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Eigentlich war Funi am Ende der Einzige, der keinen zusammenhängenden Satz mehr herausbrachte und aus glasigen Augen schaute. Ganze drei Gläser Prosecco hatten dazu gereicht. Die vier Alten hingegen stellten sich als durchaus rüstig und trinkfest heraus.

»Er war jung, stammte aus unserer Gegend. Von etwas außerhalb von Sòligo, weiter oben, von einem der Häuser, die schon zu Rubra gehören.« Er zeichnete mit seinem Zeigefinger eine Kurve nach rechts und dann nach links nach. »Als Kind schon hatte er seinen Vater verloren und wuchs bei seiner Mutter und der Tante auf. Tüchtige Frauen, beide schon tot«, sagte er mit zufriedenem Unterton. Das waren die Dinge, auf die es ankam: Leben, Tod, Wunder.

»In Rom hat er sich zum Priester ausbilden lassen und kam danach hierher, um die Messe abzuhalten.«

»Messe halten, Beichte abnehmen, was ein Priester eben so macht«, fiel ihm ein anderer mit ernstem Ton ins Wort. Er war fast komplett behaart und ähnelte im Gesicht einem Nasenaffen.

»Und dann irgendwann fingen die merkwürdigen Gerüchte an«, übernahm wieder der Erste und schaute die anderen dabei an. »Marisa, oder? Marisa hat’s als Erste herumerzählt.«

»Nein, Moretta«, widersprach ein anderer.

»Moretta? Die hat doch als Haushälterin in Tellaro gearbeitet und ist immer erst in der Nacht zurückgekommen – wenn überhaupt«, kommentierte der Nasenaffe und löste damit Getuschel aus.

»Marisa oder Moretta, wie auch immer, von den Gerüchten jedenfalls wusste irgendwann jeder.«

»Was erzählte man sich denn so?«, fragte Maria Dolores, inzwischen auf sich allein gestellt, nachdem Funi sich ausgeklinkt hatte, damit beschäftigt, den Barbesitzer beim Kartenspiel doch noch zu schlagen.

»Von Jungen. Ihm gefielen kleine Jungen.«

Vielleicht sollte sie es dabei lieber belassen. Oder doch nachhaken? Sie blickte die vier Männer an und stellte sich vor, wie sie früher waren. Als Familienväter, als sie noch mitten im Leben standen.

»Nicht die Frauen gefielen ihm – sondern Männer!«, rief einer mit abgrundtiefer Verachtung.

»Gerede, das nicht aufhören wollte. Jemand hatte ihn gesehen, wie er mit einem Jungen aus dem Dorf rummachte, einem armen Kerl, der von Geburt an behindert war.« Der Wortführer der Gruppe ergriff erneut das Wort. »Und dann hat das ganze Dorf einen Brief an den Bischof geschrieben.«

»Der dann wichtige Priester hierhergeschickt hat, die sich umhören sollten. Und schließlich haben sie ihn fortgeschickt«, fuhr ein anderer fort.

»Aber hatten sie denn Beweise dafür?«, wandte Maria Dolores ein.

»Beweise, Beweise. Wozu sollen die gut sein? Wenn über einen Priester so geredet wird, dann geht niemand mehr in seinen Gottesdienst. Und wer schickt ihm dann noch seine eigenen Kinder zur Beichte?«

»Außerdem haben sie ihm nicht mal verboten, als Priester weiterzuarbeiten. Sie haben ihn einfach woandershin versetzt«, mischte sich ein anderer ein.

»Man sieht ja, wozu das letztendlich geführt hat. Solche Leute sind nie geheilt. Im Gegenteil, sie werden immer schlimmer mit dem Alter. Wissen Sie?«

Ja, sie wusste das. Hier und da konnte man vielleicht noch etwas hinbiegen, aber der Makel der Vergangenheit blieb doch immer an einem haften. Wie das Attribut »Ex« vor Mann, Frau, Verlobter, Freund. Alkoholiker, Raucher, Junkie. »Damals noch« ernsthaft, glücklich, optimistisch, zufrieden. Authentisch waren nur die Spuren: die Runzeln, Narben, Falten, Wunden. An Knochen, Zähnen, Herz.

Der Tag war nicht besonders kostspielig gewesen. Fünfzig Euro und ein bisschen Kleingeld für Funis verlorenes Kartenspiel. Fünfzig Euro und eine Last auf der Brust. Nun kauerte Funi schnarchend neben ihr auf dem Beifahrersitz. Ein Mann, der mit offenem Mund schnarchte, war nie ein schöner Anblick, und selbst wenn es nicht gerade selten vorkam, so blieb es dennoch ungewohnt. In diesem Moment jedoch wünschte sich Maria Dolores nichts sehnlicher, als dass ihr Kollege schlief. Tief und fest.

Die Abenddämmerung betrachtend, schaltete Maria Dolores, bevor sie auf die Autobahn fuhr, die Freisprechanlage ein und wählte eine Nummer.

Ich vergebe dir - Bucciarelli, E: Ich vergebe dir - Io ti perdono
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