KAPITEL 31
Joe Knox saß in seinem Stadthaus bei einer Tasse Kaffee und überlegte sich seinen nächsten Schachzug. Der idiotische CIA-Zeichner, den er angefordert hatte, damit er ein Phantombild anfertigte, hatte sich auf der Fahrt zu Leroys Behausung verfranst. Als er endlich eintraf, war Leroy mit seinem verfluchten Kahn auf die Bucht hinausgetuckert. Leroy hatte kein Handy, also konnte Knox nichts anderes tun, als einen anderen Agenten hinzuschicken, der auf Leroys Rückkehr warten und ihn bei der Gelegenheit zurückhalten sollte. Solange er kein Phantombild vorzeigen konnte, verharrten Knox’ Ermittlungen im Stillstand.
Und wenn Leroy ein Mittäter war und sich jetzt auf der Flucht befand, nachdem Knox selbst ihn gewarnt hatte?
Einen solchen Anfängerfehler werde ich Hayes wohl kaum plausibel erklären können.
Er beschloss, noch einmal über alles nachzudenken, was er im Militärarchiv an Einsichten gewonnen hatte – nur für den Fall, dass irgendetwas ihn auf eine neue Idee brachte. Eine halbe Stunde später war er keinen Schritt weiter. Vielleicht sollte er das Archiv ein zweites Mal aufsuchen und weitere Dokumente durchsehen. Der Archivmitarbeiter hatte die Kartons ohne besonderen Aufwand für ihn gefunden. Wahrscheinlich dauerte es keine …
Langsam setzte Knox die Tasse ab. Im nächsten Moment sprang er ans Telefon, besorgte sich die Rufnummer des Militärarchivs und tippte sie ein. Nachdem man ihn mehrmals weiterverbunden hatte, hörte er die Stimme jenes Mannes, der ihn so fachkundig unterstützt hatte. Knox erklärte, wer er war, und stellte seine Frage.
»Wie konnten Sie so schnell finden, was ich gesucht habe? Man hätte meinen können, die Kartons hätten schon bereitgestanden.«
»Nun, in gewisser Weise war es auch so. Die Kartons sind schon vor ungefähr einem halben Jahr herausgesucht worden, und seitdem hat niemand sie wieder einsortiert«, antwortete der Mann ein wenig verlegen. »Wir haben seit einiger Zeit weniger Leute als sonst«, fügte er hastig hinzu, als hätte er den Verdacht, Knox könnte eine Art Militärarchiv-Inspekteur sein, der ihn aufs Glatteis zu locken versuchte.
»Also hat vor ungefähr sechs Monaten schon jemand diese Unterlagen eingesehen?«, fragte Knox. »Können Sie mir sagen, wer das war?«
Der Mann entschuldigte sich und blieb eine Minute lang weg. »Jemand namens Harry Finn«, meldete er sich dann wieder. »Im Anmeldeverzeichnis steht, er ist ein Ehemaliger der Navy SEALs. Er hatte die Ausweise und Sondergenehmigungen, die man braucht, um sich die Kartons heraussuchen zu lassen, die auch Sie durchgesehen haben. Hilft Ihnen das weiter?«
»Das ist mir sogar eine große Hilfe, danke.« Knox beendete das Telefonat und brachte die nächste Stunde damit zu, nach dem ehemaligen SEAL Harry Finn zu recherchieren.
Noch eine Stunde später bremste er seinen Geländewagen, stieg aus, erklomm eine Eingangstreppe und drückte einen Klingelknopf. Gleich darauf öffnete jemand die Haustür. Vor Knox stand ein hochgewachsener, jüngerer Mann, der ihn argwöhnisch musterte.
»Harry Finn?«, fragte Knox.
Finn gab keine Antwort. Stattdessen ließ er gewohnheitsmäßig den Blick über das Umfeld hinter Knox schweifen.
»Ich bin allein. So allein, wie man in diesem Schlamassel sein kann.«
»Welcher Schlamassel?«
»Darf ich eintreten?«
»Wer sind Sie?«
Knox zückte seine Dienstausweise. »Ich bin hier, um mit Ihnen über Oliver Stone zu reden. Vielleicht kennen Sie ihn auch unter dem Namen John Carr.«
»Ich habe Ihnen nichts zu sagen.«
»Ich weiß nicht, warum Sie sich seine Militärakte angesehen haben, und ich weiß auch nicht, ob Sie sein Freund oder Feind sind. Auf alle Fälle ist Stone auf der Flucht, und irgendwann wird jemand ihn stellen. Und dann …« Knox hob die Schultern.
Finn setzte zu einer Erwiderung an, als Knox’ Handy surrte. Er war auf einen Anruf gefasst gewesen; deshalb wunderte es ihn nicht, dass er in einigem Abstand eine schwarze Limousine auf der Straße stehen sah, als er einen Blick über die Schulter warf. Doch sogar Knox’ geschultem Blick entging der unauffällige weiße Lieferwagen, der noch ein Stück weiter weg stand. Der Anrufer war Macklin Hayes, und wie gewohnt kam er sofort zur Sache.
»Was zum Teufel treiben Sie da, Knox?«
»Wo?«
»Harry Finn ist tabu.«
Knox stieg die Eingangstreppe hinunter und kehrte Finn den Rücken zu. »Das hat mir keiner gesagt.«
»Dann wissen Sie’s jetzt. Wie sind Sie auf den Mann gekommen? Hängt es mit Ihrem Besuch im Militärarchiv zusammen?«
»Wieso halten Sie es für erforderlich, mich beschatten zu lassen, Sir?« Knox drehte sich um und winkte den Männern in der schwarzen Limousine zu.
»Was haben Sie herausgefunden?«
»Wenig. Er hat in Vietnam gekämpft. Hat sich als überragender Soldat bewährt. Dann verschwand er plötzlich von der Bildfläche. Wahrscheinlich wurde er rekrutiert, um …« Knox blickte Finn an und grinste. »Um in der Einheit zu dienen, die es nicht gibt.«
»Gehen Sie jetzt. Und lassen Sie sich nie wieder vor dem Haus erwischen.«
Die Verbindung wurde getrennt. Knox schob das Handy in die Tasche und wandte sich wieder Finn zu.
»Ich habe Ihnen eine erfreuliche Mitteilung zu machen. Sie sind offiziell tabu. Jedenfalls hat mein Chef es mir gerade so durchgegeben. Aber vergessen Sie nicht, dass sich allerhand … nun, Unregelmäßigkeiten um Carr ranken. Inzwischen habe ich mit seinen Freunden gesprochen, darunter auch mit der Lady, die sich Susan Hunter nennt. Von ihr weiß ich, dass Carr irgendetwas gegen Carter Gray in der Hand hatte. Aber Gray hat es ihm weggenommen, wahrscheinlich im Capitol-Besucherzentrum. Ihrem Pokerface entnehme ich, dass Sie darüber Bescheid wissen. Vielleicht haben Sie sogar mitgemischt. Ich kann Ihnen nur sagen, ich habe den Auftrag, Carr aufzuspüren. Mehr nicht. Aber wenn ich ihn finde – und Sie können sich darauf verlassen, dass es mir gelingt –, werden andere Leute angesaust kommen und die ganze Sache in die Hand nehmen. Und ich bezweifle, dass diesen Leuten Carrs Wohlergehen am Herzen liegt. Ob das alles von Bedeutung für Sie ist oder nicht, kann ich nicht erraten, und eigentlich ist es mir auch schnuppe.« Er streckte Finn die Rechte entgegen. Als Finn nach dem Händedruck die Hand senkte, hielt er eine Visitenkarte mit Knox’ Kontaktdaten zwischen den Fingern. »Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag, Mr. Finn.«
Knox stapfte zu seinem Geländewagen, während Finn ihm hinterherschaute.
Warum er das getan hatte, wusste Knox selbst nicht genau. Oder vielleicht doch. John Carr hatte sich für sein Heimatland die Knochen kaputtschießen lassen, und zum Dank war er in den Hintern getreten worden. Ganz gleich, was der Mann angestellt hatte – das war ein himmelschreiendes Unrecht gewesen.
* * *
In dem weißen Lieferwagen tippte Annabelle eine Rufnummer ins Handy. Schon im nächsten Augenblick meldete sich Finn. Er wiederholte, was Knox zu ihm gesagt hatte, und Annabelle erzählte ihm, was sie über Knox wussten.
»Können wir diesem Sack trauen, Annabelle?«, fragte Finn.
»Nun ja, ich habe ihm anfangs nicht getraut, aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher. Es scheint, als säße er zwischen sämtlichen Stühlen.«
»Und was machen wir jetzt?«
»Du hältst still. Vielleicht brauche ich später deine Unterstützung. Um genau zu sein, Oliver könnte sie brauchen.«
»Ich stehe bei Oliver tief in der Schuld. Sag mir Bescheid, wenn du mich brauchst, und ich bin da.«