KAPITEL 25

Nachdem er von Leroys Wohnsitz in Maryland abgefahren war, kehrte Knox nicht nach Hause zurück. Eine bestimmte Frage beschäftigte ihn so sehr, dass er unbedingt eine Antwort darauf haben musste. Er fuhr nicht nach Langley, sondern zu einem unauffälligen Gebäude im Herzen Washingtons. Er hatte sich telefonisch angemeldet, sodass man ihm – auch dank seiner militärischen Vergangenheit – nach Vorlage des Dienstausweises ohne Umschweife Einlass gewährte.

Er betrat einen großen Raum voller langer, verkratzter Tische, an denen grauhaarige Männer – wahrscheinlich Veteranen vergangener Kriege – und Krawatten tragende Historiker saßen und in Stößen vergilbter Dokumente lasen. Der Raum hatte keine Fenster, und man hätte meinen können, auch keine Luftzufuhr. Bedrückt ließ Knox den Blick schweifen. Diese Institution sammelte die Aufzeichnungen über das viel zu kurze Leben und den gewaltsamen Tod von weitaus mehr Menschen, als Knox sich ausmalen mochte.

Das zentrale Hauptarchiv der US Army befand sich in St. Louis. Wenn man kein Verwandter war, benötigte man entweder das Einverständnis des Betroffenen oder einen Gerichtsbeschluss, um in die vollständige Personalakte eines Militärangehörigen Einblick zu nehmen.

Knox jedoch wusste etwas, das den wenigsten Menschen geläufig war: Das Archiv in St. Louis besaß nicht sämtliche Akten. Manche lagerten im D. C. – und dazu zahlreiche Kopien der in St. Louis archivierten Unterlagen. Diese Akten enthielten mehr als nur den dienstlichen Werdegang eines Soldaten. In ihrer Gesamtheit ergaben diese Dokumente eine Chronik der Kriege Amerikas. Deshalb betrieben zahlreiche Historiker auf dieser Grundlage ihre Forschungen, nicht wenige unter Berufung auf das US-Akteneinsichtsrecht, weil das Militär nur widerwillig etwas über sich selbst enthüllte.

Viele der Unterlagen, die Knox einzusehen wünschte, waren noch nicht elektronisch erfasst worden, andere hingegen hatte man bereits im Computer gespeichert. Nachdem der zuständige Archivmitarbeiter Knox’ Dienstausweis gesehen hatte, kramte er zügig die entsprechenden Kartons hervor und zeigte ihm, wie er auf die digitalisierten Daten zugreifen konnte. Knox setzte sich vor einen PC und begann mit den Dateien, rollte Seite um Seite ab.

Ihn beschäftigte ein Verdacht; er wollte wissen, ob er stimmte. Ihm ließ die Frage keine Ruhe, weshalb Macklin Hayes so versessen darauf war, dass John Carr gefasst wurde. Falls Carr tatsächlich Simpson und Gray getötet hatte, war er jetzt auf der Flucht. Er durfte auf keinen Fall irgendwo eine Pressekonferenz veranstalten und Geheimnisse der Vergangenheit ausplaudern. Knox konnte nachvollziehen, dass Hayes ihn in Gewahrsam haben wollte, bevor die Polizei ihn festnahm. Sollte die Polizei Carr schnappen, erschacherte er vielleicht mit dem Angebot, ein Geständnis abzulegen, einen Deal. Andererseits hatte Hayes selbst klargestellt, er hätte der Polizei bei ihren Ermittlungen vorsichtshalber einen Riegel vorgeschoben, im Wesentlichen um ihm, Knox, ein ungestörtes Aktionsfeld zu bieten. Und falls es der Polizei doch gelang, Carr zuerst dingfest zu machen, konnte die CIA eingreifen und ihn im Interesse der nationalen Sicherheit in die eigene Obhut überführen. Carr könnte niemals auch nur einen Anwalt anrufen, geschweige denn sich jemals an die Mikrofone einer Pressekonferenz setzen.

Woher rührte also die überragende Wichtigkeit, den Mann zu fassen? Abgesehen von der ethischen Fragwürdigkeit der Erwägung, einem Mörder den Lauf der Gerechtigkeit zu ersparen, konnte es auf gewisse Weise als am strategisch sinnvollsten erachtet werden, Stone einfach ziehen und in Frieden sterben zu lassen. Unter dem Strich lautete die Erkenntnis: Hayes benahm sich ziemlich irrational, war aber nicht als unvernünftiger Mann bekannt. Es musste einen anderen Beweggrund geben.

Knox starrte auf den Bildschirm und las die militärischen Unterlagen vieler Männer und Frauen, die in Vietnam gedient hatten. Irgendwann erschöpften sich die einschlägigen digitalen Aufzeichnungen, und nachdem er sich mit einem anderen Archivar besprochen hatte, der ihn dabei unterstützte, die Suche genauer einzugrenzen, nahm er sich die Kartons vor. Ohne Erfolg durchsuchte er dreißig Stück. Gerade verfestigte sich bei ihm die Überlegung, Feierabend zu machen, da ergriff seine Hand einen Stapel Papier, dessen erste Seite auf Anhieb seine Aufmerksamkeit erregte.

Knox beugte sich vor – und langsam schien die Räumlichkeit rings um ihn her aus seiner Wahrnehmung zu verschwinden. Er las die Einsatzgeschichte eines Soldaten namens John Carr, eines Rekruten, den man rasch zum Sergeant befördert hatte. Die Schilderungen, die Knox so in den Bann zogen, waren prall gefüllt mit Carrs heroischen Taten, die er vor fast vierzig Jahren innerhalb von nur fünf Stunden vollbracht hatte.

Bei einer zahlenmäßigen Überlegenheit des Gegners von zehn zu eins hatte Carr eigenverantwortlich einen feindlichen Angriff abgewehrt, seine Kompanie gerettet und mehrere verletzte Kameraden in Sicherheit geschleppt. Dabei hatte er mindestens zehn gegnerische Soldaten getötet, einige davon im Nahkampf. Dann hatte er sich in einem Maschinengewehrnest festgesetzt, um die Nordvietnamesen in Schach zu halten, während um ihn herum Geschossgarben pfiffen und es Mörsergranaten hagelte. Er gab die Stellung erst auf, als Luftunterstützung angefordert werden musste, um der Kompanie den ungefährdeten Rückzug zu ermöglichen. Als Carr das Gefechtsfeld verließ, troff er vom eigenen Blut. Kugeln und Macheten hatten ihm Wunden zugefügt, die zu bleibenden Narben werden sollten.

Knox hatte selbst an Dschungelkämpfen teilgenommen. Er kannte das Chaos und das Grauen, die solche Auseinandersetzungen prägten. Auch er war verwundet worden und hatte Narben zurückbehalten. Während mancher Gefechte, in die er verwickelt worden war, war er fest davon überzeugt gewesen, sein letzter Tag auf Erden sei angebrochen. Noch in den letzten Tagen des Krieges in Südostasien war er an erfolgreichen amerikanischen Vorstößen beteiligt gewesen, doch zu der Zeit hatten Erfolge im Feld schon keine Bedeutung mehr gehabt. Falls sie überhaupt je eine Bedeutung gehabt hatten.

Aber Knox hatte noch nie von einem Soldaten gehört oder gelesen, der Dinge vollbracht hatte wie Carr an jenem denkwürdigen Tag. Es übertraf jedes Wunder. Es musste ohne Einschränkung als übermenschliche Leistung bewertet werden, so abgedroschen das klingen mochte. Knox’ Respekt vor dem Mann wurde immer größer.

Solchem Heldenmut musste der verdiente Lohn gefolgt sein. Die Mühlen des Militärs malten in vieler Hinsicht langsam, aber Tapferkeit im Feld wurde schnell belohnt – und sei es aus keinem anderen Grund, als andere Soldaten zum Nacheifern zu motivieren. Außerdem lieferten solche Vorkommnisse Material für Propagandaaktionen. Der Heldenmut und die außergewöhnliche Kampftüchtigkeit, die Carr bewiesen hatte, hätten ihm ohne Weiteres den höchsten Orden für Tapferkeit einbringen können, den die USA zu vergeben hatte, die Medal of Honor. In seinen Auslassungen hatte Hayes aber nichts Dahingehendes erwähnt. Ebenso wenig war seitens der Presse etwas verlautbart worden, als man auf dem Nationalfriedhof Arlington Carrs vorgebliches Grab geöffnet hatte.

Knox musste noch mehrere Kartons auspacken und sehr viele Seiten umblättern, bis sich die Angelegenheit schließlich in neuem Licht zeigte.

Man hatte Carr mehrere Orden unmöglich verweigern können, da die erlittenen Verwundungen einen ausreichenden Beweis darstellten. Insgesamt hatte er – auch für in anderen Gefechten davongetragene Verletzungen – vier Purple Hearts erhalten. Dann war erwogen worden, ihn mit dem Bronze Star auszuzeichnen, doch das Datum des Dokuments lag lange nach den wundersamen Taten John Carrs im Felde. Und nach Knox’ Empfinden wäre der Bronze Star, obwohl durchaus prestigeträchtig, nicht im Entferntesten eine gerechte Anerkennung dessen gewesen, was Carr geleistet hatte. Für Knox’ Begriffe war der Bronze Star eine Art Zwitter. Er konnte für Heldenmut im Krieg verliehen werden, aber auch für überragende Dienste an der Allgemeinheit. Der Silver Star, das Distinguished Service Cross und die Medal of Honor, das höchste Dreigestirn aller Orden, die ein Soldat erringen konnte, wurden dagegen ausschließlich für herausragende Leistungen im Kriegseinsatz vergeben.

Endlich entdeckte Knox mehrere Dokumente, die darauf verwiesen, dass Carrs direkter Vorgesetzter ihn tatsächlich für die Medal of Honor vorgeschlagen hatte. Der Mann hatte die erforderlichen Formulare eingereicht und sämtliche Beweise und Zeugenaussagen beigefügt. Dann hatte er den Antrag an die militärische Führung weitergegeben. Die Datierung der Unterlagen ließ zweifelsfrei erkennen, dass die Empfehlung kurz nach Carrs Leistungen auf dem Gefechtsfeld ergangen war, also lange vor den Dokumenten, die eine mögliche Verleihung des Bronze Star betrafen.

Was zum Teufel war da geschehen?

Nichts war geschehen. Der Antrag war im Sande verlaufen. Knox fand keine weiteren Dokumente, die sich mit dieser Sache befassten.

Warum nicht? Der Mann war ein Held gewesen. Eine Aufsehen erregende Story hatte sich zugetragen. Aber nichts war geschehen. Stattdessen war Carr kurze Zeit später aus dem Dienst ausgeschieden. Knox glaubte den Grund zu durchschauen: Carr war von der CIA für die Abteilung 666 angeworben worden. Die Geheimdienstler, so wusste Knox, suchten sich ihre Killer oft unter den fähigsten Angehörigen des Militärs aus.

Er verstaute die Dokumente wieder im Karton, als ihm plötzlich etwas auffiel, das er bisher übersehen hatte. Zwei zusammengeheftete Blätter Papier klemmten zwischen einer Innenklappe und der Außenseite des Kartons. Beinahe hätte Knox sie nicht gelesen, so sehr widerte ihn die Ungerechtigkeit des Militärs gegenüber einem Soldaten an, der sich die höchste militärische Auszeichnung mehr als verdient hatte.

Trotzdem nahm Knox die Blätter zur Hand.

Der Text enthielt eine klare Anweisung. Sie untersagte jede weitere Erwägung, John Carr könne die Medal of Honor oder irgendeine andere hohe Auszeichnung verliehen werden. Knox las lange, in offiziösem Kauderwelsch abgefasste Passagen, die besagten, die Beweise seien unzuverlässig, die Aussagen der Augenzeugen uneinheitlich und die Darstellung der Umstände widersprüchlich.

Knox konnte das alles nicht begreifen – bis sein Blick die Unterschriftszeile erreichte, wo der Name des unterzeichnenden Offiziers stand.

Major Macklin D. Hayes.

Camel Club 04 - Die Jäger
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