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Im Molly Malone aß man gut und reichlich.

Nach dem Besuch der stadtbekannten Nachtclubs überließ die Mailänder Schickeria das Zentrum vorübergehend illegalen Einwanderern und osteuropäischen Migranten. Mit Shorts und tätowierter Wade im Sommer, engen Hosen und schwarzem Hemd im Herbst.

Die – mehr oder weniger – erwachsenen Sprösslinge aus gutem Hause hingegen strömten in das Hinterland, wo sie die Herzen der Mädchen, die sich im heiratsfähigen Alter befanden, eroberten.

Im Molly, in der Nähe von Varese, verkehrte ein Publikum, das es verstand, jede noch so erstklassige Anwärterin auszustechen. Echte Anwärterinnen, nicht die falschen. Mailands Schönheiten kamen dorthin, um ihre Köder auszuwerfen. Mit falschen Begleitern an ihrer Seite, um nicht den Anschein zu erwecken, sie wären nicht länger im Rennen. Vorübergehende und zufällige Begleiter, temporäre Eroberungen.

Inzwischen konnte man hier alles erbeuten, was das Herz begehrte. Besonders wenn der Jäger männlich, jung und mit einem dicken Geldbeutel gesegnet war. Die ersten beiden Kriterien hielten sich bis zum dreißigsten Lebensjahr auf den Plätzen eins und zwei der Rangliste; dann tauschten die Frauen gern auch mal den ersten mit dem dritten Platz (männlich und dicker Geldbeutel), ohne dem zweiten Kriterium noch besonderes Interesse entgegenzubringen (jung), ebenso wie dem Ehering am Finger. Alles war erlaubt. Solange der wirtschaftliche Status gesichert war: zwanzigjährige Männer mit gleichaltrigen oder mit fünf oder sechs Jahre älteren Lehrmeisterinnen. Dreißigjährige erfahrene Angetrunkene mit zwanzigjährigen Teenagern, die jegliche Strapazen auf sich nahmen, um in irgendeiner x-beliebigen Fernsehshow ihre Schönheit zur Schau zu stellen.

Die über Fünfzigjährigen hingegen besuchten das Molly, um ihre sexuelle Abstinenz im Alkohol zu ertränken und damit zu prahlen – ohne dass ihnen irgendjemand wirklich geglaubt hätte –, die schönste Frau der Welt geheiratet zu haben, um sie dann wegen der inbrünstigen Liebe zu einer mindestens zehn Jahre jüngeren Frau eingetauscht zu haben – die natürlich mit dem Familienleben nicht vereinbar war.

An dieser Stelle kam dann regelmäßig der gleiche Satz: »Ich muss mich meiner Frau wieder annähern, der Kinder zuliebe.« Gefolgt von dem Versprechen, endlich auch sein Äußeres wieder auf Vordermann zu bringen: »Du wirst schon sehen, in ein paar Monaten bin ich wieder in Topform!«

Doch im Augenblick waren sie alle noch kahl und dickbäuchig und hatten einen eher erhöhten Cholesterinspiegel.

Guio spielte an diesem Abend entspannten Jazz, etwas aus dem klassischen Repertoire, mit der Kraft eines gealterten Teenagers. Er eröffnete und schloss den Abend. Dazwischen trat eine Band auf, die melodischen Hardrock spielte.

Für Maria Dolores war der Abend eine lang ersehnte Abwechslung. Sie war nicht allein, wenn auch im Dienst. Keinerlei Intimität, das war die Abmachung gewesen.

Maria Dolores: »Das ist er. Siehst du ihn?«

Luca Righi: »Nicht gerade der Jüngste, würde ich sagen.«

»Wenn du ihn unbedingt auf sein Geburtsjahr reduzieren willst … Hör mal, wie er spielt: Seine Musik ist zeitlos.« Maria Dolores schaute zu der kleinen Bühne, auf der Guio stand und ihr mit unverhohlener Bewunderung ein keineswegs überraschtes Lächeln zuwarf.

»Was willst du eigentlich von diesem Relikt?«, fragte Righi mit einem Funken Eifersucht und in der Absicht, das Terrain ein wenig zu sondieren.

»Er ist der Einzige, der mir über dieses Mädchen etwas sagen kann.«

»Aber du weißt doch nicht mal, ob die Knochen von ihr stammen.«

»Aber auch nicht das Gegenteil. Ein Fall von ungeklärtem Verschwinden bleibt es allemal.« Die Kommissarin setzte sich. Luca Righi nahm den Platz neben ihr ein. Etwas zu nah. »Was hast du deiner Frau eigentlich gesagt?« So konnte sie die Distanz wahren.

»Dass ich bei einem Einsatz bin. Das wäre schon zu viel für sie, wenn sie wüsste, dass ich hier mit dir bin.«

»Warum sagst du das? Zwischen uns ist doch absolut nichts.«

»Ja, wir schlafen nicht miteinander«, entgegnete er und fügte hinzu: »Weiß Michele denn, dass du hier mit mir bist?«

Nicht, dass er es nicht wüsste, er ist ganz einfach nicht da, weit weg, und niemand weiß genau, wann er zurückkommt. Er hat mich nicht danach gefragt, dachte die Kommissarin bei sich. Sie hatte ihm einfach etwas unterschlagen. Maria Dolores antwortete nicht, und Luca Righi redete weiter: »Hab ich dir eigentlich erzählt, dass ich ihn kennen gelernt habe?«

Sie wurde rot und versuchte ihre Verlegenheit zu verstecken.

»Er ist mit zwei Kollegen zu uns in die Kaserne gekommen und wollte Informationen über einige Personen. Mit mir persönlich hat er nicht gesprochen. Aber als er seinen Namen gesagt hat, konnte ich nicht anders, als zu ihm hinzusehen und zuzuhören.«

Maria Dolores schwieg noch immer.

Dann wieder er: »Ich bitte dich nur um eine Sache: Immer wenn du mit ihm geschlafen hast, dann beantworte bitte nicht meine Anrufe oder meine SMS. Tu einfach so, als ob es mich nicht gäbe, als ob ich dich nicht kontaktieren wollte. Das ist ein Mann, der wirklich alles hat, das sieht man.«

»Das ist nichts, worüber wir beide sprechen sollten. Dieses Gespräch hat mit uns beiden nichts zu tun.«

»Ich möchte damit nur sagen, dass, wenn du eines Tages von mir berührt werden willst, es bestimmt nicht aus fleischlichem Verlangen sein wird. Denn es wird passieren, früher oder später, das weißt du auch.«

Stille. Seine letzte Bemerkung passte ihr absolut nicht. Maria Dolores wiederholte sie im Geiste, und er fuhr weiter fort: »Im Augenblick verändert sich so vieles. Ich schaffe es nicht länger, die Lage zu kontrollieren. Hörst du, was für Blödsinn ich schon rede?«

»Willst du, dass wir uns nicht mehr sehen und nicht mehr hören? Ich wäre dazu bereit.«

»Ich will, dass unsere Beziehung sich verändert: Ich muss eine Möglichkeit finden, wie sie zu etwas anderem werden kann.« Er glaubte wirklich an das, was er sagte.

Maria Dolores durchfuhr es wie ein Blitz. Sie kannte diese Situation, wurde ungewollt immer wieder in eine ähnliche Lage gebracht: Die Männer nahmen Besitz von ihr, ohne auch nur einen Millimeter ihres Körpers erobert zu haben. Sie führten sie bis zu diesem Punkt. Dann nichts. Nichts mehr. Sie ließen sie in ihrem Liebesschmerz alleine zurück. Und sie musste sich mit einem leeren, trüben Alltag auseinandersetzen und der Tatsache, nicht mal einen Geliebten als Rückzug zu haben. Widerstandslos, mit dem Kopf auf dem Hackklotz. Gezwungen, rückwärts zu gehen. Der eine heiratete, der andere kehrte in sein warmes Nest zurück. Was machst du nur mit all dieser Leere, Maria Dolores?

Inzwischen näherte sich der Musiker den beiden: »Guio di Maggio.« Seine freie Hand streckte er Righi entgegen, in der anderen hielt er ein Glas mit etwas Alkoholischem.

»Luca Righi«, erwiderte dieser.

»Ein Kollege«, unterstrich Maria Dolores. »Es ist wirklich ein Vergnügen, Ihnen beim Spielen zuzuhören.«

»Das Lokal ist nicht schlecht, und außerdem zahlen sie gut«, ergänzte Guio, und aus dem Mund eines Sechzigjährigen hörte sich das etwas sonderbar an. »Sind Sie hier, um mit Ihrem Kollegen einen schönen Abend zu verbringen, oder können Sie sich gedanklich noch immer nicht von mir losreißen?« Der Charme in seiner Bemerkung war nicht zu überhören.

»Ich bin wegen Ihnen hier. Ich hatte gehofft, Sie könnten mir noch etwas erzählen.« Indessen näherte sich auch der Bassist der Band ihrem Tisch. Er hatte die sechzig noch nicht erreicht, trug gefärbte Haare, ein helles Karohemd und eine altmodische, etwas ausgestellte Jeans. »Ist das die schöne Kommissarin?«, fragte er und sah Maria Dolores an.

»Hauptkommissarin«, verbesserte sie. Bisher hatte sie nie Wert auf ihre Funktion gelegt. Unter ihren Kollegen war sie immer nur Vergani oder Maria Dolores. Sie dachte einen Moment über diese Tatsache nach und wandte sich dann wieder dem Mann zu.

»Ich bin Paco Serio, aber nicht wirklich so ernst, wie mein Name vermuten lässt.« Er blinzelte ihr zu und leierte wie ein alternder Komiker mechanisch seinen abgenutzten Spruch herunter. Ohne eine Aufforderung abzuwarten, setzte er sich, worauf Guio nicht länger an sich halten konnte.

»Ich spreche gerade mit der Dame, siehst du das nicht?« Und machte eine Handbewegung, als wollte er sagen Hau gefälligst ab. In Maria Dolores, der diese Reaktion gefiel, regte sich erneutes Interesse.

»Vielleicht hätte ich ja auch etwas zu sagen?«, beharrte Paco.

»Ach ja? Was denn?«, schaltete sie sich sofort ein.

»Ich meine, was Lolli betrifft. Ein erstklassiges Mädchen. Und er hatte sie ganz allein für sich.«

»Wer ›er‹?«, hakte Maria Dolores nach.

»Guio. Der alte Sack, der hier vor Ihnen sitzt. Ein liebesnärrischer Säufer.« Und der leicht verärgerte Guio konnte den kindlichen Ausdruck eines kleinen Jungen, der soeben mit den Fingern im Nutellaglas erwischt worden war, nicht verbergen.

Ich vergebe dir - Bucciarelli, E: Ich vergebe dir - Io ti perdono
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