Der Irrtum des Immerfröhlichseins: Resilienz und Gesundheit
Es war schlimm, aber er wusste, dass er es überstehen würde. Polizisten wie Dick sind hart im Nehmen. Sonst würden sie diesen Beruf wohl gar nicht erst ergreifen. Am 11. September 2001 jedoch kam auch Dick an seine Grenzen. Wie viele seiner Kollegen gehörte der 36-Jährige zu den Ersten, die nach dem Terrorangriff auf das World Trade Center in New York am Ort des Schreckens eintrafen. Sie wurden Zeugen davon, wie Menschen aus den brennenden und in sich zusammenstürzenden Türmen sprangen. Sie suchten im Chaos nach Überlebenden und halfen denen, die sie fanden. Doch meist entdeckten sie unter den Trümmern nur Leichen. Überall sah Dick Körperteile herumliegen. Er hörte die irren Stimmen der Entkommenen, sah ihre entsetzten oder völlig leeren Gesichter. Frauen, weiß von Staub; Männer, die unaufhörlich weinten; Kinder, die schrien, wie er es nie zuvor gehört hatte. Und er wusste, unter den Trümmern würde er weitere Tote und noch mehr Teile von Toten finden – und grub doch weiter.
Nach dem 11. September brauchte Dick einen Psychiater. Es war wegen der Traurigkeit, die in den ersten Tagen einfach nicht aufhören wollte. Er wachte morgens auf, und das Erste, was er fühlte, war diese tiefe Traurigkeit. Er wusste gar nicht so sehr warum. Es waren nicht die schrecklichen Schicksale der Menschen, es waren nicht die schmerzverzerrten Gesichter, es waren nicht die Geschichten der Witwen und Waisen, die er jetzt täglich in den Medien zu hören und zu sehen bekam und die er trotz seines lebensmutigen Einsatzes nicht zu verhindern gewusst hatte. Es war eine tiefe Traurigkeit, die aus ihm selbst kam. Sein Psychiater sagte, das sei eine Folge der schrecklichen Situationen, die Dick durchgemacht hatte. Aber auch der Arzt kam zu dem Schluss: Es war schlimm für seinen Patienten, und doch würde Dick es überstehen. Trotz der seelischen Wunden, die er erlitten hatte, wirkte der Mann selbstsicher und grundsätzlich mit sich im Reinen. Das waren gute Aussichten.
Zehn Jahre später ähnelt Dick tatsächlich wieder jenem Dick, den es vor dem Terroranschlag auf das World Trade Center gab. Vielleicht ist er ein wenig empfindlicher als früher; vielleicht hat er einen anderen Blick auf das Leben gewonnen. Manche Szenen, die er heute als Polizist bei seinen Einsätzen erlebt, erinnern ihn wieder an den 11. September und die Tage danach. Aber sie lösen nicht mehr diese Beklemmungen, diese Traurigkeit aus wie die Erinnerungen in den ersten Jahren nach dem Ereignis.
»Ich wusste, es geht vorbei«, erzählte Dick später selbstbewusst. Er hatte nie damit gerechnet, dass es ihn überhaupt je an der Seele packen würde; dass er jemals einen Psychiater aufsuchen würde – schon gar nicht wegen Dingen, die er in seinem Beruf erlebt. Aber auch wenn es ihn für kurze Zeit erwischt hat: Dick gilt durchaus als Beispiel einer resilienten Persönlichkeit, eines Kämpfertypen, der sich nicht unterkriegen lässt und nach einem Rückschlag die Ärmel hochkrempelt, statt in sich zusammenzusacken.
»Resilienz bedeutet nicht, dass man dauernd gut drauf ist«, betont Jens Asendorpf. Auch starke Seelen sind verletzlich. Je nach Situation leiden manche von ihnen stark unter dem Erlebten, andere hadern mit ihrem Schicksal. Wer widerstandsfähig ist, bleibt in Frust, Trauer oder Schrecken aber nicht gefangen; er steht bald wieder auf und wird auch nicht so leicht dauerhaft krank. Resiliente Menschen zerbrechen nicht an schweren Schicksalsschlägen; nach dem Tal der Tränen geht es für sie wieder bergauf.
Früher haben Wissenschaftler das anders gesehen. Sie haben geglaubt, resiliente Menschen seien komplett unverwundbar. Dieses Bild von den Unverletzlichen hat einer der ersten Forscher auf dem Gebiet der Resilienz geprägt, der amerikanische Psychologe Norman Garmezy. Er war so begeistert von seiner Entdeckung der starken Menschen, dass er sie wohl zu sehr heroisierte. Andere Wissenschaftler folgten dieser Vorstellung. »Auch wir sind zunächst von der Unverletzbarkeit der Resilienten ausgegangen«, erzählt der Psychologe Friedrich Lösel. »Deshalb haben wir unsere Studie mit den Jugendlichen aus schwierigen Verhältnissen ursprünglich die Bielefelder Invulnerabilitätsstudie genannt.« Heute spricht Lösel lieber von der Bielefelder Resilienzstudie.
Denn in Fachkreisen erntete das Idealbild von den Unverletzlichen zunehmend Kritik. Die klinische Psychologin Froma Walsh aus Chicago lästerte schon 1998, dass das Konzept der Invulnerabilität wohl auf eine Traumvorstellung eines männlichen »Teflon-Ichs« zurückgehe und auf das amerikanische Ethos des Supermenschen. Auch ließ sich die Vorstellung auf Dauer nicht mit den Forschungsergebnissen in Einklang bringen. Sie zeigten mehr und mehr, dass auch resiliente Zeitgenossen Phasen des Zweifelns und der Verzweiflung durchleben.
»Unverwundbar oder immun gegenüber dem Schicksal ist kein Mensch«, betonte die inzwischen verstorbene Schweizer Psychotherapeutin Rosmarie Welter-Enderlin. »Unter Resilienz wird vielmehr die Fähigkeit von Menschen verstanden, Krisen im Lebenszyklus unter Rückgriff auf persönliche und sozial vermittelte Ressourcen zu meistern und als Anlass für Entwicklung zu nutzen.«
Resilient zu sein bedeute auch nicht, dass man unversehrt und völlig unverändert in seinen früheren Zustand zurückkehrt, ergänzt Froma Walsh. Es heißt vielmehr, dass man gegen ungünstige Bedingungen erfolgreich angeht, sich durch sie hindurchkämpft, aus den Widrigkeiten lernt und darüber hinaus versucht, diese Erfahrungen in das Gewebe seines Lebens zu integrieren. Man ist verwundbar, aber die Wunden heilen verhältnismäßig schnell und hinterlassen nicht allzu große Narben. Unverwundbar? »Nein, das sind sie nicht«, sagt inzwischen auch Emmy Werner über die resilienten Kinder von Kauai: »Sie sind verwundbar, aber unbesiegbar.«
»Im Grunde sollte man statt von psychischer Robustheit von psychischer Elastizität sprechen«, sagt der Gesundheitspsychologe Ralf Schwarzer. Zwischendurch tut es weh, zwischendurch kann man auch mal am Boden sein. Aber am Ende hat man wieder Kraft für Neues.
Wer resilient ist, erholt sich besser von negativen Erlebnissen
Besonders intensiv hat Ralf Schwarzer die psychische Widerstandskraft an New Yorker Polizisten untersucht, die wie Dick nach den terroristischen Angriffen auf das World Trade Center dort im Einsatz waren. Knapp 3000 Polizisten hatten sich bereit erklärt, ihre Gesundheitsdaten im »World Trade Center Health Registry« (WTCHR) speichern zu lassen, das Schwarzer gemeinsam mit seiner amerikanischen Kollegin Rosemarie Bowler auswerten konnte. Das Bewundernswerte: Viele dieser Polizisten litten unter dem, was sie durchgestanden hatten, aber am Ende gingen doch die Allermeisten gesund aus ihren furchtbaren Erlebnissen hervor.
Nur 7,8 Prozent der 2527 männlichen und 413 weiblichen untersuchten Polizisten hatten zwei bis drei Jahre nach den Ereignissen eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) entwickelt. Allerdings war unter den Männern der Anteil nach fünf bis sechs Jahren auf 16,5 Prozent gewachsen. »PTBS kommt häufig verspätet«, sagt Schwarzer, »vor allem bei Männern.« So war der Anteil der weiblichen Polizisten mit einer Belastungsstörung zwei bis drei Jahre nach den Terroranschlägen fast doppelt so hoch wie der Anteil der männlichen Polizisten. Nach fünf bis sechs Jahren aber war die PTBS bei beiden Geschlechtern gleich häufig.
Schwarzers Studie belegt somit auch folgendes Phänomen: Selbst wenn Menschen zunächst gut mit einem traumatischen Erlebnis zurechtkommen, kann dieses nach Jahren doch noch zuschlagen. Es mag sein, dass eine Person einen Schicksalsschlag zunächst ganz gut verarbeitet. Aber ihr Zustand ist nur metastabil. »Wenn dann wieder etwas Belastendes in ihr Leben tritt, ist das Trauma plötzlich da«, sagt Schwarzer. Ein bedeutender Risikofaktor dabei ist es zum Beispiel, wenn jemand infolge eines schwerwiegenden Erlebnisses dauerhaft körperlich beeinträchtigt ist oder wenn er seine Arbeit aufgibt, weil er es einfach nicht riskieren will, noch einmal in eine solche Situation zu geraten.
Mehr als 80 Prozent der New Yorker Polizisten blieb eine PTBS jedoch auf Dauer erspart. Der Anteil der besonders Unerschütterlichen unter ihnen war damit extrem hoch, betont Schwarzer. Resiliente Personen scheinen unter diesen Polizisten häufiger zu sein als in der Normalbevölkerung. Hier haben erheblich weniger der unmittelbar Betroffenen das Grauen unbeschadet überstanden. »Diese Polizisten sind sicherlich keine Durchschnittsmenschen«, sagt Schwarzer. Ihre Widerstandskraft gegen schweres Unheil komme aber womöglich nicht nur aus ihnen selbst, sondern könne auch durch äußere Faktoren beeinflusst sein: »Dass sie so gut weggekommen sind, kann zum Beispiel mit ihrer Ausbildung zusammenhängen, bei der versucht wird, sie auf solche Extremereignisse vorzubereiten«, sagt der Gesundheitspsychologe.
Letztlich, so haben Forschungen gezeigt, richtet ein schweres Unglück auch unter gewöhnlichen Zeitgenossen nur bei einer Minderheit erheblichen psychischen Schaden an. »Menschen können mit Angst, Trauer, Depressionen und suizidalen Gedanken auf Katastrophen reagieren oder auch anfangen, plötzlich Drogen zu konsumieren«, sagt der klinische Psychologe George Bonanno. »Aber richtig schwerwiegende Beeinträchtigungen treten gemeinhin selten bei mehr als 30 Prozent der Betroffenen auf.«
Dann können die Belastungen auch körperlich krank machen. »Die psychische Stärke hat erheblichen Einfluss auf die Gesundheit – und zwar längst nicht nur auf die Entstehung posttraumatischer Belastungsstörungen und anderer seelischer Phänomene«, sagt Ralf Schwarzer. Das zeigte sich auf faszinierende Weise an Menschen, die eine Bypass-Operation benötigten.
Vor dem Eingriff stellten Schwarzer und sein Team mit Hilfe von Fragebögen fest, wie groß die Selbstwirksamkeitserwartung der Patienten war. Als weiteres Maß für Resilienz wurde ihre soziale Integration erfasst: Wie viele Menschen gehörten zu ihrem sozialen Netzwerk, wie viele Freunde hatten sie? Und wie geborgen fühlten sie sich unter diesen?
Das Ergebnis sprach eine klare Sprache: Die Resilienten unter den Herzpatienten überstanden die Operation erheblich besser: Eine Woche, nachdem ihnen ein Bypass gelegt worden war, hatten sie deutlich weniger Krankheitssymptome als Personen mit geringerer Selbstwirksamkeitserwartung und weniger Geborgenheit; ihre Wundheilung war besser verlaufen, sie spazierten schon wieder im Zimmer herum und waren insgesamt aktiver. Sechs Monate nach der Operation zeigte sich die Heilungskraft der Resilienz noch einmal: Von den von sich überzeugten Zeitgenossen schmiedeten viele bereits Urlaubspläne; sie verrichteten mehr Aufgaben in Haus und Garten und hatten auch schon häufiger wieder ihre Arbeit aufgenommen.
Ähnliches stellten auch Kollegen von Karena Leppert fest. Sie untersuchten, wie häufig Krebspatienten, die sich einer Strahlenbehandlung unterzogen, unter starker Erschöpfung litten. Diese sogenannte Fatigue tritt häufig bei Krebskranken auf – mitunter als psychische Reaktion auf die Krankheit; sie kann aber auch durch die Chemo- oder Strahlentherapie ausgelöst werden. In der Studie mit mehr als 100 Krebspatienten zeigte sich jedenfalls: Patienten mit ausgeprägter Resilienz litten nicht so stark an Fatigue wie weniger stabile Persönlichkeiten.
Psychische Widerstandskraft zeigt sich auch darin, wie man mit einer chronischen Krankheit umgeht – etwa mit Diabetes. Die Zuckerkrankheit ist heute keine echte Bedrohung mehr: Wenn Patienten gut eingestellt sind und regelmäßig ihre Medikamente nehmen, kommen sie im Allgemeinen gut mit der Krankheit zurecht; Spätfolgen – etwa Schäden an Augen oder Nieren – lassen sich minimieren. Gleichwohl greift der Diabetes erheblich in den Alltag ein. Sorglos essen nur die wenigsten. Auch müssen die Patienten regelmäßig und sehr diszipliniert an ihre Medikamente denken.
Deshalb hat die Soziologin Leppert untersucht, welchen Einfluss die Seelenstärke bei Menschen mit Diabetes auf ihren Umgang mit der Krankheit hat. Deutlich zeigte sich dabei: Die Zuckerkranken, die psychologischen Tests zufolge besonders resilient waren, hatten eine höhere Lebensqualität. »Sie sagten sich: Das Leben mit der Krankheit ist schwer, aber ich schaffe das schon«, erzählt Leppert. In der Folge fühlten sie sich deutlich besser als die weniger resilienten Patienten.
»Dieses Gefühl muss nicht unbedingt einen objektiven physiologischen Zustand widerspiegeln«, betont Leppert. Den resilienten Zuckerkranken ging es also, mit den Augen eines Arztes betrachtet, nicht zwangsläufig besser. »Aber subjektiv konnten sie die Krankheit besser bewältigen als die weniger resilienten Patienten«, so die Soziologin. Sie konnten sich gut um sich selbst kümmern und brauchten weniger Begleitung und Beratung durch ihre Ärzte.
Mit welchen Eigenschaften die gesundheitsfördernde Stärke zusammenhängt, hat Ralf Schwarzer mittlerweile für unterschiedliche psychische Herausforderungen untersucht. Dabei zeigte sich, dass die Selbstwirksamkeitserwartung sogar physiologisch messbar ist. Schwarzer zufolge wirkt sie sich in anforderungsreichen Situationen auf Blutdruck, Herzrate und Adrenalinspiegel aus. Das lässt sich therapeutisch umsetzen: Wenn das Selbstvertrauen von Rheumapatienten durch eine Therapie gestärkt wird, so zeigte eine Studie, empfinden sie weniger Schmerzen und bewältigen ihren Alltag besser.
Neben der Selbstwirksamkeitserwartung wirke sich vor allem Optimismus, der bei resilienten Persönlichkeiten besonders ausgeprägt ist, positiv auf das Wohlbefinden und den Krankheitsverlauf aus, meint Schwarzer: »Es ist die mit hohem Optimismus verbundene geringere Ängstlichkeit, die für das Ausmaß der Beschwerden und die Qualität der Problembewältigung verantwortlich zu machen ist.«