KAPITEL 49

Zum ersten Mal seit langem war Joe Knox guten Mutes. Er hatte die Verfolger abgehängt und durfte sich erleichtert wieder seiner eigentlichen Aufgabe widmen. Er schaute auf die Landkarte, die auf dem Beifahrersitz lag. Der Mitarbeiter der Buslinie hatte ihm den Weg zu der Haltestelle, wo Carr und sein Begleiter aus dem Bus gestiegen waren, ziemlich genau beschrieben. Im Kopf überschlug Knox die Entfernung. Wahrscheinlich war es bis dahin noch ungefähr eine Stunde Fahrt.

Als er dort eintraf, verlangsamte er den Wagen und ließ den Blick schweifen. Hier war man wirklich mitten im Nirgendwo. Knox drückte eine Taste des Navigationssystems, und der Bildschirm zeigte mehrere Ortschaften in näherem Umkreis an. »Tazburg, Mise, Divine, South Ridge …«, las Knox die Ortsnamen ab. Sie lagen in verschiedenen Richtungen. Wohin sollte er fahren? Und wenn er dort war, was sollte er tun? Im letzten Kaff hatte er unerfreuliche Erlebnisse gehabt. Er beschloss, auf keinen Fall wieder mit seinen Dienstausweisen zu fuchteln. Als Fremdem begegnete man ihm ohnehin mit Argwohn. Falls Carr sich in einer dieser Ortschaften aufhielt, hatte er sich möglicherweise schon mit den Einwohnern verbrüdert. Knox sah die Gefahr, sich in etwas hineinzureiten, das er später bereute.

Außerdem hatte der Busfahrer einen jungen Begleiter Carrs erwähnt. Stammte er aus einem dieser Orte? Falls ja, hatte er dem Busfahrer nicht gesagt, aus welchem.

Knox fuhr an den Straßenrand, ließ den Motor laufen und starrte auf das Navigationsgerät. Er seufzte. Bisweilen mussten auch Geheimagenten es sich mit ihren Entscheidungen einfach machen.

Er schloss die Lider und tippte mit dem Finger auf das Gerät. Als er die Augen öffnete und den Finger fortnahm, stand sein Zielort fest. Die Wahrscheinlichkeit für einen Volltreffer lag bei fünfundzwanzig Prozent.

Tazburg, Virginia, ich komme.

Knox legte den Gang ein und fuhr zurück auf die Straße.

* * *

Während Joe Knox einen seltenen Moment der Zuversicht erlebte, drosch Annabelle erbittert die Hände aufs Lenkrad. Eine Zeitlang hatte sie ununterbrochen die Gegend abgefahren und versucht, wieder Knox’ Fährte aufzunehmen, doch nachdem sie dieselbe Tankstelle zum dritten Mal passiert hatten, war sie auf den Parkplatz abgebogen. Dort standen sie jetzt, während Annabelle grimmig einen Hund beobachtete, der sich neben der Standluftpumpe sonnte, jedoch alle paar Sekunden aufstand, um an seinen Geschlechtsteilen zu lecken.

»Wir kommen nicht weiter, was?«, meinte Caleb.

»Ach ja?«, gab Annabelle schroff zur Antwort.

»Hast du einen neuen Einfall?«

Übellaunig sah sie ihn an. »Warum muss immer ich die guten Einfälle haben, Mr. Kongressbibliothekar?«

»Ich frage nur«, erklärte Caleb sachlich, »weil mir zufällig was durch den Kopf geht. Eine Idee, meine ich.« Annabelle trommelte mit den Fingern auf dem Lenkrad und blickte ihn erwartungsvoll an. »Möchtest du sie hören?«, fragte Caleb gereizt.

»Ja!«, fuhr Annabelle ihn an.

»Ich lasse mich nicht gerne anschreien.«

Sie beugte sich zu ihm hinüber. »Soll ich dich lieber aus dieser Rostlaube werfen?«

Caleb legte eine Hand auf den Türgriff und schien das Weite suchen zu wollen. »Wie wär’s, wenn ich dir ganz einfach meine Idee erkläre?«

Annabelle packte das Lenkrad mit solcher Gewalt, dass ihre Unterarme bebten. »Darüber wäre ich sehr erfreut«, zischte sie durch die zusammengebissenen Zähne.

»Siehst du? Höflichkeit ist doch gar nicht so schwer!«

Sie warf Caleb einen dermaßen finsteren Blick zu, dass er hastig zur Sache kam. »Also, wir kehren in den Ort um, wo man statt Mahlzeiten Cholesterinbomben serviert. Du gehst zum Busbahnhof, tischst den Leuten deinen üblichen Blödsinn auf, zeigst vielleicht ein bisschen Bein, kaufst einen Busfahrschein und lässt dich vom Fahrer genau zu der Stelle befördern, wo Oliver ausgestiegen ist. Vielleicht hat der Mann ja sogar mitgekriegt, wohin Oliver wollte. Ich folge dem Bus mit dem Lieferwagen und nehme dich dort wieder an Bord, und wir fangen von vorn an. Dadurch gelangen wir zumindest in die ungefähre Umgebung, in der Oliver zuletzt gesehen wurde. Na, was hältst du davon?«

Annabelle musste gestehen, dass der Vorschlag einen ganz tauglichen Eindruck machte. Sie legte den Gang ein, fuhr auf die Landstraße und zurück zu der bewussten Ortschaft.

Calebs Handy summte. Der Anrufer war Reuben. Er und Caleb redeten ein paar Minuten lang; dann beendeten sie das Gespräch.

»Und?«, fragte Annabelle.

»Er ist ungefähr zwei Stunden Fahrtzeit hinter uns, sagt er. Wie du gehört hast, habe ich ihn in unser Vorhaben eingeweiht. Er stößt in der Cholesterinhöhle zu uns.«

»Gut.«

»Du findest meinen Einfall also nützlich?«

»Ich richte mich danach«, sagte sie unwirsch, »also muss er ja wohl etwas taugen.«

»Annabelle, darf ich dir etwas Persönliches sagen?«

Sie atmete tief durch. »Ja, bitte.«

»Du solltest endlich etwas unternehmen, um dir deine Wutanfälle abzugewöhnen.«

Annabelle musterte ihn ungläubig. »Ich sitze schon so lange in diesem Auto, dass ich mich gar nicht mehr daran erinnern kann, wann ich mal nicht in dieser Karre gesessen habe. Ich bin müde, ich bin verschmuddelt, ich mache mir Sorgen und bin enttäuscht. Verstehst du? Ich habe keine Wutanfälle.«

Caleb lächelte verständnisvoll. »Das war ein ausgezeichneter erster Schritt, um deinen Gefühlen freien Lauf zu lassen. Nur auf diese Weise kannst du Fortschritte erzielen.«

»Darf ich dir noch ein anderes Gefühl anvertrauen?«, fragte Annabelle.

»Sicher.«

»Entweder du wirst wieder zum amüsanten Testosteron-Caleb, den ich kenne, oder du kannst deinen Arsch zu Fuß nach Washington zurückschleppen.«

Wie nicht anders zu erwarten, verlief der Rest der Fahrt in eisigem Schweigen.

Camel Club 04 - Die Jäger
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