt habe, von der Größe her komme das ja ungefähr hin? Oder ob ich die neue Sekretärin des Polizeipräsidenten würde, denn im Streifenwagen übers Lenkrad gucken, das könne ich doch sicherlich nicht.

Ich nehme alles mit stoischer Gelassenheit hin, denn ich weiß, ich hab etwas geschafft, was mir niemand zugetraut hat. Ich, 158 Zentimeter klein und fünfundvierzig Kilo leicht, blond, schüchtern und gerade mal sechzehn Jahre alt, werde Polizistin.

In ECHT!

Seine Toten kann man sich nicht aussuchen: Eine Polizistin erzählt
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