KAPITEL 26
Langsam lenkte Knox den Range Rover in die Garage seines Stadthauses. Ehe er die Taste der Fernbedienung drückte, um das Garagentor zu schließen, beobachtete er im Rückspiegel die Straße. Knox war ziemlich sicher, dass in der Nähe Schnüffler lauerten und ihn beschatteten, denn für Hayes war es typisch, dass er buchstäblich alles im Auge behielt.
Der gute Ex-General traut mir so wenig, wie ich ihm traue.
Knox konnte durchaus in die Situation kommen, diese Burschen abhängen zu müssen. Er hoffte, der Herausforderung gewachsen zu sein, falls es sich nicht umgehen ließ.
Der Durchschnittsbürger hätte es wohl als abwegig angesehen, dass ein Regierungsagent sich vor seinem Vorgesetzten fast so sehr fürchtete wie vor seinem Widersacher. Doch man zog Knox nur dann heran, wenn das Kind längst im Brunnen lag, die Funktionäre mit dem Finger aufeinander zeigten und sich darauf konzentrierten, Schuldtheorien auszuhecken. Manchmal verglich Knox seine Aufgabe mit der Tätigkeit des Innenrevisors in einem Polizeipräsidium. Egal, was man tat, nachher war irgendjemand sauer. Und vom Groll bis zu dem Plan, den vermeintlich Verantwortlichen mit dem Leben büßen zu lassen, war es manchmal kein großer Sprung. Bisweilen waren dazu nur das Überqueren der Straße, ein treffsicherer Schuss und eine überzeugende Ausrede nötig.
Und aus John Carrs militärischer Vergangenheit hatte Knox schlussfolgern können, dass Hayes im Fall Carr ganz eindeutig private Motive hatte. Fraglos hatte er Knox schon belogen. Was für eine Ehre es sei, hatte er geschwätzt, einen solchen »Tötungsroboter« wie Carr unter seinem Kommando zu haben. Dabei hatte Carr bereits während seiner mörderischen Bestzeit seinem Befehl unterstanden, und die ihm zustehende Ehre hatte Hayes ihm verweigert.
Was mochte Carr verbrochen haben, um den Mann so sehr gegen sich aufzubringen? Hayes war dafür bekannt, sehr nachtragend zu sein; allem Anschein nach sollte seine Reputation sich in diesem Fall bewahrheiten.
Knox hatte noch mehrere Stunden im Archiv gehockt, um auch auf diese Frage eine Antwort zu finden, hatte sich schließlich aber mit Spekulationen zufriedengeben müssen.
Die düsteren Gedanken, die er gegenwärtig wälzte, bedrückten ihn fast so sehr wie seine Erlebnisse während der letzten Nächte im vietnamesischen Dschungel, kurz bevor die USA den Krieg als unergiebig eingeschätzt und ihre Truppen nach Hause geholt hatten. Knox’ Bataillon war eines der letzten gewesen, die in Südostasien eintrafen. Elf Monate war er dort geblieben, doch für ihn waren es gefühlte elf Jahre gewesen. Als er mit einem Granatsplitter im linken Oberschenkel und einem Horrorkabinett wiederkehrender Albträume als Andenken in die Heimat zurückkehrte, war in ihm die Einsicht gereift, dass Krieg keine sonderlich kluge Methode war, um globale Konflikte zu lösen, zumal wenn kein Politiker-, sondern Schütze-Arsch sich im Dreck Stahl und Blei einfing. Anschließend hatte er sich bei der DIA eingearbeitet, dem Verteidigungsnachrichtendienst, und war von dort in die außermilitärische Geheimdiensttätigkeit und zur CIA gewechselt.
Heute war Knox bei einer Spezialabteilung der CIA beschäftigt, von der Otto Normalverbraucher nichts wusste und auch nie erfahren würde. Er verfügte über zwei Dienstausweise: einen für die Öffentlichkeit, der ihn als Mitarbeiter des Heimatschutzministeriums auswies und im Normalfall eine hinlängliche einschüchternde Wirkung hatte, sowie einen zweiten Ausweis der Spezialabteilung, den er nur bestimmten Kollegen aus Geheimdienstkreisen zeigte. Letzterer wies ihn als Agenten des OSM aus, des Office of Special Matters. Diese Abteilung setzte sich aus Mitgliedern fünf großer Nachrichtendienste zusammen, während die Leitung einigen wenigen Personen in Langley oblag. »Office of Special Matters« klang ein bisschen steif, fand Knox, aber die Tätigkeit der Abteilung hatte einen todernsten Charakter. Jahrelang war Knox bis zum Hals in »Sonderangelegenheiten« verwickelt gewesen, hatte manchmal bis zu sechs Krisen mit internationaler Sprengkraft zur gleichen Zeit bewältigen müssen.
Tatsächlich hatte er an jeder größeren OSM-Operation des letzten Jahrzehnts teilgenommen, darunter an einigen paramilitärischen Einsätzen, bei denen er wieder bewaffnet im Feld gestanden und für das Leben von Menschen gekämpft hatte, indem er das Leben anderer Menschen auslöschte. Nur um Haaresbreite entging er dem Fiasko, auf den Status eines Mitarbeiters der Kategorie Kennen wir nicht abzurutschen. Anschließend hatte er sechs Jahre im Nahen Osten verbracht und Dinge getan, die er niemals schriftlich festzuhalten gedachte und die zu vergessen er sich seither alle Mühe gab.
Als seine Frau an Hirnblutung starb, war er wieder einmal Tausende von Kilometern fern der Heimat gewesen. Gerade noch rechtzeitig war er zur Beisetzung eingetroffen, um der einzigen Frau, die er je geliebt hatte, ein hastiges Lebwohl zu sagen. Er hatte bis zum heutigen Tag das Gefühl, sie betrogen zu haben.
Vierundzwanzig Stunden nach dem Begräbnis war er wieder im Irak gewesen, um weiter zu erraten, wo der nächste Selbstmordanschlag stattfand, und um die Feinde von gestern mit gutem amerikanischem Bargeld zu bestechen, damit sie Extremisten töteten statt US-Soldaten.
Als schließlich das Geld zerrann, wusste Knox, dass es an der Zeit war, sich aus dieser Weltgegend zu verabschieden. Er hatte sich in sein sicheres Quartier in der Grünen Zone zurückgezogen und in der Privatsphäre seiner Albträume nachträglich die Liebe seines Lebens beweint.
Bereits während des letzten Jahres hatte Knox erwogen, sich zur Ruhe zu setzen, sobald es ihm gelungen war, sich auf dem Dienstweg aus dem Nahen Osten freizuquatschen, wo kein Moslem einem Mann über den Weg traute, der helle Haut besaß und an die höchste Heiligkeit Jesu Christi glaubte. Er hatte, sagte er sich damals, lange genug Dienst getan, sodass er zu seinen Bedingungen ausscheiden könne. Und tatsächlich hatte er sich im Kurzurlaub befunden, als Hayes anrief.
Und nun sehe sich einer das mal an. Dieselbe alte Frage erhob abermals ihr hässliches Haupt: Werde ich noch den morgigen Sonnenaufgang erleben?
Knox ging in die Küche, warf den Schlüssel auf die Arbeitsfläche, öffnete den Kühlschrank und riss eine Dose Bier auf. Dann setzte er sich in sein kleines Arbeitszimmer und stellte Überlegungen zu allem an, was er wusste und nicht wusste; leider waren seine Erkenntnislücken beträchtlich größer als sein Wissen. Er zog die beiden Blätter aus der Tasche, denn er hatte den zweiseitigen Befehl mit Macklin Hayes’ Unterschrift klammheimlich eingesteckt. Wahrscheinlich war es ein Vergehen, ein regierungseigenes Dokument zu stehlen, aber das kümmerte Knox nicht mehr.
Er betrachtete Hayes’ säuberliche Unterschrift.
Was haben Sie sich dabei gedacht, General, als Sie diesen Befehl unterzeichneten?
Jetzt hatte er eine Verbindung zwischen Hayes und Carr entdeckt. Sie veränderte die Dynamik seines Auftrags, nur durchschaute Knox noch nicht, in welcher Hinsicht. Eines jedoch war klar geworden: Die Begründung des Auftrags, Carr aufzuspüren, hatte gelautet, der einstige Drei-Sechser wüsste Geheimnisse, durch die die US-Regierung in Verlegenheit geraten könne – oder wenigstens die CIA. Hayes zufolge sollte auch Carter Gray sich deswegen Sorgen gemacht haben. Und deshalb hätte er es auf Carr abgesehen gehabt, doch offenbar sei Carr ihm zuvorgekommen.
Diese Behauptungen stufte Knox als widersinnig ein. Carr hatte sich in Grays Villa aufgehalten, und zwar an dem Abend, als sie in die Luft flog. Deshalb hatte er ohne Zweifel gewusst, wo Gray wohnte. Obendrein hatte Carr in den letzten dreißig Jahren Stillschweigen gewahrt. Warum also hätten Gray, Hayes und die CIA sich sorgen sollen, dass der Mann plötzlich doch den Mund aufmachte?
Es mochte sein, dass Gray sich aus irgendeinem Grund mit Carr angelegt hatte, jedoch nicht in der Absicht, ihn zu töten. Weshalb die Anordnung, das Grab zu öffnen? Hatte er damit bezweckt, Carr aufzuscheuchen? Ihn in die Flucht zu jagen? Aber weshalb? Knox hegte den Verdacht, dass die Antwort in der Tabuzone verborgen lag, in die seinen Blick zu lenken man ihm untersagt hatte. Doch untersagt hatte man ihm schon manches. Dennoch war er seinen Weg gegangen.
Und Hayes hatte ebenso einen starken Beweggrund, Carr abservieren zu wollen. All die Jahre lang musste er geglaubt haben, Carr sei tot. Als man das Grab öffnete, hatte er sich noch auf der sicheren Seite gewähnt. Und dann lag keine Leiche im Sarg! In all den Jahren war Hayes sich keiner Gefahr bewusst gewesen. Jetzt sah er eine Gefahr, und er benutzte Knox, um das Problem beseitigen zu lassen.
Und was genau mochte sich im Capitol-Besucherzentrum abgespielt haben? Hatte Carr wirklich so viele Menschen getötet? Wenn ja, warum? Hatten sie ihn umzubringen versucht? Knox erinnerte sich, in den Akten etwas darüber gelesen zu haben, dass jemand ehemalige Drei-Sechser liquidiert hatte. Konnte auch Carr auf der Todesliste gestanden haben? Waren die Männer aus irgendeinem Grund mit seiner Beseitigung betraut worden?
Das war ein Teil des Rätsels, mit dessen Lösung zu befassen man Knox verboten hatte. Es würde sich zeigen, ob er sich daran hielt.
Und wenn Carr irgendetwas gegen Hayes in der Hand hatte? Private Geheimnisse? Das war zu überprüfen und konnte von Interesse sein – und sei es nur zu dem Zweck, sich notfalls den Rücken zu decken. Aber er durfte sich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen. Falls Hayes es merkte …
Während Knox nachdachte, hatte er das Radio in seinem Arbeitszimmer eingeschaltet; nun erregten die Nachrichten seine Aufmerksamkeit. Die Behörden wüssten, wer der Mörder sei, hieß es, und man stünde kurz vor seiner Festnahme. Sämtliche Fluchtwege seien dem Killer versperrt.
Zum Teufel, was soll denn das?
Knox rief Hayes an. Nach dem zweiten Klingeln meldete sich der General.
»Ich habe gerade die Nachrichten gehört«, sagte Knox. »Ich dachte, die anderen Dienste würden aus der Sache herausgehalten. Wenn mir eine FBI-Meute im Nacken sitzt, wüsste ich gern darüber Bescheid.«
»Keine Sorge, Knox, ich habe diese Meldung lanciert. Ein Mann wie Carr wird vermutlich die Nachrichten verfolgen. Ich möchte, dass er glaubt, in der Falle zu sitzen. Wer sich in die Enge getrieben glaubt, macht Dummheiten. Dann schlagen wir zu. Ich will Ihnen bloß die Arbeit erleichtern.« Hayes beendete das Telefonat.
»Einen Scheiß willst du«, sagte Knox in den Apparat. Das Schnarren des Telefons lenkte seine Gedanken von dem ab, was Hayes eben gesagt hatte. Die Nummer des Anrufers kannte Knox nicht. »Hallo?«
»Mr. Knox, hier ist Susan Hunter. Ich würde gern mit Ihnen sprechen. Über Oliver.«
Knox straffte sich. »Können wir das am Telefon erledigen?«
»Nein. Man weiß nie, wer zuhört.«
Dem konnte Knox nicht widersprechen. Wahrscheinlich lauschte tatsächlich jemand.
»Ich verstehe. Wann sollen wir uns treffen?«
»Sofort.«