Die Widerstandskraft ruht auf mehreren Säulen
Die Chancen der Kinder auf ein schönes und erfülltes Leben standen alles andere als gut. Unter den Ureinwohnern auf der hawaiianischen Insel Kauai herrschte in den 1950er-Jahren die Tristesse, die so viele naturnahe Völker heimsucht, wenn sie von fremden Mächten beherrscht werden. Paradiesisch war die Landschaft, doch für viele Kinder war das Leben hier die Hölle. Alkoholismus und Armut waren Alltag auf der Insel. Das traurige Leben pflanzte sich bereits in der zweiten Generation fort: Die Kinder der armen Arbeiter von den Zuckerrohrplantagen dieser Garteninsel wurden häufig vernachlässigt oder sogar misshandelt, nicht selten waren die Ehen ihrer Eltern zerrüttet, an Geld fehlte es immer. An diese Jungen und Mädchen hätte wohl niemand geglaubt.
Doch am Ende gab es eine Überraschung: Vierzig Jahre lang hat die amerikanische Entwicklungspsychologin Emmy Werner gemeinsam mit ihrem Team von der University of California exakt 698 Jungen und Mädchen von Kauai immer wieder befragt und beobachtet. Das waren alle Kinder, die dort im Jahre 1955 geboren wurden. 201 von ihnen wuchsen auf dem ohnehin schon schwierigen Inselchen unter besonders problematischen Bedingungen auf: Sie waren schon in frühester Kindheit traumatischen Erlebnissen ausgesetzt, hatten psychisch kranke oder alkoholsüchtige Eltern oder lebten in chronischem Unfrieden in ihren Familien. Diese Kinder hatten es Werner angetan.
Dabei hatte sie einen Blick auf die Menschen, den die wenigsten Forscher vor ihr wagten: Sie interessierte sich weniger für jene zwei Drittel der Kinder, welche erwartungsgemäß kaum aus den Schwierigkeiten herauskamen, in die sie hineingeboren wurden. Diese 129 jungen Menschen erfüllten die negativen Erwartungen, mit denen alle Welt ihnen begegnete: Schon im Alter von zehn Jahren fielen sie durch Lern- und Verhaltensprobleme auf; und bevor sie ihren 18. Geburtstag feierten, waren sie mit dem Gesetz in Konflikt geraten oder selbst psychisch krank geworden.
Die junge Psychologin untersuchte das dritte, das überraschende Drittel der besonders belasteten Kinder: 72 kleinen Hawaiianern gelang es nämlich, ihre schwierige Situation zu meistern und trotz ihrer schlechten Sozialprognose ein ordentliches Leben zu führen. Diese Kinder zeigten zu keinem Zeitpunkt irgendwelche Verhaltensauffälligkeiten. Sie waren gut in der Schule, waren in das soziale Leben ihrer Insel eingebunden und setzten sich realistische Ziele. Im Alter von 40 Jahren war keine dieser Personen arbeitslos, keine straffällig geworden und keine auf staatliche Fürsorge angewiesen. Jedes dritte der besonders vernachlässigten Kinder von Kauai wuchs somit zu einem selbstbewussten, fürsorglichen und leistungsfähigen Erwachsenen heran, der im Beruf Erfolg hatte und Beziehungen leben konnte.
So brachte Emmy Werner die bis dahin gängige These, wonach Kinder mit solchen Ausgangsbedingungen einem desaströsen Schicksal kaum entkommen können, ins Wanken. Die Psychologin stellte erstmals wissenschaftlich klar: Auch wenn die Startbedingungen noch so schlecht sind, gelingt es manchen Menschen, ihr Leben zu meistern.
Emmy Werner interessierte, welche Faktoren Menschen gegen Widrigkeiten im Leben schützen. Was genau, fragte sie sich, bewahrte manche der Kinder von Kauai vor seelischen Problemen und dem Absturz in die Verwahrlosung?
Das sei nicht nur für die Medizin und die Psychologie eine grundlegende Frage, betont der Heilpädagoge Michael Fingerle, sondern auch für die Pädagogik: »Lange hat uns nur gekümmert, warum Menschen im Leben nicht zurechtkommen«, sagt er. »Dabei ist es für alle Erziehung grundlegend zu wissen, wie ein gutes Leben gelingen kann.« Dazu aber mussten die Forscher zunächst festlegen, was denn ein gutes Leben überhaupt ist. Trotz ihrer Pionierarbeit war Emmy Werner in diesem Punkt doch ein Kind ihrer Zeit. Ein gutes Leben machte sie in ihrer 1958 begonnenen Studie vornehmlich an äußeren Faktoren fest, an leicht messbaren Erfolgen.
Sie fragte nach den Schulabschlüssen der Kinder von Kauai und nach ihrer beruflichen Ausbildung. Sie hielt fest, ob diese straffällig wurden und ob sie in der Lage waren, Ehen einzugehen, die länger als nur ein paar Jahre hielten. Schließlich erfasste sie noch, ob die jungen Leute psychische Störungen entwickelten.
Fingerle kritisiert, dass dies eine sehr konservative, normenorientierte Sicht auf das Leben der Menschen sei. »Eigentlich sollte Wissenschaft wertfrei sein«, meint er. Wichtig wäre es, die Betroffenen selbst zu fragen, ob sie zufrieden mit sich sind. Denn darum gehe es im Leben doch noch mehr als um einen festen Job und eine Ehe mit zwei Kindern: dass ein Mensch trotz schwerster Krisen, die ihn ereilen, weiß, wie er sein Leben sinnvoll gestalten kann; dass er am Ende glücklich mit sich und seinem Dasein ist.
Der Schlüssel zur Stärke ist Bindung
Trotz mancher Kritik aber schätzt auch Michael Fingerle den grundlegenden Wert von Emmy Werners Pionierarbeit hoch ein: »Die Kauai-Studie hat uns die wesentlichen Faktoren aufgezeigt, die Menschen trotz schwierigster Bedingungen gesunderhalten«, sagt er. Das sieht auch Friedrich Lösel so. Der Psychologe ist zugleich Kriminologe und interessiert sich auch vor diesem Hintergrund dafür, welche Chancen Kinder aus schwierigen sozialen Milieus haben, ihr Leben anders als ihre familiären Vorbilder nicht periodisch im Knast zu verbringen.
»Der allergrößte Schutz im Leben ist Bindung«, fasst Lösel zusammen. Die starken Kinder von Kauai hatten etwas, das all jene Kinder, die wie ihre Eltern im Suff landeten, eben nicht hatten: Es gab zumindest eine enge Bezugsperson, die sich liebevoll um sie kümmerte und auf ihre Bedürfnisse reagierte, die Grenzen setzte und Orientierung bot.
Auch Bill Clinton hatte solche engen Vertrauten. Bis seine Mutter den furchtbaren Stiefvater heiratete, wuchs er bei seinen liebevollen Großeltern auf. Dabei wusste er: Er konnte sich nicht nur auf seine Großeltern verlassen. Trotz ihrer Schwächen war auch seine Mutter eine Vertrauensperson, die nach ihren Kräften für ihn da war und gemeinsam mit ihm Wege suchte, der Tyrannei des Stiefvaters zu entgehen.
»Schon eine einzige enge Bindung macht so stark, dass viele negative Faktoren dadurch wieder wettgemacht werden«, sagt die Heilpädagogin Monika Schumann und betont: »Das ist unsere pädagogische Chance.«
Denn die Vertrauensperson muss nicht unbedingt Mutter oder Vater, Großmutter oder Großvater sein. Eine Tante, ein Lehrer, eine Nachbarin können diese Rolle übernehmen. »Wichtig ist es, Kindern auf Augenhöhe zu begegnen«, sagt Schumann. »Jemand muss ihnen Geborgenheit geben, ihre Fortschritte anerkennen, ihre Fähigkeiten fördern und sie unabhängig von Leistung und Wohlverhalten lieben: Das macht stark fürs Leben.«
So ist es wohl auch kein Zufall, dass sich auf Kauai vor allem die erstgeborenen Kinder positiv entwickelten und solche, die relativ wenige Geschwister hatten. Besonders gut erging es jenen Kindern, die schon mindestens zwei Jahre alt waren, bevor sie die Aufmerksamkeit ihrer Eltern mit Geschwistern teilen mussten.
Liebe ist ein Geschenk. Aber auch Kinder bekommen sie häufig nicht ganz ohne eigenes Zutun. Im Grunde sei Resilienz die Fähigkeit, förderliche Beziehungen einzugehen und sich Unterstützung bei Personen oder Institutionen zu holen, sagt die Zürcher Psychologin und Paartherapeutin Ulrike Borst. Dazu müssen sich manche Menschen gar nicht besonders engagieren: Wer als kleiner Sonnenschein auf die Welt kommt und die Herzen seiner Mitmenschen im Sturm erobert, der zieht die Zuwendung oft auch ohne weiteres Zutun einfach auf sich. »Kinder, die ein freundliches, waches, offenes Temperament haben, machen es auch ihren Bezugspersonen leichter, sie zu mögen«, sagt die Soziologin und Resilienz-Expertin Karena Leppert, »deshalb finden sie auch leichter Freunde oder andere Unterstützer.«
So zeigt sich schon bei den Kindern von Kauai: Jene gerne »pflegeleicht« genannten Kleinkinder, die ihre Bezugspersonen eben nicht mit aufreibendem Essverhalten oder zermürbenden Schlafgewohnheiten marterten, zogen im Alter von einem oder zwei Jahren mehr positive Zuwendung ihrer Eltern oder anderer Bezugspersonen auf sich als die schwierigeren Babys. Ihre Mütter beschrieben jene Kinder, die später als erfolgreich und resilient eingestuft wurden, schon als Einjährige tendenziell als aktiv, liebevoll, anschmiegsam und freundlich. Als die Kinder zwei Jahre alt waren, schlossen sich unabhängige Beobachter diesem Urteil an und nannten die Kinder angenehm, fröhlich, freundlich, aufgeschlossen und gesellig. Die resilienten Kinder waren zudem mehr in das soziale Spiel mit Gleichaltrigen integriert. Bereitwillig halfen sie anderen, die Hilfe brauchten – und konnten auch selbst um Hilfe bitten, wenn sie welche nötig hatten.
Es sei ein Wechselspiel zwischen dem Temperament der Kinder und der Feinfühligkeit ihrer Bezugsperson, erläutert Karena Leppert. Das freundliche Wesen der Kinder führt – weil sie sich damit die Zugewandtheit anderer Menschen sicherten – dazu, dass sie im Leben stärker werden. Zugleich aber wirkt es auch positiv auf Eltern und Freunde, wenn Menschen robust sind, Energie versprühen und ein aktives, sozial verbindliches Wesen haben. Beziehungen machen stark – und Stärke schafft Beziehungen, es ist ein doppelter Gewinn.
Das Ergebnis jedenfalls ist, dass sich Menschen, die psychisch besonders widerstandsfähig sind, meist auch besonders sicher und in ihrer Welt geborgen fühlen. Sie fügen sich wie der junge Sozialdemokrat Vegard Grøslie Wennesland, der das Grauen von Utøya recht unbeschadet überstand, gut in Gruppen ein, sie sind verträglich, engagiert, begeisterungsfähig und gewissenhaft. Sie sind eher extrovertiert, freuen sich auf neue Erlebnisse ebenso wie auf andere Personen. Und in Krisensituationen haben sie ein verlässliches Umfeld, in dem sie Unterstützung und Rat finden, wie man Probleme konstruktiv löst.
Die Widerstandskraft ist auch eine Frage des Frusts
Susanne hat den Psychologen besonders beeindruckt. Als Friedrich Lösel das Mädchen kennenlernte, war es 15 Jahre alt. Das war Anfang der 1990er-Jahre, und Lösel arbeitete als Professor an der Universität Bielefeld. Damals begannen sich Psychologen wie er für die Stärken von Menschen statt für ihre Schwächen zu interessieren. Sie wollten ihre Potenziale kennenlernen – herausfinden, wie sie schwerwiegende Probleme lösten, ohne dafür mit ihrer seelischen Gesundheit zu bezahlen. Das ließe sich am ehesten ergründen, dachten sich die Wissenschaftler, wenn sie Menschen erforschten, die besonders große Herausforderungen zu bewältigen hatten. Deshalb suchten sie sich als Testpersonen Teenager mit einer Fülle von Schwierigkeiten. Und die fanden sie am ehesten am Rande der Gesellschaft – in Milieus, in denen Drogen und Gewalt zum Alltag gehörten, häufig ein Elternteil fehlte und der verbliebene mit der Erziehung überfordert war.
Susanne war so eine Jugendliche. Und sie war eine, die sich trotz allem nicht unterkriegen ließ. Dabei bot ihre Kindheit allen Stoff für so furchtbare Geschichten, wie man sie sonst nur im Kino sieht. Der Vater ertränkte seine Sorgen und die Erinnerungen an die eigene schreckliche Kindheit im Alkohol; die Mutter nahm – nur um ihr Dasein überhaupt irgendwie ertragen zu können – täglich so viele Tabletten, dass diese ihre Seele auffraßen.
Als Susanne fünf Jahre alt war, gab es einen kurzen Lichtblick: Da trennten sich ihre Eltern. Doch die Mutter suchte sich schnell neue Männer, immer wieder andere, die Susanne entweder schlecht oder noch schlechter behandelten. Einen, von dem die Mutter ihr drittes Kind bekam, heiratete sie. Das war leider nicht der beste ihrer zahlreichen Liebhaber, auch nicht für Susanne. Der Stiefvater misshandelte das Kind und die Mutter. So begann Susanne als 12-Jährige selbst damit, im Übermaß Alkohol zu trinken – was sich letztlich als gar nicht so schlecht erwies. Denn so fiel sie wenigstens den Behörden auf. Weil die Polizei die Jugendliche immer wieder schwer betrunken auflas, wies das Jugendamt Susanne in ein Heim ein. Schließlich gab es dann doch noch eine glückliche Wende in ihrem Leben: Sie kam zu einer Pflegemutter, zu der sie eine gute Beziehung aufbauen konnte, die sie verstand, ihre Sorgen teilte, ihr Werte vermittelte und sie unterstützte. Susanne brauchte keinen Alkohol mehr, sie ging wieder zur Schule, sogar aufs Gymnasium – und führte ein abwechslungsreiches Teenagerleben, in dem sie Freunde hatte und viele verschiedene Interessen.
Susanne war eine der 146 Jugendlichen aus schwierigen Verhältnissen, die Friedrich Lösel in den 1990er-Jahren gemeinsam mit seiner Mitarbeiterin Doris Bender im Rahmen der »Bielefelder Invulnerabilitätsstudie« befragte. 80 dieser jungen Leute aus Heimen der Wohlfahrtspflege schmissen die Schule hin, nahmen Drogen oder übten Gewalt aus.
Ähnlich wie Susanne aber schaffte es fast die Hälfte von ihnen, ihre schreckliche Kindheit hinter sich zu lassen, ohne eine psychische Krankheit zu entwickeln oder dauerhaft auffällig zu werden. Das war ein ähnlich hoher Anteil wie bei den Kindern von Kauai, wo etwa jedes dritte genügend seelische Widerstandskraft besaß, um sein Leben nicht in solch desaströsen Verhältnissen fortzuführen, wie es begonnen hatte. Wie die resilienten hawaiianischen Kinder zeichneten sich auch die lebenstüchtigen Bielefelder Jugendlichen vor allem dadurch aus, dass sie eine Person außerhalb ihrer schwierigen Familie hatten, die sich liebevoll um sie sorgte, die ihnen – wie Susannes Pflegemutter – ein Vorbild war und ihnen Regeln beibrachte, an die man sich im Leben möglichst halten sollte.
Doch die Wissenschaftler fanden noch weitere Faktoren, die für die Widerstandskraft der jungen Menschen gegen ihr zerstörerisches Umfeld ausschlaggebend waren: Vor allem fiel die emotionale Ausgeglichenheit der starken Halbstarken auf. »Die resilienten Jugendlichen wie Susanne hatten ein flexibleres und weniger impulsives Temperament als die vulnerablen Teenager, denen es schlecht erging«, erzählt Friedrich Lösel. Im Gegensatz zu emotional stabileren Personen fällt es unausgeglichenen Menschen schwer, konstruktiv mit Herausforderungen umzugehen, nach einer Niederlage oder unter großem Druck reagieren sie über. Die Übermacht der Aggression, der Trauer oder Wut verstellt aber oft den Blick darauf, wie aus dieser unschönen Situation das Beste herauszuholen ist.
Wer Schicksalsschläge gut verarbeiten will, muss einiges aushalten, sagt Lösel. Er muss sich meist neu orientieren, sein Leben umkrempeln und bislang unbekannte Wege gehen, wie Natascha Kampusch und auch der fast vollständig gelähmte Mann aus dem Münchner Klinikum Großhadern dies auf nahezu unfassbare Weise getan haben. Dazu braucht man ein gewisses Maß an Frusttoleranz, Kraft und Durchsetzungsvermögen. Wen dagegen Gegenwind vor allem frustriert, der hat keine Energie, sich den Widrigkeiten des Lebens entgegenzustellen. »Ohne eine gewisse emotionale Robustheit geht es nicht«, sagt auch die Soziologin Karena Leppert, die am Universitätsklinikum Jena gemeinsam mit Kollegen über viele Jahre die Persönlichkeitsfaktoren studiert hat, die Menschen emotional widerstandsfähig machen.
Dabei fanden die Wissenschaftler heraus, dass starke Menschen nicht mit ihrem Schicksal hadern, sondern bereit sind, ihre Situation und die damit verbundenen unangenehmen Gefühle zu akzeptieren, wie dies etwa Ute Hönscheid gelungen ist, die ihren kleinen Sohn durch einen Kunstfehler verloren hat, oder Ralf Rangnick, der trotz seines Burn-outs bald wieder zum Fußball zurückkehrte. »Resiliente Menschen sehen sich nicht als Opfer, sondern nehmen ihr Schicksal in die Hand«, sagt Leppert.
Offenheit sei dafür extrem wichtig, betont Corina Wustmann Seiler, die in Zürich das Projekt »Bildungs- und Resilienzförderung im Frühbereich« leitet. Das gilt für Erwachsene ebenso wie für Kinder. Statt den Problemen aus dem Weg zu gehen, versuchten auch die starken Kinder von Kauai, sie aktiv zu bewältigen, und legten dabei einige Flexibilität an den Tag. Die Kinder »übernahmen selbstständig Verantwortung in der jeweiligen Situation und waren aktiv um eine Problemlösung bemüht«, so Wustmann Seiler. »Sie warteten also nicht erst ab, bis ihnen jemand anderes das Problem abnahm oder zu Hilfe kam.«
Das Zusammenspiel von Persönlichkeit und Umwelt
Ein Zugehörigkeitsgefühl zur Gemeinschaft, das Vertrauen in die Bedeutung der eigenen Person und des eigenen Handelns (siehe Seite 78 ff.) und auch der Glaube an einen höheren Sinn im Leben, all dies stärkt weiteren Studien zufolge Menschen so, dass sie Herausforderungen besser begegnen können. Immer wieder berichten Menschen nach Krisen, wie wichtig ihnen ihre Spiritualität war und die tiefe Überzeugung, alles werde letztlich gut.
Eine solche positive Weltsicht ist vielen widerstandsfähigen Menschen zu eigen. Auf Kauai und in Bielefeld zeigte sich, dass viele der Lebenstüchtigen damit rechneten, dass sie mit ihrem Kampf gegen ihre missliche Lage auch Erfolg haben würden. Sie glaubten an sich und an ihre Möglichkeiten, die Situation am Ende kontrollieren zu können. »Deshalb nahmen sie Problemsituationen weniger als Belastung wahr, sondern vielmehr als eine Herausforderung«, sagt Friedrich Lösel.
Nützlich ist dabei auch Intelligenz. Wer die Prüfungen des Lebens meistern will, muss nicht unbedingt überdurchschnittlich begabt sein. Aber es hilft, wenn man schlau genug ist, seine Lage zu durchschauen, Alternativen zu ersinnen und diese auch umzusetzen. »Es ist leichter, seinem Leben eine neue Perspektive zu geben, wenn man eine gewisse Intelligenz besitzt«, so Lösel. Auch machen es kognitive Fähigkeiten Menschen nun einmal leichter, einen Schul- oder Berufsabschluss zu erlangen, der ihnen wiederum bessere Möglichkeiten für eine aktive Lebensgestaltung eröffnet.
»Und noch etwas macht stark«, sagt Friedrich Lösel, »das ist Humor. Wer nicht alles im Leben allzu ernst nimmt, sondern auch einmal über sich selbst lachen kann, der hadert nicht so schnell mit seinem Schicksal.« Natürlich komme man »aus einem traumatischen Ereignis wie einer Vergewaltigung nicht mit Humor raus«, so Lösel. Aber wenn man den Widrigkeiten des Alltags mit Witz, Fröhlichkeit und Optimismus begegnet, wie dies der aus Pommern vertriebene Erwin immer getan hat, dann lebt man gesünder.
Diese allgemeinen Resilienzfaktoren haben sich inzwischen vielfach bestätigt. Sie ergaben sich nicht nur unabhängig davon, ob junge Leute auf einem hawaiianischen Inselstaat ohne Zukunft aufwuchsen oder im Bielefelder Problemmilieu. Die gleichen Strukturen waren auch wichtig für Menschen in Bürgerkriegsgebieten, für Strafgefangene, die wieder Fuß fassen mussten im Leben, für den Überlebenskampf in Krisenregionen, für Familien, die mitten im Wohlstand in Armut lebten, für Kinder mit psychisch kranken Eltern oder für Menschen, die mit einer Scheidung zurechtkommen mussten.
Manche Fachleute wie Karena Leppert sind der Ansicht, dass Resilienz allein eine Sache der Persönlichkeit, sogar selbst ein Persönlichkeitsmerkmal ist. Doch mehr und mehr Wissenschaftler gelangen zu der Überzeugung, dass neben solchen Charaktereigenschaften auch Umweltfaktoren wie eben das Erziehungsklima, die Übertragung von Verantwortung und die Vermittlung eines Zugehörigkeitsgefühls eine Rolle spielen. Persönlichkeit und Umwelt sind dabei nicht immer leicht zu trennen: Denn ob ein Kind Hilfsbereitschaft zeigt oder einem Hobby nachgeht, liegt nicht nur in ihm selbst begründet, sondern auch in den Vorbildern, die es in seiner Umgebung findet.
»Im Vergleich zu früheren Ansätzen ist es heute erwiesen, dass Resilienz kein angeborenes Persönlichkeitsmerkmal bezeichnet«, betont Corina Wustmann Seiler daher. »Die Wurzeln für die Entwicklung von Resilienz liegen in besonderen risikomildernden Faktoren, die sowohl in der Person als auch in ihrer Lebensumwelt lokalisiert sein können.« Sie betrachtet die Lebenstüchtigkeit als eine Kapazität, die Menschen im Laufe ihrer Entwicklung erwerben. Mit Hilfe anderer Menschen, von Institutionen wie Kirche oder Schule und auch der eigenen Anlagen bauen sie einen Schutzwall gegen widrige Bedingungen auf wie die Kinder von Kauai oder die Jugendlichen von Bielefeld; sie passen sich an plötzliche Belastungssituationen an wie Menschen in Kriegsgebieten oder sie bewältigen psychische Verletzungen, wie sie etwa durch einen lebensbedrohlichen Verkehrsunfall entstehen. Resilienz trage zum Schutz bei, zur Reparatur oder auch zur Regeneration, sagt Friedrich Lösel.
Dabei sind all die Eigenschaften, über die die bisher erforschten starken Menschen in besonderem Maße verfügten, und die Umwelteinflüsse, die sie nutzten, kein Muss. »Sie erleichtern es, schwierige Lebensumstände zu meistern«, so Lösel. Kaum jemand verfügt über sämtliche dieser Faktoren. Aber das ist auch gar nicht nötig.