»Ich bin ja so im Stress!« – Der eigene Beitrag zur Verletzbarkeit

Stress kann impfen gegen den Zusammenbruch. Aber er kann auch zerstören. Fürs Impfen braucht man nun mal die richtige Dosis, das ist bei allen Impfstoffen so. Es gelte, rechtzeitig die Notbremse zu ziehen, warnt deshalb die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde. Das Risiko für einen Burn-out wachse immens, wenn »der Einzelne seinem Arbeitsbereich überhöhte Bedeutung im Hinblick auf Selbstverwirklichung, Selbstbestätigung und Leistungserwartung zumisst«. Dann nehme die Arbeitszeit immer mehr zu, Familie und Freizeitgestaltung würden vernachlässigt. Am Ende laufe der mit seiner Arbeit so Verwachsene Gefahr, in eine psychische Krise zu geraten. »Umso wichtiger sind Stressmanagement und Kräftigung der inneren Ressourcen.«

An diesem Punkt ist Gert Kaluza zur Stelle. Der Psychologe vom GKM-Institut für Gesundheitspsychologie in Marburg beschäftigt sich seit Jahren mit dem Thema Stressbewältigung, gibt Kurse und hat zahlreiche Bücher geschrieben.

Sie sind schwer ans Telefon zu kriegen – Ihr Alltag scheint auch nicht gerade ohne Stress zu verlaufen?

Ich habe viel zu tun, ja. Klienten gibt es schließlich genug.

Wird das Leben der Menschen denn tatsächlich immer stressiger, wie es so oft heißt?

Da bin ich mir nicht so sicher. Im Dreißigjährigen Krieg war es wahrscheinlich auch nicht angenehmer. Aber wenn man Umfragen anschaut, dann fühlen sich die Menschen heutzutage sehr gestresst. Und es sind auch mehr geworden, die das von sich sagen.

Wenn Sie so viel darüber wissen, warum liegen Sie dann nicht längst irgendwo in der Südsee in der Hängematte?

Das Leben in der Hängematte ist ja nicht das Ziel. Es ist gewiss nicht meine Botschaft, ein anforderungsloses Leben entlang der Energienulllinie zu führen. Wichtig ist aber der gesundheitsförderliche Umgang mit der eigenen Energie. Wobei es dafür kein allgemeines Patentrezept gibt.

Warum nicht? Stress ist doch letztlich ein biologisches Phänomen.

Das ist richtig. Aber Stress wirkt sich sehr unterschiedlich auf die Menschen aus. Es handelt sich um ein sehr subjektives Empfinden. Das biologische Stressprogramm wird bei einem Menschen dann angeworfen, wenn er sich in einer Situation befindet, die ihm selbst wichtig erscheint. Es geht immer um persönliche Ideale und Motive. Und zugleich gehen alle Menschen auf sehr individuelle Art mit dem Stress um. Dass jeder seinen persönlichen Umgang damit findet, ist übrigens auch nötig. Schon deshalb kann man keine Patentrezepte formulieren.

Muss ich denn lernen, mit dem Stress umzugehen? Ich würde ihn lieber abschaffen.

An sich ist Stress ja nichts Schlechtes. Wir brauchen Stressphasen, um besser zu werden, um Neues zu erlernen und um Erfolg zu haben. Das hat unser Körper so eingerichtet. Unser biologisches Stressprogramm ist ein wichtiger Katalysator für Erfolg und Zufriedenheit. Deshalb empfehle ich jedem, zunächst einmal eine Bestandsaufnahme zu machen.

Um welchen Bestand geht es?

Sie sollten sich anschauen, wie groß die Anteile stressiger und nicht stressiger Phasen in Ihrem Leben sind. Ziel sollte es sein, ein lebendiges Gleichgewicht zwischen Stress und Entspannung zu finden. Phasen der Anforderung, des Einsatzes und des Engagements müssen sich abwechseln mit Phasen der Distanzierung, Entspannung und Erholung. Das ist lebendiges Leben! Selbst im Leistungssport ist es ja so, dass man Regenerationsphasen braucht. Der Fußball-Bundestrainer plant solche Phasen ganz gezielt ein. Vor einem großen Spiel gibt es mittags nur ein leichtes Aufwärmtraining. Und nachmittags ruhen sich die Spieler aus.

Und woran merkt man, dass das Leben aus dem Gleichgewicht gerät? Wer viel arbeitet, tut das oft gerne.

Am Anfang wird man noch mit einem Leistungsvorteil belohnt. Im Vergleich zu dem Kollegen, der pünktlich Feierabend macht, schafft man mehr, hat vielleicht in der Firma auch ein höheres Ansehen. Aber irgendwann kommen Konzentrationseinbußen, und man macht blöde Fehler. Das ist das erste Warnsignal. Das muss am Anfang gar nichts Schlimmes sein. Da verschickt man E-Mails mit dem falschen Termin oder vergisst, einen Brief zu beantworten. Viele versuchen dann, noch mehr und noch länger zu arbeiten.

Ist das der vielzitierte Einstieg in die Burn-out-Karriere?

Ja, irgendwann brauchen solche Menschen dann Medikamente, damit sie durchhalten: Aufputschmittel zum Beispiel. Die Betroffenen gehen fälschlicherweise davon aus, ihren berufsbedingten Stress nicht reduzieren zu können. Stattdessen versuchen sie, ihre Belastbarkeit immer weiter zu erhöhen, bis gar nichts mehr geht. Die meisten dieser Menschen suchen erst Hilfe, nachdem sie zusammengeklappt sind.

Ist ein bestimmter Persönlichkeitstypus für einen Burn-out prädestiniert?

Das ist schwer zu sagen. Manche Persönlichkeitszüge steigern sicherlich die Gefahr. Das sind ausgerechnet solche Eigenschaften, die in unserer Gesellschaft eigentlich hoch angesehen sind. Leistungsbereitschaft zum Beispiel, Identifikation mit dem Beruf, Bereitschaft, sich für andere einzusetzen.

Das will man eigentlich auch nicht alles ändern.

Diese grundlegenden Eigenschaften muss man auch nicht ändern. Aber das Thema Muße ist wichtig. Das muss man wieder lernen.

Endlich einmal nichts tun – was manche verführerisch finden, ist für andere aber Horror pur.

Ja, Nichtstun fällt vielen schwer. Es muss ja auch nicht für jeden die richtige Art sein, sich zu erholen. Wer im Beruf schon den ganzen Tag vorm Computer sitzt und viel liest, für den mag der Strandurlaub im Liegestuhl mit einem Stapel Bücher gerade das Falsche sein. Aus dem gleichen Grund erholen sich Menschen, die den ganzen Tag in Meetings verbringen und sich am Ende der Woche fragen, was sie eigentlich geschafft haben, wahrscheinlich besser bei der Gartenarbeit oder beim Heimwerken. Kraft schöpfen kann man am besten, wenn es gelingt, einen Kontrapunkt zu seinem Berufsalltag zu setzen.

Wer genügend pausiert hat, darf sich auch wieder richtig in die Arbeit stürzen?

Natürlich. Wenn es ein Gleichgewicht zwischen Anstrengung und Entspannung gibt, dann bedeutet das eben auch, dass die Hälfte des Lebens schwierig, anstrengend oder kompliziert sein darf. Nur sollte das nicht als übermäßig belastend erlebt werden. Den Seelenfrieden und die Gesundheit jedenfalls sollte es nicht zerstören.

Stress ist ja nicht gleich Stress. Mancher fühlt sich ganz gut an, mancher ist furchtbar unangenehm. Muss man den unangenehmen auch in seine Balance einbauen?

Die Frage ist doch, ob es äußere Stressoren in meinem Leben gibt, an denen ich etwas ändern kann. Wenn es die gibt, dann kann ich genau dort lernen, Grenzen zu setzen und auch mal Nein zu sagen. Das ist gutes Selbstmanagement.

Und was macht man mit den unangenehmen Dingen, die man nicht ändern kann?

Wenn man an etwas nun einmal nicht rütteln kann, dann muss man versuchen, diesen Dingen mit einer anderen inneren Haltung zu begegnen, damit sie einen nicht so stressen. Mentale Stresskompetenz nennen wir das. Man sollte eine förderliche Einstellung entwickeln: die Realität annehmen, wie sie ist. Dazu ist es wichtig zu erkennen, wogegen es sich zu kämpfen lohnt und wo man besser Ressourcen spart. Dann kann man das Unvermeidliche auch leichter hinnehmen und bewältigen. Viele Menschen lassen sich von ihrem eigenen Perfektionismus unter Druck setzen. Die könnten lernen, sich zu sagen, dass sie es nicht immer allen recht machen müssen.

Manchmal ist es nicht unbedingt die Art des Stresses, sondern einfach die überbordende Menge von Aufgaben, die man zu erledigen hat.

Dann muss man als Erstes mal seine eigenen Prioritäten klären. Alles geht eben nicht, schon gar nicht alles auf einmal. Was ist wirklich wichtig? Die Frage muss man für sich beantworten und dann alles Schritt für Schritt, ohne schlechtes Gewissen, abarbeiten. So hilft es oft schon erheblich, eine Struktur in die übervolle Arbeitswoche zu bringen. Da sind zum Teil ganz einfache Dinge nützlich – wie etwa, nur das zu sehen, was unbedingt an diesem Tag erledigt werden muss, und die große Zahl der ungelösten Aufgaben, die danach schon wieder warten, erst einmal nur auf eine To-do-Liste für den folgenden Tag zu schreiben und sie bis zum nächsten Morgen auch nicht zu beachten. Mit den Dingen aber, die aktuell einfach dran und nicht aufzuschieben sind, sollte man sich auch befassen. Sonst droht am Ende nur noch größerer Stress, weil Termine versäumt wurden, andere Menschen in ihrer Arbeit gestört sind oder Prozesse durcheinandergeraten. Grenzen zu setzen ist wichtig. Gerade in unserer Multioptionsgesellschaft müssen wir dringend lernen, Nein zu sagen. Auch zu uns selbst: Wie wichtig ist es mir wirklich, dass ich den günstigsten Handyvertrag habe? Fünf Euro mehr oder weniger im Monat: Ich kann auch einfach entscheiden, dass ich mich darum nicht auch noch kümmern will.

Was ist eigentlich wie stressig?

Für den einen Menschen sind es Liebesdinge, die ihn in die tiefsten Tiefen reißen können. Der Zweite ist verletzlich, wenn seine Mitmenschen seine Leistungen in Frage stellen. Und eine dritte Person hat ihren wunden Punkt in Sachen Heimweh. Dennoch gibt es in den westlichen Kulturen auch Durchschnittswerte dafür, als wie stressig verschiedene Lebensereignisse üblicherweise empfunden werden.

Eine solche Skala mit 43 erschütternden Begebenheiten haben die amerikanischen Psychiater Thomas Holmes und Richard Rahe schon vor gut 40 Jahren entwickelt. Die beiden befragten rund 5000 Patienten danach, welche für sie bedeutsamen Dinge in den vergangenen Monaten in ihrem Leben passiert sind, und setzten diese mit den Krankheiten der Befragten in Beziehung.

Die daraus entstandene Social Readjustment Rating Scale (auch bekannt als Holmes-und-Rahe-Stress-Skala) kann helfen, die Bedeutung aufregender Ereignisse für die Gesundheit einzuschätzen. Dazu haben Holmes und Rahe allen Ereignissen Stresswerte von 0 bis 100 zugewiesen. Dass die Skala für verschiedene Ethnien in den USA ebenso gilt wie über kulturelle Grenzen hinweg – etwa nach Malaysia oder Japan – ist von anderen Wissenschaftlern längst bestätigt worden.

Gut zu wissen: Es handelt sich sowohl um Geschehnisse, die üblicherweise als negativ empfunden werden, als auch um solche, die als positiv gelten. Den Psychiatern zufolge ist ein Vorfall umso stressiger, je mehr Bereiche des Lebens danach den neuen Umständen angepasst werden müssen.

table_219_0.png
table_220_0.png
table_221_0.png