KAPITEL 69
Um 18.30 Uhr kam das Abendessen. Jemand schob zwei Tabletts durch die Futterklappe. Knox und Stone griffen sich die Tabletts und setzten sich damit auf ihre jeweilige Liege.
Knox zeigte stumm auf die Möhren auf seinem Teller. Wenige Augenblicke später rauschte die Toilette, und das Gemüse verschwand.
Stone zerteilte das Fleisch – eine schwierige Herausforderung, weil ihm dafür nur ein weicher Styroporlöffel zur Verfügung stand –, als er unter dem Teller einen weißen Rand sah. Er stieß Knox in die Rippen, zog ein Papierchen hervor, entfaltete es und las, was darauf geschrieben stand, während Knox ihm interessiert über die Schulter lugte.
Ich war der Wärter an der Tür, als die Krankenpflegerin gegangen ist. Josh Coombs war mein Freund. Wir treffen uns morgen im Innenhof. Achtet auf meine Zeichen. Spült diesen Zettel durchs Klo.
Stone und Knox wechselten einen Blick. Knox nahm den Kassiber und las den Text ein zweites Mal; dann ließ er ihn den medikamentenverseuchten Karotten folgen, indem er ihn die Toilette hinunterspülte.
»Was halten Sie davon?«, fragte Knox.
Beide Männer trommelten erneut mit den Schuhen auf den Fußboden, um ihre Unterhaltung akustisch zu überdecken.
»Ich habe gemerkt, dass der Mann mich angeschaut hat, als er die Tür schloss. Und er hat genickt. Ich wusste nicht, was das sollte, aber es hat Hoffnung in mir geweckt.«
»Beachten wir seine Zeichen?«
»Er muss vorsichtig sein. Wenn es so weit ist, richten wir uns haargenau nach ihm.«
Zwanzig Minuten später pochte es an der Zellentür. »Die Tabletts!«, rief jemand.
Stone und Knox schoben die Tabletts durch die Futterklappe und kauerten sich wieder auf die Liegen.
»Was glauben Sie, warum sie uns überhaupt noch am Leben lassen?«, fragte Knox. »Dass mir in Wahrheit niemand zu Hilfe kommt, wissen diese Typen ja nicht.«
»Sobald irgendjemand aufkreuzt, wissen sie es lange vorher. Entweder töten sie uns dann, oder sie verstecken uns. Dunkle Löcher gibt es hier bestimmt genug.«
»Wieso machen sie uns nicht schon jetzt kalt?«, wunderte sich Knox. »Nicht, dass ich scharf darauf wäre.«
Stone erinnerte sich an sein Erlebnis mit den Schlangen im stillgelegten Bergwerksstollen. Jetzt verfestigte sich bei ihm die Überzeugung, dass diese Aktion Tyrees Handschrift trug. »Ein Mord geht schnell – eine Sekunde Schmerz, wenn man Glück hat, und es ist aus. Offenbar ist das für Howard Tyrees Geschmack zu wenig. Er will uns in der Gewalt haben, uns schikanieren und jede Sekunde auskosten. Und irgendwann bringt er uns um. Aber bis dahin möchte er uns das Leben so sehr zur Hölle machen, wie er nur kann.«
»Ich habe den Eindruck, der Kerl ist ein regelrechter Serienmörder.«
»Ist er. Nur befindet er sich leider auf der verkehrten Seite des Zellengitters.«
Knox streckte sich auf der stählernen Liege aus. »Und was jetzt? Warten wir einfach ab?«
»Derzeit wüsste ich keine Alternative.«
Ein harter Gegenstand krachte gegen die Zellentür. »Hände durch die Öffnung stecken!«, rief eine Stimme.
»Ach du Schande, was denn nun?«, stöhnte Knox.
»Denken Sie daran, wir haben Medikamente gekriegt«, flüsterte Stone. »Spielen Sie den Benommenen.«
»Fällt mir nicht schwer, so müde, wie ich bin.«
Man legte ihnen Hand- und Fußschellen an; dann wurden sie entkleidet und gefilzt. Inzwischen war dieser Vorgang schon zu einer Gewohnheit geworden wie das Essen und das Pinkeln. Beide Männer ließen die Köpfe hängen und gaben sich so lethargisch, wie sie konnten, ohne zu übertreiben.
Anschließend wurden sie von Wärtern, die mit Tasern bewaffnet waren, durch den Gang geführt. Wegen der Ketten konnten sie sich nur schlurfend voranbewegen. Mühsam stiegen sie mehrere Treppen hinauf. Stone vermutete, dass sie sich im westlichen Hochbau des Gefängniskomplexes befanden, war sich aber nicht sicher. Sein sonst so verlässlicher Orientierungssinn funktionierte in diesen Mauern nicht allzu gut.
Die Wärter brachten sie in einen runden Raum, in dessen Mitte ein Tisch und davor zwei Stühle standen. Durch 15 Zentimeter breite Scharten in den Mauern sah man die Dunkelheit draußen. Unter der Decke flackerte eine Neonröhre. Nachdem die Wärter Stone und Knox auf die Stühle gedrückt hatten, traten sie beiseite und warteten.
Knox und Stone warteten ebenfalls voller Anspannung, denn sie wussten nicht, was ihnen bevorstand, nur dass man ihnen voraussichtlich neue Schmerzen verursachen würde.
Jemand öffnete die Tür, und Tyree kam herein. Ihm folgten vier weitere Wärter – darunter der Bursche, der Stones Geschlechtsteile malträtiert hatte – sowie Manson mit der Augenklappe.
»Gentlemen«, sagte Tyree, »wir müssen uns unterhalten.«
Stone starrte ihn blöde an. Knox ließ den Blick auf den Tisch gesenkt, als hätte er kein Wort verstanden. Ein Wärter tuschelte Tyree etwas ins Ohr. Der Direktor nickte. »Ja, richtig. Okay, dann möbelt sie auf, ich muss ihre volle Aufmerksamkeit haben.«
Ein Vollzugsbeamter nahm eine Injektionsspritze aus einem schwarzen Mäppchen. Er tupfte Stones Oberarm mit in Alkohol getränkter Watte ab und stach die Nadel hinein. Danach desinfizierte er sie und gab auch Knox eine Injektion.
Was immer man ihnen injiziert haben mochte, die Wirkung trat unverzüglich ein. Stone spürte, dass sein Herz zu rasen anfing, und sämtliche Nerven neigten zur Überempfindlichkeit. Er starrte Knox an und sah, dass bei ihm die gleiche Reaktion stattfand.
»Gut«, meinte Tyree. »Und nun schließt sie an.« Die Wärter öffneten eine Tragetasche und holten zwei dicke Ledergürtel heraus, an denen Kabel hingen. Knox und Stone bekamen jeder einen solchen Gürtel um die Leibesmitte gelegt; dann wurden die Gürtel zugeschnallt. Einer der Wärter reichte Tyree ein schwarzes Kästchen, auf dem sich mehrere Tasten befanden. Der Gefängnisdirektor drückte eine Taste, und ein grünes Lämpchen leuchtete auf. Dann stellte er sich vor die beiden Gefangenen und wandte sich an Knox. »Also, Mr. CIA. Weiß irgendjemand, dass Sie Divine aufgesucht haben?«
»Ja.«
Wieder drückte Tyree eine Taste. Knox wurde regelrecht emporgerissen, stand starr und kerzengerade da und schrie, während der Strom durch seinen Körper jagte. Als Tyree den Finger von der Taste nahm, sank Knox zusammen wie eine Marionette, deren Fäden gekappt worden waren, und fiel auf den Stuhl zurück. Er keuchte und wankte.
Tyree blickte Stone an. »Wie lautet Ihr tatsächlicher Name?«
»Oliver Stone.«
Im nächsten Augenblick streckte sich Stone unfreiwillig auf den Zehenspitzen. Er hatte das Gefühl, als würden ihm das Hirn und das Herz auseinandergerissen. Tyree nahm den Finger von der Taste. Stone kippte um, verfehlte den Stuhl und krachte auf den Fußboden. Die Wärter zerrten ihn hoch und stießen ihn zurück auf den Sitz.
Ein zweites Mal wandte sich Tyree an Knox. »Weiß irgendwer, dass Sie Divine aufgesucht haben?«
»Nein!« Auch dieses Mal brachte ihm die Antwort einen Stromstoß ein.
»Welche Antwort wollen Sie denn hören, verflucht noch mal?«, keuchte Knox, als er wieder auf dem Stuhl saß.
»Die Wahrheit.«
»Na, eine der Antworten musste doch die Wahrheit sein, Sie Idiot!«
Diesmal drückte Tyree die Taste so lange, dass Stone befürchtete, Knox könnte es nicht durchstehen. Doch er überlebte. Schweißnass und keuchend fluchte er abgehackt vor sich hin.
Tyree widmete sich erneut Stone. »Oliver Stone?«
Also gut, lass uns sehen, ob du so gelassen einstecken kannst, wie du austeilst.
»Mein wahrer Name lautet John Carr«, sagte Stone und sprach mit so fester Stimme, wie er nur konnte, kurz nachdem der Strom seine Stimmbänder gekitzelt hatte. »Vor Jahrzehnten war ich Regierungskiller in einer Sonderabteilung der CIA, die so geheim war, dass nicht einmal der Präsident davon wusste. Dann hatte ich Streit mit meinen Vorgesetzten. Seitdem bin ich auf der Flucht. Agent Knox ist einer der besten Männer, die die heutigen Geheimdienste aufbieten können. Der Präsident höchstpersönlich hat ihm den Auftrag erteilt, mich ausfindig zu machen, weil man annimmt, ich hätte Senator Roger Simpson und Carter Gray ermordet. Knox ist so tüchtig, wie sein Ruf besagt, denn er hat mich aufgespürt. Und jetzt sind wir hier im Dead Rock und werden von einem Haufen Drogendealer, die sich als Justizbeamte tarnen, geprügelt und gefoltert.« Sein Blick erfasste die Wärter. »Aber ich bin mir sicher, dass ihr euch keine Sorgen machen müsst. Wahrscheinlich wird der Präsident die Angelegenheit zu den Akten legen und vergessen. Ihm wird es ziemlich egal sein, was aus mir wird … oder aus einem seiner besten Geheimagenten.«
Stone erzielte genau die Wirkung, die er sich erhofft hatte: Schweißtropfen und nervöse Blicke, vor allem bei dem Ein-Streifen-Schnösel und bei Manson, dem Kerl mit der Augenklappe.
Eine Sekunde später stand Stone wieder in der Senkrechten, weil erneut Strom durch seinen Körper schoss. Nachdem Tyree den Finger von der Taste genommen hatte, brauchte Stone ziemlich lange, um sich zu erholen. Er japste und rang um Atem. Seine Muskeln zuckten unkontrolliert.
»Sie können mich an einen Lügendetektor anschließen«, keuchte er. »Offenbar haben hier ein paar Drecksäcke ihren Spaß daran, anderen Menschen Schmerzen zuzufügen, aber das wird zu nichts führen. Sie sollten lieber Ihren Verstand gebrauchen, Direktor. Stellen Sie mir noch einmal die Frage, wer ich bin, sobald Sie mich an den Lügendetektor angeschlossen haben, dann erfahren Sie die Wahrheit. Andererseits können Sie sich den Aufwand sparen. Ich weiß wirklich nicht, wie sechzehn Geheimdienste und das Heimatschutzministerium mit ihren Tausenden bestens ausgebildeten Feldagenten und einem Etat von hundert Milliarden Dollar uns jemals finden könnten.«
Die Augenwinkel des Direktors zuckten. Er befummelte das Kästchen, drückte aber nicht mehr auf die Taste und wich Stones Blick aus.
* * *
Am späten Abend schloss man beide Männer an Lügendetektoren an. Fragen wurden gestellt und beantwortet. Man las die Resultate. Die gezackten Linien, die der Apparat aufgezeichnet hatte, lösten beim Gefängnisdirektor offenkundiges Missbehagen aus. Stone bemerkte es besonders deutlich, als Tyree befahl, die Gefangenen zurück in die Zelle zu bringen, ohne ihn noch einmal anzuschauen.
Hoffentlich schwitzt dieser Mistkerl heute Nacht Blut und Wasser.
Knox und Stone ruhten auf den Stahlliegen, starrten an die Decke und erholten sich von der Elektroschockfolter, so gut es ging. Zweifellos gaben beide sich Wachträumen hin, in denen sich kräftige Fäuste um Howard Tyrees Gurgel legten und ihm das Leben auspressten.
»Das war clever, Oliver«, beendete Knox schließlich das Schweigen. »Am besten hat mir gefallen, wie die Kerle Ihrer Weisung folgten, den Lügendetektor zu benutzen. Und haben Sie die Visagen der Wärter gesehen, als Sie sie mit den Fakten konfrontiert haben?«
»Ja.«
»Was werden sie jetzt wohl unternehmen?«
»Die Augen aufhalten und herumschnüffeln, um zu sehen, ob irgendwelcher Ärger auf sie zukommt. Dadurch gewinnen wir, was wir derzeitig am dringendsten benötigen.«
»Zeit«, sagte Knox.
»Zeit«, bestätigte Stone.
Sie hörten von der Tür ein Geräusch und machten sich auf neue qualvolle Schikanen gefasst. Doch nur ein Stück Papier kam durch die Öffnung gesegelt, die zum Anlegen der Handschellen diente. Es fiel auf den Fußboden. Knox hob es auf und reichte es Stone. »Beim Frühstück vor Manson in Acht nehmen«, las Stone ab und blickte Knox an. »Glauben Sie, was ich glaube?«, fragte er.
»Durchaus. Allerdings könnte es sein, dass man uns bis dahin umbringt, oder man verdirbt uns die Chance, die uns dieser Wärter bietet.«
»So weit muss es nicht kommen, wenn wir alles richtig anpacken.«