KAPITEL 36

Stone hatte sich wieder zu Abby gesetzt, als Tyree in die Notaufnahme kam.

»Wie geht es Danny?«, erkundigte er sich, als er die beiden sah.

»Der Arzt war gerade da und hat uns versichert, dass die Röntgenaufnahmen keinen Grund zur Sorge geben«, antwortete Abby mit zittriger Stimme. »Wie es aussieht, liegen keine inneren Blutungen vor.«

Tyree kniete sich vor sie hin und ergriff ihre Hand. »Gott sei Dank. Hast du noch einmal mit ihm gesprochen?«

»Nein.«

Tyree blickte Stone an. »Anscheinend sind Sie immer zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Erst Willie, jetzt Danny.«

»Haben Sie Hinweise auf die Täter?«

»Ich hoffe, Danny kann sie mir geben, sodass ich die Ermittlungen verkürzen kann. Wann kann ich mit ihm reden?«

Stone wies auf einen Mann in weißem Kittel. »Da ist der Arzt.«

Während Tyree mit dem Arzt sprach, wandte Stone sich an Abby. »Soll ich Sie nach Hause fahren?«

»Nein. Ich bleibe hier. Zu Hause würde ich nur krank vor Sorge.«

»Dann bleibe ich auch.«

»Sie haben schon genug getan, Ben. Sie haben Danny das Leben gerettet. Zwei Mal sogar. Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll.«

»Abby, vorhin habe ich mich ein paar Minuten mit Willie unterhalten. Er sagte, dass Danny ihn gestern besucht und vorgeschlagen hat, er und Willie könnten Divine zusammen verlassen und in den Westen gehen.«

»Hat Willie irgendeinen Verdacht, warum jemand Danny etwas antun will?«

»Nein, aber ich habe ihn nach Debby Randolph gefragt. Sie und Danny hätten an der Highschool das eine oder andere Rendezvous gehabt, sagte er, aber es sei nichts Ernstes gewesen.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob Danny in einem Mädchen überhaupt etwas Ernsthaftes sieht. Für ihn ist alles nur Spiel und Spaß.«

»Willie bezweifelt allerdings, dass Debby tatsächlich Selbstmord begangen hat. Er hatte sie gefragt, ob sie ihn heiraten wolle, und sie hatte Ja gesagt. Zuletzt hat er an dem Abend vor ihrem Tod mit ihr gesprochen, gegen dreiundzwanzig Uhr. Er sagt, sie sei bester Laune gewesen.«

»Ich wusste gar nicht, dass er sie heiraten wollte.«

»Sie hatten vereinbart, es vorerst geheim zu halten. Und jetzt liegt Willie wegen der Überdosis an einer Droge, die er unfreiwillig genommen hat, in der Klinik, Debby soll sich ohne jeden Grund umgebracht haben, und Danny wurde beinahe totgeschlagen. Da muss es doch irgendeinen Zusammenhang geben.«

»Ich kann keinen erkennen.«

»Willie hat erwähnt, dass sein Vater versehentlich von Rory Peterson erschossen wurde.«

»Das ist über zwei Jahre her.«

»Trotzdem könnte es von Bedeutung sein.«

»Könnten wir mal nach draußen gehen? Ich brauche ein bisschen frische Luft.«

Als sie ins Freie traten, war am Nachthimmel das Whupp-whupp einer Flugmaschine zu hören. Stone blickte nach oben. »Ein Hubschrauber?«

Abby nickte und schaute ebenfalls zum Himmel. »Er fliegt zum Dead Rock. Ein Häftlingstransport.«

»Warum transportiert man die Häftlinge nicht im Bus?«

»Die meisten Gefangenen kommen von weit her, häufig aus städtischen Ballungszentren. In unserer Gegend sind die Straßen ziemlich schlecht, und viele Stellen eignen sich für einen Hinterhalt. In hundert Meter Höhe dagegen ist es schwierig, einen Komplizen vor der Einlieferung in den Knast zu bewahren.«

»Leuchtet mir ein.«

Abby trat nahe vor Stone hin. »Was haben Sie eigentlich auf der Straße gemacht, als Sie Danny gesehen haben?«

Stones Blick streifte Willies Dodge, auf dessen Ladefläche noch sein Kleidersack lag. »Ich wollte den Ort verlassen«, gestand er ein wenig verlegen.

»So? Hat das zufällig etwas damit zu tun, dass Trimble einen Zeitungsbericht über Sie schreiben wollte?«

Stone gab sich alle Mühe, den Überraschten zu spielen. »Wovon reden Sie?«

»Danny hat mir erzählt, Sie hätten ihn begleitet, weil in der Ortschaft, wo Sie beide aus dem Zug gestiegen sind, in der Nähe ein Streifenwagen patrouilliert ist.«

»Da hat er sich getäuscht.«

»Falls Sie in Schwierigkeiten stecken …«

»Ich bin nicht in Schwierigkeiten, Abby.«

»Falls aber doch, helfe ich Ihnen.«

»Warum? Sie kennen mich doch kaum.«

»Sie haben meinen Sohn gerettet. Und obwohl ich es nicht erklären kann, habe ich das Gefühl, als würde ich Sie schon mein Leben lang kennen.«

Stone senkte den Blick und stippte die Schuhspitze auf den Gehweg. »Das ist nett von Ihnen, Abby.«

»Aber Sie gehen trotzdem?«

Stone schaute sie an. »Das habe ich nicht gesagt.«

»Aber auch nicht das Gegenteil. Jeder Mensch hat seine eigenen Probleme. Es gibt für Sie keine Verpflichtung, hierzubleiben und uns behilflich zu sein. Unsere Konflikte sind nun wirklich nicht Ihr Problem.«

»Warum ziehen Sie nicht aus Divine weg? Sie haben doch Geld genug.«

»Ich und meine Heimat verlassen? Nein, so bin ich nicht beschaffen.«

»Aber Danny ist gegangen.«

»Nicht auf eigenen Wunsch. Ich habe ihn dazu gedrängt.«

»Was?«, fragte Stone verwundert. »Warum denn?«

»Welche Aussichten hat er denn in diesem Kaff? Soll er im Bergwerk schuften oder als Wärter im Knast?«

»Ist das die ganze Begründung? Oder spielen auch die merkwürdigen Ereignisse eine Rolle, die Sie angedeutet haben?«

»Nichts davon ist Ihr Problem, Ben. Wenn Sie weiterziehen müssen, ziehen Sie weiter.« Abby zögerte. Stone hatte den Eindruck, sie wollte noch etwas hinzufügen; dann aber sagte sie lediglich: »Ich schaue noch mal nach Danny. Und ich sehe auch bei Willie vorbei.«

Damit ließ sie ihn stehen. Stone setzte sich auf eine niedrige Ziegelmauer. Eine Stunde später saß er immer noch da und versuchte sich darüber klar zu werden, was er tun sollte.

Irgendwann sah Stone die Bergwerksmannschaft vorfahren, die sich den Methadoncocktail abholte. Er warf einen Blick auf die Armbanduhr: Es war noch nicht einmal fünf Uhr morgens. Er beobachtete, wie die knochendürren Männer aus den Fahrzeugen stiegen und in die Klinik schlurften, bevor sie zwölf Stunden in den höllischen Gruben schuften, ihre Knochen hinhalten mussten und ihre Gesundheit ruinierten. Naturgemäß verursachte diese Plackerei ihnen neue Beschwerden, die sie dann von neuem mit Schmerzmitteln bekämpften – ein Teufelskreis, aus dem es kaum ein Entrinnen gab.

Und alles, damit in diesem Land nicht das Licht ausgeht.

Ein paar Minuten später sah Stone die zombieäugigen Männer in ihren staubigen Chevys und Fords abfahren.

In Zukunft benutze ich Kerzen und koche mein Essen auf offenem Feuer.

Er hockte noch immer auf der Mauer, als Tyree herauskam und erzählte, Danny habe sich geweigert, die Täter zu nennen.

»Sheriff, ich glaube, ich bin einem der Männer schon vorher begegnet. Aber ich kann mich einfach nicht erinnern, wo das war.«

»Rufen Sie mich an, sobald es Ihnen einfällt.«

Ungefähr eine Stunde nachdem Tyree sich verabschiedet hatte, kam Abby in gebeugter Haltung und mit übermüdeten Augen aus dem Krankenhaus.

»Danny wird wieder gesund«, sagte sie. »Er wird gerade in ein Zimmer gebracht. Ich glaube, es ist gleich neben Willies Zimmer.«

»Großartig, Abby.«

»Er hat gesagt, Sie hätten diesen Kerlen eine schlimme Abreibung verpasst.«

»Ich hatte bloß Glück.«

»Einmal kann man vielleicht Glück haben. Aber zweimal? Das glaube ich nicht.«

»Nun ja, ich habe in der Army einiges gelernt. Soll ich Sie jetzt nach Hause fahren?«

»Nein, fahren Sie mir hinterher. Ich mache uns Frühstück.«

»Sie sind die ganze Nacht wach gewesen, Abby. Das muss nicht sein.«

»Kommen Sie einfach mit. Es sei denn, Sie wollen Divine noch diese Nacht verlassen.«

Sie blickten sich an. »Ich bleibe«, sagte Stone schließlich. »Vorerst.«

Camel Club 04 - Die Jäger
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