Was sich im Gehirn abspielt (Neurobiologie)

Auch unter Ratten gibt es Rabenmütter. Eigentlich gehört es zum Familienleben in Rattennestern dazu, dass die Muttertiere ihren Jungen ihre Zuneigung zeigen. Sie lecken die Kleinen, wärmen sie und versorgen sie mit Nahrung. Manche Rättinnen aber sind zu solcher Mutterliebe nicht fähig. Statt ihren Nachwuchs zu hegen und zu pflegen, tun sie nur das Nötigste. Körperliche Geborgenheit lassen sie den Jungen kaum angedeihen.

Die Nachkommen beider Typen von Rattenmüttern überstehen das und werden groß. Beiden gelingt es auch, ein Rattenleben mit allem zu führen, was dazugehört: Sie suchen sich einen geschützten Fleck zum Übernachten, ergattern genug Nahrung und auch einen Partner und pflanzen sich fort.

Doch tief im Inneren der Tiere, da gibt es einen großen Unterschied, der sie fürs Leben prägt. Zwangsläufig geraten beide Sorten von Rattenkindern im Laufe ihres Lebens immer wieder in unangenehme oder gefährliche Situationen. Dann zeigt sich, wie es in ihren Rattenseelen aussieht: Als ausgewachsene Tiere reagieren die gehätschelten Rattenkinder auf Stress erheblich entspannter als ihre vernachlässigten Artgenossen; am Ende leben sie auch länger. Wenn sie in eine fremde Umgebung geraten, sind die wohlbehüteten Ratten nicht besonders ängstlich; die von ihren Müttern sich oft selbst überlassenen Tiere dagegen setzen sich in einem unbekannten Raum meist in die dunkelste Ecke und zittern. Sie haben offenbar nicht genug Selbstvertrauen, es mit der Fremde aufzunehmen, und erwarten von Veränderungen eher Schlechtes als Gutes.

Das hat einen erstaunlichen Grund. Und der ist biologischer Natur, wie der kanadische Neurobiologe Michael Meaney vor rund zehn Jahren entdeckte: Die Tiere verarbeiten die Botschaften des Stresshormons Cortisol auf höchst unterschiedliche Weise. Offenbar ist dieses Stresshormon daran beteiligt, wenn manche Rattenkinder in ihrem späteren Leben psychisch besonders widerstandsfähig und andere besonders verletzbar werden.

Das Hormon wird vom Körper immer dann ausgeschüttet, wenn es aufregend wird – bei Ratten ebenso wie bei Menschen. Dann kurbelt Cortisol die Mobilisierung von Zucker aus den Vorratsspeichern in der Leber an. So stellt es Energie bereit – um zum Beispiel davonzulaufen, schnell im Geiste eine Lösung zu finden oder anderweitig kurzfristig Höchstleistung zu erbringen. Der Körper befindet sich im Alarmzustand.

Das ist sinnvoll, solange die Ratten oder Menschen in Gefahr oder unter Druck sind. Aber irgendwann mal sollte dieser Alarmzustand auch wieder vorbei sein. Sonst werden Tier und Mensch zu nervlichen Wracks. Um den Stress zu beenden, bildet das Gehirn Andockstellen für Cortisol aus. Sie ziehen das Stresshormon aus dem Verkehr.

Eben hier findet sich der Unterschied zwischen den Rattenkindern. Tatsächlich sorgen die liebevollen Rattenweibchen mit ihrem Lecken und Hätscheln dafür, dass sich in den Gehirnen ihrer Jungen mehr Andockstellen für das Hormon bilden. So wird bei diesen Rattenjungen das bei Stress entstehende Cortisol schneller wieder unschädlich gemacht. Die Jungen der kaltherzigen Ratten geraten dagegen leicht unter Dauerstress.

Der einmal eingeschlagene Weg setzt sich in der Familie fort. Inzwischen gilt als sicher: Gehätschelte Rattenbabys werden auch selbst liebevolle Eltern, vernachlässigte dagegen ebenso kaltherzig, wie ihre Mütter es zu ihnen waren. Dass die Jungtiere die Zahl der Andockstellen in ihrem Gehirn aber nicht einfach von ihren Müttern erben, hat Michael Meaney durch einen Trick bewiesen: In einem seiner Experimente tauschte der Neurobiologe die Würfe der Rättinnen aus: Eine kuschelnde Mutter zog den Nachwuchs einer lieblosen Mutter auf und umgekehrt. Bei den Adoptivkindern aber ergab sich dasselbe Bild wie zuvor beim natürlichen Nachwuchs: Wer gehätschelt wurde, bei dem bildeten sich mehr Andockstellen für Cortisol im Gehirn, und der erkundete neugierig die Welt.

Der Einfluss des Cortisols auf das Seelenheil ließ sich inzwischen auch für Menschen bestätigen. Ein besonders eindrucksvolles Experiment führte die amerikanische Psychiaterin Christine Heim durch. Sie hat Frauen, die als Kinder sexuell missbraucht worden waren, absichtlich unter Stress gesetzt: Heim bat die Frauen einfach, einen öffentlichen Vortrag zu halten. Dabei erreichten die Spiegel an Stresshormonen bei diesen Frauen einen Wert, der sechsmal so hoch war wie bei psychisch stabileren Frauen, die keine traumatische Kindheit hatten. Auch andere Studien zeigten: Menschen, die früh traumatisiert wurden, reagieren später im Leben oft überempfindlich auf Belastungen.

Schrecken im Gehirn

Lieblosigkeit und Schreckenserlebnisse können also die Entwicklung psychischer Widerstandskraft torpedieren. Und sie lassen sich sogar an den Strukturen des Gehirns ablesen, sagt die Entwicklungsneurobiologin Anna Katharina Braun im Hinblick auf schwere Traumata. Sie fand dies zunächst an niedlichen Strauchratten heraus, die ein besonders ausgeprägtes Sozialleben haben.

Braun attackierte dieses Sozialleben – sie nahm einzelne Jungen täglich für eine Stunde vom Rest der Familie weg. In den Gehirnen dieser Tiere fand sie später, dass die Nervenzellen auf merkwürdige Art verschaltet waren. So fanden sich im Gyrus cinguli – einer Gehirnstruktur, die zum limbischen System gehört und damit an der Verarbeitung von Emotionen und Trieben beteiligt ist – mehr Synapsen als bei Tieren, die nicht isoliert worden waren.

Mehr? »Auch das ist eine Störung der gesunden Entwicklung«, betont Braun. Üblicherweise bildet das Gehirn während der Entwicklung viel mehr Synapsen aus als nötig. Aber: Mit der Zeit stabilisieren sich nur jene Verbindungen zwischen den Nervenzellen, die für ein effizientes Funktionieren des Gehirns auch gebraucht werden. Der Rest wird einfach wieder abgebaut. Ebendiesen Sortierprozess aber scheint es bei den isolierten Strauchratten nicht gegeben zu haben. Sie behielten ein Übermaß an Synapsen unter der Schädeldecke. Das hatte Folgen für ihr Verhalten: Fremde Umgebung machte sie ängstlich.

Wie man psychische Stärke misst

»Dass biologische Faktoren die Widerstandsfähigkeit gegen Belastungen beeinflussen, scheint seit Langem unzweifelhaft«, fassen der Kinderpsychiater Martin Holtmann und der Neuropsychologe Manfred Laucht die aktuelle Forschung zusammen. Daraus ergibt sich etwas Bemerkenswertes: Die psychische Stärke von Tieren oder Menschen ist auch ganz konkret anhand mancher körperlichen Funktionen messbar. Zum Beispiel lässt sich die Stressresistenz eines Menschen bis zu einem gewissen Maß bestimmen, wenn man ihn mit einem lauten Knall erschreckt. Die Länge seines Schreckreflexes offenbart dann, wie schnell die Erholung nach einem negativen Erlebnis einsetzt. Das sei ein Indiz dafür, wie gut ein Mensch solche Ereignisse verarbeitet, schreiben Holtmann und Laucht. So ist es von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich, wie lange sich die Augenlider schließen, wenn plötzlich ein extrem lautes Geräusch zu hören ist.

Aber ob die Länge des Zusammenzuckens auch weitergehende Schlüsse auf den Umgang mit Stress zulässt – etwa auf die seelische Gesundheit einer Person, ihre Anfälligkeit für psychische Erkrankungen? Das würde bedeuten, dass Menschen, die relativ lange Schreckreaktionen zeigen, auch bei größeren Widrigkeiten als einem Knall längere Zeit benötigen, um sich davon zu erholen. Sie brauchen dann womöglich so lange, dass sie davon seelisch krank werden. Tatsache ist jedenfalls: Die Länge des Schreckreflexes eines Menschen spiegelt sich in den Strukturen seines Gehirns wider.

Je nachdem, wie schnell Menschen nach einem Knall wieder entspannen, zeigen sich Unterschiede in ihrem präfrontalen Cortex. Diese hinter der Stirn liegende Hirnregion (auch Frontallappen genannt) ist quasi unser oberstes Kontrollzentrum dafür, dass wir angemessen auf eine Situation reagieren. Der präfrontale Cortex empfängt die Signale von außen (wie den Knall), verknüpft sie mit Gedächtnisinhalten und auch mit emotionalen Bewertungen, die aus dem limbischen System stammen. Was ist beim letzten Mal passiert, als so ein Knall zu hören war? War es furchteinflößend oder nicht weiter schlimm? War es richtig oder unnötig, dass man weggelaufen ist? Auf diese Weise ist der präfrontale Cortex nicht nur daran beteiligt, dass wir bei einer Explosion in Deckung gehen, sondern auch daran, dass wir unsere Emotionen danach wieder regulieren. Wenn in der Nähe Kinder mit Platzpatronen schießen, erschrecken wir uns spätestens beim dritten Schuss nicht mehr so stark.

Dass die Nervenzellen in diesem für unser Leben so wichtigen Kontrollzentrum bei einem unangenehmen Erlebnis je nach Persönlichkeit unterschiedlich stark feuern, lässt sich mittels funktioneller Magnetresonanztomographie feststellen. Mit dieser Technik können Forscher sichtbar machen, welche Hirnregionen in bestimmten Situationen aktiv sind – sofern diese Situationen irgendwie in der engen Röhre eines Tomographen zu realisieren sind.

Ein lauter Knall aber ist das. So zeigt sich, dass bei entspannteren Zeitgenossen die linke Seite des präfrontalen Cortex stärker aktiv ist. Solche Menschen bewerteten in Experimenten unangenehme Situationen tendenziell positiver als Personen mit einer stärkeren Aktivierung der rechten Seite des präfrontalen Cortex. Der linke Hirnlappen steht für gute Gefühle, mehr Enthusiasmus und gute Laune, während Menschen mit einem aktiven rechten Frontallappen eher Miesepeter oder ängstliche Typen sind.

Der Effekt ist so deutlich, dass Wissenschaftler sogar vorhersagen können, wie Individuen in einer unangenehmen Situation reagieren werden, wenn sie zuvor nur deren Zellfeuer im Cortex betrachtet haben. Schon bei zehn Monate alten Babys sind solche Unterschiede zu finden. Und einer Gruppe von Psychologen um Richard Davidson gelang es tatsächlich, bei den Kleinen zu prophezeien, wie schlimm eine kurze Trennung von ihrer Mutter für sie sein würde. Kinder, die zuvor vermehrte linksfrontale Aktivierung zeigten, reagierten auf die Trennung von der Mutter entspannter. Kinder mit mehr Feuer im rechten Cortex weinten dagegen.

Außer dem Cortex gibt auch der Hippocampus Auskunft über die psychische Stärke. So kann sich nach Ansicht von Forschern wie Michael Meaney fehlende Zuwendung direkt ins Gehirn eingraben. Als er seinen Versuchstieren genauer unter die Schädeldecke blickte, stellte er fest: Bei den von ihren Müttern vernachlässigten Rattenkindern waren wichtige Hirnregionen unterentwickelt, die sogenannten Hippocampi. Diese Regionen, von denen sich in jedem Gehirn rechts und links eine findet, haben die Form eines Seepferdchens; sie gelten als zentrale Schaltstationen für Gedächtnisleistungen und für Emotionen. »Die Rattenmütter formten also – im wahrsten Sinne des Wortes – die Gehirne ihrer Jungen durch ein simples, natürliches Verhalten«, ist Meaney überzeugt.

Entsprechende Auffälligkeiten im Gehirn wurden auch schon bei Menschen gefunden. So besitzen Personen mit schweren Depressionen genauso ungewöhnlich kleine Hippocampi wie die Ratten mit den lieblosen Müttern. Das Gleiche gilt für Opfer von Kindesmissbrauch oder Vietnamveteranen mit schwerem Trauma.

Ist Stress also Gift fürs Gehirn? Oder sind die kleinen Hippocampi vielleicht doch nicht die Folge, sondern die Ursache großer psychischer Verletzbarkeit? Der Psychiater Roger Pitman glaubt an Letzteres, seit er die Gehirne von Menschen untersucht hat, die schwer traumatisiert wurden. In seiner Studie gab es nämlich eine Besonderheit: Die von ihm untersuchten Traumaopfer waren Zwillinge. Und ihre Geschwister, denen nichts vergleichbar Schreckliches passiert war, hatten ähnlich kleine Hippocampi – ganz ohne Trauma.

Sollte sich diese Beobachtung bestätigen, könnte man besonders verletzbare Menschen künftig womöglich davor warnen, sich einen Beruf zu suchen, der mit großen psychischen Belastungen einhergeht. Hirnscanner könnten zum Einsatz kommen, um wenig resiliente junge Männer davon abzuhalten, als Berufssoldat nach Afghanistan zu gehen oder als Rettungssanitäter Unfallopfer zu behandeln. Auch viele dieser Sanitäter erkranken nämlich im Laufe ihres Berufslebens seelisch schwer.