KAPITEL 2

In der Abenddämmerung, die sich zügig dem Dunkel der Nacht näherte, lag das Gärtnerhäuschen still und einsam da. Über den Friedhof selbst hatte sich bereits die Dunkelheit gelegt. Nur die Dunstfahne war zu sehen, wenn Stones Atem an der kalten Luft kondensierte. Sein Blick erkundete jeden Quadratmeter des Geländes, denn er durfte sich jetzt keinen Fehler erlauben. Es war Dummheit, dass er überhaupt hier aufkreuzte, doch Stone betrachtete Treue als Verpflichtung, nicht als Gefühlsduselei, auf die man ebenso gut verzichten konnte. Diese Einstellung prägte ihn und machte ihn zu dem, der er war. Wenigstens das konnte man ihm nicht wegnehmen.

Ungefähr eine halbe Stunde wartete er in der Nähe und beobachtete, ob sich etwas Verdächtiges tat. Nachdem er die Hütte vor langer Zeit verlassen hatte, war sie monatelang observiert worden: Stone wusste es, weil er die Überwacher überwacht hatte. Doch nachdem er sich vier Monate lang nicht hatte blicken lassen, hatten sie die Observation eingestellt und sich zurückgezogen. Das bedeutete allerdings nicht, dass sie nie wiederauftauchen würden. Nach den Ereignissen des heutigen Morgens musste Stone sogar davon ausgehen.

Alle Gesetzeshüter beteuerten, jedes gewaltsam beendete Leben verdiene denselben Aufwand an Ermittlungen, ganz egal, wer der Verblichene gewesen sei. In Wirklichkeit aber nahm die Beharrlichkeit der Täterfahndung mit der Wichtigkeit des Opfers zu. Und dieser Faustregel zufolge war abzusehen, dass man in Stones Fall ein ganzes Heer an Fahndern aufbot.

Als er schließlich zu der Überzeugung gelangte, dass keine unmittelbare Gefahr drohte, kroch er unter dem Zaun an der Rückseite des Friedhofs hindurch und schlich zu einem großen Grabstein. Er kippte ihn um und legte auf diese Weise eine kleine Grube im Erdboden frei. Er nahm die in der Grube versteckte Blechdose heraus, steckte sie in den Kleidersack und richtete den Grabstein wieder auf. Liebevoll tätschelte er das Schild mit der Grabnummer. Der eingemeißelte Name des Verstorbenen, der hier ruhte, war verwittert und nicht mehr zu entziffern, doch Stone hatte Recherchen über sämtliche Personen angestellt, die auf dem Mount Zion Cemetery beigesetzt worden waren; deshalb wusste er, dass es sich bei diesem Grab um die letzte Ruhestätte eines gewissen Samuel Washington handelte – ein befreiter Sklave, der sein Leben geopfert hatte, um seinesgleichen ebenfalls zur Freiheit zu verhelfen. Stone fühlte sich diesem Mann irgendwie verwandt, weil auch er wusste, was es hieß, unfrei zu sein.

Stone betrachtete das Friedhofsgärtnerhäuschen. Annabelle Conroy hatte, so wusste er, zeitweise darin gewohnt. Vor dem Friedhofstor parkte noch ihr Mietwagen. Einmal, als Annabelle vor ein paar Monaten vorübergehend nicht da gewesen war, hatte Stone das Häuschen betreten: Im Innern sah es jetzt viel besser aus als während der Zeit, als er es bewohnt hatte. Aber ihm war völlig klar, dass er nie mehr auf dem Mount Zion Cemetery zu Hause sein konnte, es sei denn in Rückenlage und zwei Meter unter der Oberfläche. Indem er heute, am frühen Morgen, zweimal das Gewehr abgefeuert hatte, war er zum meistgesuchten Mann Amerikas geworden.

Stone fragte sich, wo Annabelle heute Abend wohl sein mochte. Hoffentlich freute sie sich des Lebens. Allerdings wusste er, dass seine anderen Freunde sich leicht zusammenreimen konnten, was passiert war, denn die Meldungen über die beiden Todesfälle waren in sämtlichen Nachrichten. Stone hoffte, dass seine Freunde vom Camel Club deshalb nicht weniger gut von ihm dachten.

Eigentlich war diese Sorge der einzige Grund, warum er sich am heutigen Abend hier aufhielt: Er wollte vermeiden, dass sie ihn abzupassen versuchten. Das FBI war keineswegs unfähig. Letzten Endes würden die Agenten auch hier wieder auf den Busch klopfen.

Nach allem, was der Camel Club für ihn getan hatte, wünschte Stone sich sehnlichst, seinerseits mehr für den Club tun zu können. Er hatte sogar erwogen, sich der Polizei zu stellen. Aber wer spaziert schon gerne zu seiner eigenen Hinrichtung? Stone hatte nicht die Absicht, es seinen Gegenspielern so leicht zu machen. Wenn sie siegen wollten, mussten sie sich schon ein bisschen anstrengen.

Er hatte den mitgebrachten Brief sorgfältig formuliert. Ein Geständnis enthielt das Schreiben nicht, denn damit hätte er seine Freunde in eine umso schlimmere Bredouille gebracht. Sicher, Stone steckte in einem klassischen Dilemma, aber er schuldete den anderen etwas. Er hätte wissen müssen, dass ein Leben, wie er es geführt hatte, nur zu einem einzigen möglichen Abschluss führen konnte.

Einem Abgang wie diesem.

Stone zog den Brief aus der einen Tasche, ein Messer aus einer anderen. Dann wickelte er den Brief mit einer Kordel um den Messergriff. Schließlich holte er Schwung und schleuderte das Messer aus dem kleinen Garten, in dem er Beobachtungsposten bezogen hatte, in Richtung des Häuschens. Mit dumpfem Pochen schlug die Klinge in einen Stützbalken der Veranda ein.

»Lebt wohl.«

Nun galt es nur noch einen Ort zu besuchen.

Augenblicke später zwängte Stone sich in Gegenrichtung unter dem Zaun hindurch. Er ging zur U-Bahn-Station Foggy Bottom und stieg in einen Zug. Nach der Fahrt und einem halbstündigen Fußmarsch betrat Stone einen anderen Friedhof, was ziemlich bedrückend hätte sein müssen, doch Stone machte es nichts aus. Er fühlte sich bei den Toten wohler als unter den Lebenden, denn Tote stellten nie unbequeme Fragen.

Sogar im Finstern fand er rasch das Grab, das er suchte. Er kniete nieder, wischte ein paar Blätter zur Seite und betrachtete den Grabstein.

Hier ruhte Milton Farb, das bisher einzige verstorbene Mitglied des Camel Club. Auch als Toter sollte Milton für immer Teil dieser informellen Gruppe von Verschwörungstheoretikern sein, für die es nur um eines ging: um die Wahrheit.

Zu dumm nur, dass Stone, ihr Anführer, sich nicht an diesen Grundsatz gehalten hatte.

Deshalb lag Milton Farb jetzt hier.

Verzeih mir, alter Freund. Es war meine Schuld.

Nur Stones wegen hatte der brillante, aber allzu quirlige Milton hier seine ewige Ruhe gefunden. Es hatte ihn unter dem Capitol erwischt. Ein großkalibriges Geschoss hatte ihn buchstäblich aus dem Leben gerissen. Der Schmerz, der Stone des toten Freundes wegen erfüllte, war beinahe so unerträglich wie die Trauer, die er beim Tod seiner Ehefrau empfunden hatte.

Stones Augen wurden feucht, als er sich an den tragischen letzten Abend Miltons im Besucherzentrum des Capitols erinnerte. Ihm stand noch deutlich das schreckliche Bild vor Augen, wie Milton ihn, von der Kugel getroffen, angeblickt hatte – mit großen, unschuldigen, flehentlichen Augen. Die Erinnerung an die letzten Atemzüge seines Freundes würde Stone bis an den Tag seines Todes begleiten.

Stone hatte Milton nur noch rächen können. Und das hatte er getan: Er hatte mehrere schwer bewaffnete, top ausgebildete und sehr viel jüngere Männer noch am selben Abend in den Räumlichkeiten des Besucherzentrums getötet. Doch Stone konnte sich kaum noch daran erinnern, so sehr hatte Miltons schockierender Tod alles überschattet. Außerdem hatte Stones brutaler Gegenschlag den Verlust Miltons nicht im Entferntesten wettmachen können.

Aus diesem Grund – zum Teil jedenfalls – hatte Stone am heutigen Morgen abermals getötet. Und noch immer empfand er den Verlust Miltons als ungerächt. So wie den Tod seiner Frau. Und den Verlust seiner Tochter.

Behutsam und mit äußerster Sorgfalt klaubte Stone einen Brocken Gras und Lehm aus der Grabstätte des Freundes, senkte die Blechdose in das Erdloch, breitete das Gras wieder darüber, trat es fest und beseitigte sämtliche Spuren, die darauf hingewiesen hätten, dass sich hier jemand zu schaffen gemacht hatte. Dann richtete er sich zu voller Größe auf und salutierte vor seinem toten Freund.

Wenig später schlenderte Stone zur U-Bahn und fuhr zur Union Station, wo er vom Großteil seines restlichen Bargelds eine Zugfahrkarte in den Süden erwarb. Im Bahnhof hatten mehrere Polizisten Stellung bezogen, sowohl in Uniform als auch in Zivil; keiner von ihnen entging Stones geübtem Auge. Der Großteil der Einsatzkräfte hielt sich zweifellos auf den drei örtlichen Flugplätzen auf, um den Mörder eines bekannten US-Senators und des nationalen Geheimdienstchefs abzufangen. Das allgemein verachtete amerikanische Eisenbahnnetz hingegen verdiente offenbar keine große Aufmerksamkeit, als hielten Mörder es für unter ihrer Würde, die altersschwachen Gleise zu befahren. Stone konnte es nur recht sein.

Dreißig Minuten später stieg er mit Ziel New Orleans in den Crescent. Er hatte diese Entscheidung spontan gefällt, als sein Blick auf die Anzeigetafel fiel. Der Zug hatte mehrere Stunden Verspätung, andernfalls hätte er ihn verpasst. Obwohl von Natur aus nicht abergläubisch, hatte Stone darin ein Omen gesehen. Bevor er seinen Platz aufsuchte, zwängte er sich in eine enge Toilette, rasierte den Bart ab und ließ die Brille verschwinden.

Wie er gehört hatte, gab es in New Orleans aufgrund der Verwüstungen durch Hurrikan Katrina noch immer eine große Nachfrage nach Bauarbeitern. Und Leute, die verzweifelt Arbeitskräfte suchten, fragten nicht nach so heiklen Dingen wie Sozialversicherungsnummer und festem Wohnsitz. In diesem Stadium seines Daseins wollte Stone mit Fragen oder Zahlen, die seine wahre Identität enthüllen konnten, nichts zu tun haben. Sein Plan sah vor, mit einer Menschenmasse zu verschmelzen, die nach einem Albtraum, den sie nicht zu verantworten hatte, um einen Neuaufbau rang. Stone konnte die Situation dieser Menschen gut nachvollziehen; im Grunde bemühte er sich um genau das Gleiche, nur mit dem Unterschied, dass er seinen ganz persönlichen Albtraum durch seine beiden letzten Schüsse selbst heraufbeschworen hatte.

Während der Zug durch die Dunkelheit ratterte, schaute Stone zum Fenster hinaus. Er betrachtete das darin sichtbare Spiegelbild der jungen Frau, die neben ihm saß und einen Säugling im Arm hielt. Ihre Füße standen auf einer verbeulten Reisetasche und einem Kopfkissenbezug, der anscheinend Fläschchen, Windeln und Kleidung für das Kind enthielt. Beide schliefen; der Säugling lag mit der Brust an den Busen der Mutter geschmiegt. Stone drehte den Kopf und betrachtete das Kind, sein Dreifachkinn und die knubbeligen Fäustchen. Plötzlich öffnete der Säugling die Augen und sah ihn an. Es überraschte Stone, dass er nicht quäkte; tatsächlich gab er keinen Laut von sich.

Auf der anderen Seite des Mittelgangs verzehrte ein Mann, so dünn wie eine Eisenbahnschiene, einen Cheeseburger, den er im Bahnhof gekauft hatte. Zwischen seine knochigen, von geflickten Jeans bedeckten Knie hatte er sich eine Flasche Bier geklemmt. Neben ihm hatte ein junger, hochgewachsener, gutaussehender Bursche mit braunen Locken und Dreitagebart im ansonsten glatten Gesicht Platz genommen. Er besaß den sehnigen Körperbau und die geschmeidigen Bewegungen eines Highschool-Quarterbacks, der er offenbar einst gewesen war, wie seine Studentenjacke zeigte, auf der es von Abzeichen und Aufklebern nur so wimmelte. Anhand der aufgestickten Jahreszahl erkannte Stone, dass der Bursche die Highschool seit mehreren Jahren nicht mehr besuchte – eine lange Zeit, um vergangenem Ruhm nachzuhängen. Aber vielleicht hatte er sonst nichts mehr. Auf Stone wirkte der Mann, als wäre er der Überzeugung, dass die Welt ihm alles schuldete, ihre Versprechen aber nicht eingelöst hatte. Während Stone ihn beobachtete, stand er auf, schob sich am Cheeseburger-Esser vorbei, strebte zum Heck des Waggons und entschwand durch die Verbindungstür in den hinteren Teil des Zuges.

Stone hob die Hand und tippte behutsam gegen die winzige Faust des Säuglings, der mit einem kaum vernehmlichen Gurren darauf reagierte. Das Kind hatte noch sein ganzes Leben vor sich, während Stones Leben sich dem Ende zuneigte.

Aber erst einmal mussten sie ihn kriegen. Er würde es einer Obrigkeit, die sich oft herzlos gerade gegenüber jenen Menschen zeigte, die ihr am treuesten und unter stumm erlittenen Opfern dienten, so schwer wie möglich machen.

Stone lehnte sich in den Sitz zurück und beobachtete, wie Washington in der Ferne zurückblieb, während der Zug dahinratterte.

Camel Club 04 - Die Jäger
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