KAPITEL 56
Am späten Abend stemmte Stone sich im Krankenbett hoch und starrte eine Zeitlang an die Wand. Schließlich schaute er auf die Armbanduhr, öffnete die Nachttischschublade neben dem Bett und nahm Dannys Handy heraus. Erst rief er Abby an, dann Tyree. Abby war noch im Restaurant beschäftigt. Tyree war unterwegs, um sich Lonnie Bruback vorzuknöpfen, der jedoch, wie der Sheriff sagte, unauffindbar blieb. In den Trümmern von Willies Wohnmobil, erzählte Tyree, waren lediglich zwei zerfetzte Propangasflaschen und die Überbleibsel eines Gaskochers entdeckt worden.
»Ich habe eine Abteilung Sprengstoffexperten der Staatspolizei Virginia hergebeten, damit sie den Explosionsort untersuchen. Ich weiß, Sie hören es ungern, aber es kann sein, dass es wirklich bloß ein Unfall war. Willie war nicht da. Vielleicht war eine Gasflasche leck, und dann hat Bob sich eine Zigarette angezündet, gerade als Willie zur Tür hereinkam, und schon machte es bum.«
»Wäre eine Propangasflasche leck gewesen, hätte es vorher schon knallen müssen. Ich bin dort Shirley begegnet, wie ich bereits sagte, und sie hat eine Zigarette geraucht. Und man sollte doch meinen, Bob hätte das Gas gerochen. Um die Benutzer zu warnen, werden dem Gas ja scharf riechende Zusätze beigemischt.«
»Ich weiß«, lautete Tyrees Antwort. »Aber warum sollte jemand so sehr daran interessiert sein, Willie zu beseitigen? Erst mit einer Überdosis, dann mit einer Bombe?«
»Willie wusste, dass Debby keinen Selbstmord begangen hatte. Er hätte gestänkert, bis die Wahrheit ans Tageslicht kommt. Und das scheint jemandem missfallen zu haben.«
»Aber jetzt, nachdem man Willie ermordet hat«, wandte Tyree ein, »wissen wir doch erst recht, dass hier etwas oberfaul ist.«
»Diese Leute sind äußerst verschlagen, und wir haben keine Beweise für ein Verbrechen. Aus ihrer Sicht ist die Situation also günstiger geworden.«
»Hmm … Was mich betrifft, ich werde weder ruhen noch rasten, bis ich alles aufgeklärt habe.«
»Aber bis dahin muss jeder von uns auf sich Acht geben, und das gilt auch für Sie, Tyree.«
»Ist schon klar.«
Stone trennte die Verbindung und betrachtete das Handy. Danny benutzte ein modernes Verizon-Handy mit sämtlichen Schikanen, einschließlich E-Mail. Stone rollte das Rufnummernverzeichnis ab. Überwiegend waren Frauennamen gespeichert. Danny hatte den Einträgen sogar Bemerkungen über die Vorzüge der jeweiligen Dame hinzugefügt und sie ausnahmslos durch Digitalfotos verdeutlicht. Einige der Bilder konnten durchaus – jedenfalls nach Stones Urteil – als Pornografie gelten.
Stone schüttelte den Kopf. Danny wäre gut beraten, bei der Auswahl seiner Frauenbekanntschaften auf höheres Niveau zu achten.
Stone schaute zum Fenster hinaus. Inzwischen war es dunkel geworden. Langsam stieg er aus dem Bett. Er fühlte sich ziemlich steif und lahm, aber nachdem er sich eine Zeitlang bewegt hatte, wurde es besser. Sein Gesäß war vom stundenlangen Liegen in dem verdammten Bett schon taub.
Er verließ das Zimmer und suchte das Schwesternzimmer auf. Dort bekam er zwar einen Rüffel, weil er sein Bett verlassen hatte, aber auf Befragen wies man ihm schließlich auch die Richtung zu Dannys Zimmer.
Stone durchmaß den Korridor und sah vor Dannys Zimmer jemanden sitzen. Als Stone näher trat, stand der Mann auf. »Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?«
»Sind Sie der Deputy, den Tyree mit Dannys Personenschutz beauftragt hat?«
»Stimmt genau. Moment mal, Sie sind doch Ben, sein Retter, oder nicht?«
»Ja. Darf ich zu Danny rein?«
»Da er Ihnen sein Leben verdankt, klar, nur zu.«
Als Stone den Kopf ins Zimmer steckte, saß Danny aufrecht im Bett; er hatte aufgequollene Augen und ein gerötetes Gesicht. »Darf ich reinkommen, Danny?«
Danny blickte Stone an. Er sagte nichts, bat ihn aber mit einer matten Handbewegung ins Zimmer. Stone rückte einen Stuhl ans Bett und setzte sich. »Es tut mir sehr leid, was mit Willie passiert ist.«
Danny hob nicht den Blick, sondern ließ ihn auf das Kissen gesenkt, das er sich über den Schoß gebreitet hatte. Als er schließlich antwortete, klang seine Stimme langsam und schleppend. Liegt wahrscheinlich an den Beruhigungsmitteln, folgerte Stone.
»Er hatte es nicht verdient, so zu sterben.«
»Niemand hat so etwas verdient.«
Danny musterte ihn missmutig. »Manche Leute doch.«
»Wahrscheinlich hast du recht. Manche Leute ja.«
»Er hat nie jemandem etwas zuleide getan, weißt du?«
»Ich weiß.«
»Und dann Bob. Ich meine, er war ein harmloser alter Knabe. Warum mussten sie auch ihn in die Luft sprengen?«
»Wer war es, Danny? Über wen reden wir?«
Danny musterte Stone. »Warum fragst du mich?«
»Warum hast du Divine verlassen?«
»Um ganz von vorn anzufangen. Das habe ich doch schon gesagt.«
»Und weshalb bist du zurückgekommen?«
»Das ist meine Sache.«
»Möchtest du mir etwas über Debby Randolph erzählen?«
»Was gibt es da zu erzählen? Debby war Willies Freundin. Er hat sie geliebt. Die beiden wollten heiraten.«
»Du hast es also gewusst?«
Danny nickte zerstreut. »Ich wusste von seinen vielen Versuchen, von den Drogen loszukommen. Die Arbeit im Bergwerk hat ihn kaputt gemacht. Er hatte schlimme Schmerzen. Und ich weiß noch, wie diese Scheiße meinen Alten zugrunde gerichtet hat. Ich wollte nicht, dass es mit Willie das gleiche Ende nimmt. Und dann kam Debby und brachte ihn auf den richtigen Weg. Verstehst du, was ich meine? Es ging ihm gut. Dann rief er mich aus heiterem Himmel an und sagte mir, er hätte beschlossen, Debby zu heiraten. Er hat mich nach meiner Meinung gefragt. Einerseits wollte ich sagen: Nein, Mann, lass die Finger davon, wir sind noch zu jung. Wir müssen noch was erleben, müssen noch mit anderen Mädchen in die Kiste. Aber im tiefsten Innern war ich neidisch, Mann. Ich konnte zwar meine fleischlichen Gelüste stillen, aber er hatte eine Frau, die ihn liebte.«
»Und was hast du ihm geraten?«
»Dass er sie heiraten soll. Ich kannte Debby. Sie war ein prächtiges Mädel. Genau richtig für Willie. Er hat mich gebeten, Trauzeuge zu sein.«
»Hört sich an, als hättet ihr eure Differenzen beigelegt, du und Willie.«
»Wir hatten nie ernste Differenzen. Im Grunde waren es bloß alberne Reibereien.«
Danny verstummte. Stone lehnte sich in den Stuhl und betrachtete Danny eine Weile, während es draußen stockfinster wurde. »Ich habe gesehen, dass du auf Debbys Grab geweint hast«, sagte er schließlich. »Möchtest du mir etwas darüber erzählen?«
Ruckartig hob Danny den Kopf. »Da gibt’s nichts zu erzählen. Ich war traurig, weil sie tot ist. Und weil ich wusste, dass ihr Tod Willie fertiggemacht hatte.«
»Du weißt auch, wer sie ermordet hat, nicht wahr?«
»In diesem Fall hätte Tyree es doch längst mitgeteilt, oder?«
»Wirklich?«
»Ich bin müde, Mann. Ich möchte schlafen.«
»Bist du sicher, dass du mir nichts zu sagen hast?«
»So wahr ich hier liege und nichts tue.«
Stone kehrte in sein Krankenzimmer zurück, legte sich aber nicht ins Bett. Irgendetwas beschäftigte ihn; etwas, das er gesehen oder gehört hatte. Oder vielleicht beides. Etwas, auf das er sich partout keinen Reim machen konnte.
Nachdenklich nahm er sich nochmals Dannys Handy vor. Er sah ein zweites Mal das Rufnummernverzeichnis durch, um vielleicht jemanden zu finden, der ihm einen Hinweis geben oder sogar erklären könnte, weshalb Danny sich weigerte, etwas Konkretes über die Geschehnisse zu erzählen. Doch keiner der aufgelisteten Namen gab ihm einen Grund zur Hoffnung.
Stone drückte weitere Tasten und erforschte die Inhalte des Handyspeichers genauer. Plötzlich erschien auf dem Display ein einzelner Name plus Rufnummer. Tyree. Aber die Rufnummer stimmte nicht mit der Nummer des Sheriffs überein, die Stone kannte. Er tippte sie ein. Nach mehrmaligem Rufton meldete sich eine Stimme. »Danny?«, fragte der Mann.
Sofort trennte Stone die Verbindung. Tatsächlich erreichte man unter der Rufnummer Tyree. Stone hatte seine Stimme erkannt. Warum hatte Danny im Handy unter dem Namen des Gesetzeshüters eine zweite Rufnummer an versteckter Stelle abgespeichert? Und wenn es eine Geheimnummer war, warum hatte er sie sich nicht einfach gemerkt? Warum hatte er sie so gespeichert, dass selbst jemand wie Stone sie leicht finden konnte?
Wieder warf Stone einen Blick auf die reguläre Liste. Es standen auch die Telefonnummern von Abbys Haus und vom Restaurant darauf, also Nummern, die Danny längst auswendig kennen müsste. Spontan rief er Abby an und schilderte ihr seine Unterhaltung mit Danny, ließ die Entdeckung einer zweiten Rufnummer Tyrees auf dem Handy ihres Sohnes jedoch unerwähnt.
»Macht es Danny Schwierigkeiten, sich Zahlen zu merken, Abby?«
»Schon seit der Highschool. Die Ärzte meinten, die vielen Gehirnerschütterungen, die er beim Footballspielen erlitten hat, wären schuld daran. Ich habe Willie schon früh geraten, mit diesem Sport aufzuhören, aber seine Begeisterung war einfach zu groß. Er war am Boden zerstört, als er wegen seines Knies nicht für die Virginia Tech spielen durfte. Warum willst du das wissen?«
»Ach, nur so. Ich sitze hier rum und muss die Zeit totschlagen. Danke.«
Als Stone das Gespräch beendete, hörte er ein Rumpeln draußen auf dem Flur. Er schaute gerade noch rechtzeitig hinaus, um einen Pfleger einen Wagen voller Kartons vorbeischieben zu sehen.
Dieser im Grunde alltägliche Anblick löste bei Stone eine außergewöhnliche Reaktion aus: Mit einem Mal fiel ihm der Groschen von ganz allein.
Sechzig, nicht achtzig Kartons. Schwarzer Staub statt der normalen rötlichen Erde. Und Bergleute, die den Ort verlassen, um ihre Methadoncocktails abzuholen, lange bevor der Morgen graut.
Zwar erregte es den Eindruck einer plötzlichen Eingebung, aber Stone wusste, dass es sich keineswegs so verhielt. Unbewusst waren diese Beobachtungen schon länger durch seinen Verstand gestrudelt, ohne ein Ganzes zu bilden. Jetzt aber war es endlich an die Oberfläche gedrungen.
Er nahm Abbys Tasche aus dem Schrank und zog sich rasch frische Kleidung an. »Komm schon, du musst doch da sein, ich brauche dich«, murmelte er vor sich hin, als er die Tasche gründlicher durchsuchte. Er erinnerte sich genau daran, sie in die Tasche gesteckt zu haben.
Schließlich umschloss seine Hand die Pistole, die Abby ihm geliehen hatte. Er schob die Waffe in den Hosenbund und kaschierte die Ausbeulung mit einem Hemdzipfel. Gleich darauf lugte er um den Türrahmen. Als er das Schwesternzimmer unbesetzt sah, eilte er über den Flur davon. Wenn zu später Stunde die Krankenschwester kam, um ihm seine Medikamente zu geben, würde sie das Zimmer leer vorfinden.
Er wusste nicht, dass den Schwestern die gleiche Entdeckung in Dannys Zimmer bevorstand, denn eine Stunde zuvor hatte Danny seinen Aufpasser ausgetrickst und war aus der Klinik entwichen.