KAPITEL 61
An Metallstühle gekettet, die im Steinboden verschraubt waren, saßen Stone und Knox in einem fensterlosen Betonverschlag mit grau gestrichenen Wänden. Viele Stunden saßen sie da schon, und es war dermaßen kalt, dass beide zitterten. Sie erschraken, als krachend die Tür aufflog und eine Gruppe von fünf massigen Männern eintrat. Sie trugen blaue Uniformen und waren mit Pistolen bewaffnet; an den breiten Gürteln baumelten Schlagstöcke. Die Muskelpakete bildeten hinter den zwei Gefangenen einen Halbkreis und verschränkten die Arme vor der Brust.
Stone und Knox waren von dieser Truppe dermaßen beeindruckt, dass sie den sechsten Mann erst hörten, als er die Tür hinter sich schloss. Als Stone den letzten Ankömmling sah, zuckte er zusammen.
Es war Tyree. Und doch nicht Tyree. Jedenfalls nicht Lincoln Tyree. Dieser Mann war eine kleinere, stämmigere Ausgabe des Sheriffs.
Stone begriff sofort, dass er Howard Tyree vor sich hatte, Lincolns älteren Bruder, den Gefängnisdirektor. Er trug ein marineblaues Polohemd, eine gebügelte Khakihose und befranste Schuhe; auf der Nase des sorgsam rasierten Gesichts saß eine Drahtgestellbrille. Er wirkte nicht wie der grimmige Oberwachhund eines Hochsicherheitsgefängnisses, eher wie ein Versicherungsvertreter am Golfwochenende.
»Guten Morgen, Gentlemen«, sagte er.
Bei dieser Begrüßung schwand Stone der Mut. Genau diese Stimme hatte er gehört, als er mit Dannys Handy die unbekannte, unter dem Namen Tyree gespeicherte Telefonnummer angerufen hatte. Howard Tyree und der Sheriff hatten fast die gleiche Stimme.
Scheißkerl.
Als Tyree eintrat, hatten die anderen Männer Haltung angenommen. Nun setzte er sich Stone und Knox gegenüber an einen kleinen Tisch. Der Direktor hielt eine Akte in der Hand. Er klappte sie auf und las darin.
Nach vielleicht einer Minute nahm er die Brille ab und richtete den Blick auf Stone. »Anthony Butcher, dreifacher Mörder, der das Glück hat, seine Verbrechen in einem Bundesstaat verübt zu haben, in dem man die Todesstrafe nicht zu schätzen weiß. Deshalb sind Sie statt zur wohlverdienten Hinrichtung zu lebenslanger Haft ohne Aussicht auf vorzeitige Entlassung verurteilt worden. Während der letzten zwölf Jahre sind Sie aus vier verschiedenen Gefängnissen verlegt worden, darunter aus der Hochsicherheitsstrafanstalt in Arkansas, weil Sie zu gewalttätigen Wutausbrüchen neigen.« Er senkte den Blick wieder in die Akte. »Und Sie haben Probleme, Autoritäten zu respektieren.«
Stone blickte Knox an, dann Tyree. Er konnte die Wut über das, was man hier mit ihnen trieb, nicht mehr unterdrücken. Er wusste zwar, dass er besser den Mund halten sollte, brachte es aber nicht fertig. »Was kostet es, solche Fetzen zu fabrizieren, Howie? In Ihrem Beruf müssen sie doch billig zu haben sein.«
Der Direktor pochte mit dem Daumen auf den Tisch, und einer der Wärter reichte ihm einen Schlagstock, ein Handtuch und ein Stück Stretchkordel. Tyree stand auf, wickelte das Handtuch gemächlich um den Schlagstock und befestigte es mit der Stretchkordel.
Einen Augenblick später hing Stone seitwärts auf dem Stuhl. Blut rieselte ihm über das anschwellende Gesicht.
Nachdem Tyree das blutige Schlagwerkzeug auf den Tisch gelegt hatte, nahm er wieder Platz. Er zupfte ein Taschentuch aus der Hosentasche, wischte sich penibel einen verspritzten Blutfleck von der Brille und schaute dann erneut in die Akte. »Dank des Handtuchs gibt es kaum Beulen«, sagte er in sachlichem Tonfall. »So etwas ist uns hier eine Hilfe, die Ordnung aufrechtzuerhalten. Die Häftlinge haben zu viel Zeit, sich dauernd über irgendwelche Kleinigkeiten zu beschweren.« Er blätterte in der Akte und deutete schließlich auf Knox. »Sie sind Richard Prescott alias Richie Patterson aus dem schönen Bundesstaat Mississippi. Vor einundzwanzig Jahren haben Sie in Newark bei einem bewaffneten Raubüberfall zwei Menschen getötet, eine dritte Person sogar während der Haft. In New Jersey will man Sie nicht mehr haben, darum sind Sie nun für den Rest Ihres irdischen Daseins unser Gast.« Er dozierte diesen Humbug, als hielte er vor einem Auditorium gelangweilter College-Neulinge eine anspruchsvolle Vorlesung.
»Mein Name ist Joseph P. Knox von der CIA. In ungefähr vierundzwanzig Stunden wird hier ein Heer unserer Agenten über euch herfallen, und dann seid ihr Arschlöcher diejenigen, die ganz schnell in einem Hochsicherheitsknast vergammeln.«
Tyree schlug Knox dermaßen brutal mit dem Schlagstock, dass sich die Schrauben des Stuhls lösten und Knox bewusstlos auf den Steinboden fiel. Der Direktor schloss die Akte. »Stellen Sie die Penner auf die Beine.« Die Wärter befreiten Stone und Knox von den Ketten und stemmten sie hoch. Tyree musterte den besinnungslosen Knox. »Wecken Sie ihn auf, George«, befahl er. »Er soll hören, was ich zu sagen habe.«
Der Mann kippte Knox einen Eimer Wasser ins Gesicht. Er kam zu sich und prustete, spuckte Wasser und Blut. Tyree wartete, bis Knox wieder zu Atem gekommen war; dann stapfte er vor ihm und Stone auf und ab, die Hände auf dem Rücken gefaltet.
»Wir befinden uns hier im Hochsicherheitsgefängnis Blue Spruce. Es unterscheidet sich von jedem anderen Gefängnis, das Sie vielleicht schon kennen. Mein Name ist Howard W. Tyree. Ich habe die Ehre, Direktor dieser herausragenden Einrichtung zu sein. Bei uns werden Häftlinge untergebracht, denen es Probleme bereitet, sich ins Gefängnisleben zu integrieren, oder die Probleme allgemeiner Art haben. Unsere Kollegen in den anderen Gefängnissen verlegen Leute wie Sie zu uns, weil wir im Blue Spruce auf Problemlösungen spezialisiert sind. Bei uns finden keine Revolten statt, und ebenso wenig – ich halte es für überflüssig, dies zu erwähnen – kommt es zu Ausbrüchen. Wir sind hier absolut professionell. Solange Sie unsere Regeln einhalten, haben Sie keinen nachvollziehbaren Grund, um Ihr persönliches Wohlergehen zu fürchten, weder seitens der Mitgefangenen noch seitens der aufrechten Männer, die in dieser Einrichtung als Vollzugsbedienstete tätig sind.« Während Tyree redete, tropfte Stones und Knox’ Blut auf den Fußboden. Unwirsch schnippte Tyree mit den Fingern; ein Wärter schnappte sich ein Handtuch und wischte das Blut auf. »Drastische Maßnahmen werden nur ergriffen, wenn es gänzlich unumgänglich ist. Damit in dieser Hinsicht Klarheit besteht, möchte ich diese Maßnahmen beispielhaft demonstrieren.«
Er blieb stehen und wandte sich Stone und Knox direkt zu. »Wenn ein Häftling die Anweisung eines Vollzugsbediensteten nicht augenblicklich befolgt, kann und wird der Vollzugsbedienstete an dem betreffenden Gefangenen den angemessenen Grad der zur Durchsetzung erforderlichen Gewaltausübung vollstrecken.« Tyree nahm den Schlagstock eines Wärters und rammte ihn mit der Spitze in Stones Magengrube. Stone krümmte sich, erbrach das Wenige, was er im Magen hatte, und sank in sich zusammen. Gelassen sprach Tyree weiter. »Beachten Sie bitte, dass es im Blue Spruce, anders als in anderen Strafanstalten, nicht vorgeschrieben ist, Häftlingen eine Warnung zu geben, und im Regelfall wird darauf verzichtet. Ungebührliches Verhalten seitens eines Häftlings hat unverzüglich Konsequenzen. Wenn ein Häftling einen Vollzugsbediensteten auf irgendeine Weise mündlich oder durch Gebärden beleidigt, wird der Vollzugsbedienstete an dem Gefangenen den angemessenen Grad der zur Ahndung erforderlichen Gewaltausübung anwenden.«
Tyree rammte den noch benommenen Knox, schleuderte ihn auf den Steinfußboden und drückte ihm den Schlagstock auf die Kehle, bis Knox’ Gesicht blau anlief und sein Körper aus Sauerstoffmangel in Zuckungen verfiel. Dann erst stand Tyree auf und warf den Knüppel dem Wärter zu. Zwei andere Wärter zerrten den noch immer röchelnden Knox erneut auf die Beine.
»Wenn ein Häftling«, sagte Tyree und klopfte sich die Hose ab, »einem Vollzugsbediensteten körperliche Misshandlungen androht oder ihn körperlich angreift, wird der Vollzugsbedienstete ohne vorherige Warnung den zur Abwehr dieses Angriffs erforderlichen Todesschuss anbringen.« Tyree nickte einem Wärter zu, der die Pistole zog und sie dem Direktor reichte. Tyree überzeugte sich davon, dass sich ein Projektil im Lauf befand, kippte den Sicherungshebel, hob die Waffe und richtete sie auf Stones Kopf.
»Um Himmels willen!«, schrie Knox trotz seiner verquollenen Lippen. »Nicht!«
Jemand öffnete die Tür, und Wärter zerrten einen großen Schwarzen herein, dessen Gesicht blutig und geschwollen war. Seine Hände und Füße waren zusammengekettet, sodass er nur schlurfen und sich kaum bewegen konnte. Die Wärter stießen ihn gegen einen Teil der Wand, der von einem gummiartigen, zernarbten Material bedeckt war, und traten zur Seite.
»Dieser Mann hat vor knapp fünf Minuten einen Vollzugsbeamten angegriffen«, erklärte Tyree. »Der Mann war der irrigen Ansicht, es verletze seine Bürgerrechte, wegen des Zeigens seines Mittelfingers mit der Prügelstrafe belegt zu werden, nachdem einer meiner Männer einen harmlosen kleinen Scherz über die Mutter dieses Mannes gemacht hatte.« Tyree schwang die Pistole herum und schoss dem Schwarzen eine Kugel in den Kopf. Mit einer Austrittswunde im Hinterkopf brach der Getroffene zusammen. Ein Teil seines Gehirns war gemeinsam mit dem Geschoss in der Gummibeschichtung der Wand verschwunden, in der sich eine neue, große Narbe gebildet hatte. »Tja, er wurde bei einem Fluchtversuch mit Geiselnahme erschossen – ein Vorfall, den wir für etwaige Inspektionen ordnungsgemäß durch Zeugenaussagen dokumentiert haben.« Tyree gab dem Wärter die Waffe zurück und schritt wieder hin und her.
»So lauten hier die Grundregeln. Wir haben sie kurz und einfach gefasst, damit es Ihnen leichtfällt, sie sich zu merken und sich daran zu halten. Bitte beachten Sie außerdem, dass Sie hier keine Privatsphäre, keine Rechte, keine Würde und kein Anrecht auf irgendetwas haben, ausgenommen das, was wir Ihnen gewähren. Von dem Moment an, als Sie diese Strafanstalt betreten haben, waren Sie keine Menschen mehr. Wegen der Verbrechen, mit denen Sie die Menschheit geschädigt haben, sind Sie jeglichen Rechts verlustig gegangen, selbst als Menschen anerkannt zu werden. Kein Wärter wird Bedenken verspüren, Ihr Leben zu jedem beliebigen Zeitpunkt zu beenden. Sie werden nun offiziell den Gefängnisinsassen zugeteilt. Solange Sie uns keinen Ärger machen, kann ich Ihnen mit einiger Sicherheit versprechen, dass Sie Ihr Dasein bei uns relativ friedlich und unbehelligt beschließen können. Ich kann allerdings nicht voraussagen, wie lange dieses Dasein dauern wird. Von der Natur der Sache her sind Hochsicherheitsgefängnisse ein extrem gefährliches Milieu. Selbstverständlich werden wir alle zumutbaren Vorkehrungen treffen, um für Ihren Schutz zu sorgen, aber es gibt keine Garantie.« Tyree verstummte und blieb vor Knox und Stone stehen. »Willkommen in Dead Rock, Gentlemen. Ich kann Ihnen versprechen, dass Sie den Aufenthalt bei uns nicht genießen werden.«