14

»Elise, du mußt mich losbinden! Schnell!«

Wer spricht da zu mir? Wo bin ich? Ich will nicht aufwachen, will nicht dieses dünne, hohe Stimmchen hören. Ich will nicht hier sein!

»Elise, bind mich los, sonst sind wir gleich alle beide tot. Renaud sagt, daß es eilt!«

Na und? Ich dachte, es sei toll, tot zu sein! Hast du es dir anders überlegt? Bin ich jetzt total verrückt geworden? Das ist wohl nicht der geeignete Zeitpunkt, um mit einem Kind abzurechnen! Vor allem deshalb nicht, weil die arme Kleine neben Pauls Leichnam sitzt und gefesselt ist – wahrscheinlich von ihrem eigenen Vater. Aber warum in Benoîts Wohnung? Diese Frage quält mich wie ein bohrender Schmerz. Keine Zeit, darüber nachzudenken. Ziel Nummer l: Wir müssen hier raus. Wenn ich es schaffe, Virginie loszubinden, kann sie die Tür öffnen und mich befreien, aber wir müssen schnell machen.

»Ich bin so müde …«

Also, ich nicht.

»Wie willst du mich denn frei bekommen?«

Wenn ich das nur wüßte … Ich nähere mich ihren Beinen, taste sie ab, bis ich die Nylonschnur an ihren Knöcheln spüre. Ich bin nicht geschickt genug, den Knoten zu lösen, er muß ganz klein und ganz eng zusammengezogen sein, und außerdem kann ich meine Finger nicht so bewegen, wie ich es möchte. Ich fahre rückwärts mit meinem Rollstuhl und versuche, nicht gegen den großen Ledersessel zu stoßen, in den Benoît sich so gerne zum Lesen setzte. Wenn ich mich nicht irre, befindet sich die Küche zu meiner Linken und die Tür ungefähr einen halben Meter seitlich vom Sofa. Ich fahre ein Stück vorwärts.

»Elise! Wohin willst du? Ich bin hier!«

Ich hebe beschwichtigend den Arm. Da. Ich müßte mich genau vor der Tür befinden, ich fahre ganz langsam, so ist es gut, noch ein Stück, ich stoße irgendwo an, dem Geräusch nach ist es der Herd. Ich mache mit dem Rollstuhl eine Drehung und fahre an der Geschirrspülmaschine entlang, stop. Ich befinde mich jetzt neben der Arbeitsfläche. Ich hebe den Arm und taste die Fläche ab. Komme ich mit der Hand bis an die Wand? Ja. Eigentlich müßte dort eine Stange sein, an der Benoîts Messer hängen. Da ist sie. Ich spüre einen runden Griff, umschließe ihn mit der Hand und hebe den Arm. Ich hab’ es! Das Fleischermesser. Benoîts großes Fleischermesser. Ich packe das Fleischermesser und fahre zurück ins Wohnzimmer. Ich bin schweißgebadet.

»Ich glaub’, ich schlaf gleich wieder ein.«

Kommt überhaupt nicht in Frage! Obwohl ich mich am liebsten sehr rasch fortbewegen würde, fahre ich ganz vorsichtig, denn ich will nicht riskieren, Virginie ein dreißig Zentimeter langes Messer in die Beine zu rammen. Der Couchtisch, Pauls Hosenbeine, so, da wären wir. Ich ziehe an ihrem Rock.

»Was hast du vor? Willst du mich in Scheiben schneiden?«

Das Schlimme ist, ich habe den Eindruck, daß sie sich diese Frage ernsthaft stellt. Ich umklammere den Griff und presse den Arm fest gegen die Seite des Rollstuhls, die Messerklinge steht nach oben. Ich hoffe, daß Virginie jetzt versteht, was ich vorhabe. Ich weiß, daß die scharfe Klinge des Messers zur richtigen Seite zeigt, denn der Griff ist geschwungen, da kann man sich nicht irren. Er ist ergonomisch geformt, das stand damals auf der Verpackung. Virginie gähnt ausgiebig:

»Du willst die Schnur durchschneiden?«

Ich hebe die Hand und drücke sie an das Rad des Rollstuhls.

»Aber du kannst doch nichts sehen, du wirst mir in die Beine schneiden!«

Deshalb sollst du ja auch deine Beine in die richtige Position zum Messer bringen, Virginie, los, mach schon, denk nach!

Waren da nicht Schritte auf dem Gang? Nein, falscher Alarm. Virginie hat wohl nachgedacht, denn plötzlich spüre ich ihre Schuhsohlen an meinem Arm.

»Ich werde es machen, beweg dich nicht!«

Ich denke nicht daran. Sie rutscht auf dem Sofa soweit herab, bis sich das Messer zwischen ihren Knöcheln befindet. Dann beginnt sie, die Beine vor und zurück zu bewegen. Ich konzentriere mich darauf, das Messer festzuhalten. Es ist ein angenehmes Gefühl, ein Messer zu haben, ich hätte nie gedacht, daß es so beruhigend sein könnte, ein ordentliches Fleischmesser in der Hand zu halten. Die Nylonschnur löst sich.

»Klasse! Und jetzt die Hände.«

Sie steht auf, kniet sich mit dem Rücken zu mir hin und beginnt erneut, sich vor und zurück zu bewegen, wobei sie ununterbrochen gähnt. So, gleich haben wir’s geschafft, die Schnur gibt nach. So weit, so gut. Jetzt mußt du uns die Tür aufmachen, Virginie. Mach die Tür auf …

Ich fahre rückwärts bis zur Tür, um ihr klarzumachen, was ich will. Ich höre ihre Schritte.

»Papa … Yvette … Elise, Papa und Yvette sind hier. Sie bewegen sich nicht, ich kann nichts sehen, weil es hier ganz dunkel ist, ich werde die Rolläden hochziehen …«

Nein, auf gar keinen Fall!

»Ich krieg’ sie nicht hoch, sie sind blockiert. Papa … Papa, sag doch was! Hör auf, mich anzustarren, sag was!«

Ich spüre, wie ich eine Gänsehaut bekomme, ich bete, daß sie nicht auf seinen Schoß klettert, aber ich weiß, daß sie es tun wird, und dann wird sie schreien und dann … Jemand hat auf den Fahrstuhlkopf gedrückt, ich höre, wie sich der Aufzug in Bewegung setzt. Virginie, ich bitte dich, meine Kleine, rasch!

»Wir müssen einen Arzt holen, Papa ist schwer verletzt und Yvette auch!«

Sie ist jetzt ganz dicht neben mir, ich spüre, wie ihre kleinen, geschickten Finger nach dem Riegel suchen, sie schiebt ihn zurück, gut, aber was macht sie jetzt? Virginie! Ich spüre sie nicht mehr. Virginie, wo bist du? Das ist jetzt wirklich nicht der richtige Augenblick, ein Versteckspiel anzufangen! Nichts, nur ein paar undeutliche Geräusche. Ich atme tief durch und zähle ganz langsam bis zwanzig. Ich höre, daß sie sich rechts von mir bewegt. Ein neues Spiel? Das Schlimmste, wenn man nicht sprechen kann, ist, daß man die Leute nicht anbrüllen, sie nicht anschnauzen, ihnen keine Befehle erteilen, sie nicht beschimpfen kann … Was würde ich darum geben, wenn ich jetzt jemanden beschimpfen könnte. Ein Luftzug zu meiner Rechten, ah, endlich, die Tür öffnete sich und …

»Was machen Sie denn hier?« fragt Jean Guillaume und schiebt mich ins Zimmer zurück.

»Sie hat uns erwartet«, erwidert Hélène und schließt die Tür wieder.

Ihre Hand legt sich auf die Rückenlehne des Rollstuhls, und sie zieht mich langsam zurück. Ich verstehe nicht. Warum hat Hélène Guillaume mitgebracht? Und Virginie? Warum spricht Hélène nicht mit ihr?

»Yvette!« ruft Guillaume plötzlich völlig entsetzt. »Yvette!«

»Sie hört Sie nicht«, erklärte Hélène.

»Sie muß hier raus. Und Paul, mein Gott!«

»Keiner rührt sich von der Stelle«, befiehlt Tony-Yssart mit Grabesstimme.

Ich verstehe überhaupt nichts mehr. Ich glaube, ich werde verrückt. Woher kommt er jetzt? Woher kommen die anderen alle? Was haben sie in Benoîts Wohnung zu suchen? Und Yvette? Wollen sie sie etwa auf dem Sofa krepieren lassen? Mein armer Kopf ist kurz davor zu explodieren.

»Setzen Sie sich.«

Ich höre, wie sich jemand bewegt, sich schwer auf das Sofa fallen läßt, das muß Guillaume sein. Hélène muß sich in einen der Sessel gesetzt haben. Und Virginie? Wieso bemerken sie sie nicht? Sie ist doch schließlich nicht durchsichtig!

Ich habe noch immer das Messer, halte es gegen das Rad des Rollstuhls gedrückt. Stehe ich neben Yssart? Er schwadroniert lauthals:

»Hélène, du hättest dich vorher vergewissern sollen, ob deine Waffe auch mit echten Kugeln geladen ist. Wußtest du nicht, daß Benoît sie durch Platzpatronen ersetzt hat?«

Schon wieder fällt Benoîts Name! Ja, Benoîts Beretta, ich erinnere mich, die hatte er in seinem Nachttisch, wir haben uns deswegen gestritten. Ich mag keine Waffen. Um mich zu beruhigen, erzählte er mir, daß sie nur mit Platzpatronen geladen sei. Darauf erwiderte ich ihm, daß ich nun noch weniger verstünde, warum er eine Waffe im Hause habe … Aber warum hat sie Benoîts Beretta?

»Du sagst ja gar nichts!« fährt Tony in seiner Rolle als »Zeremonienmeister« fort.

Ich stelle mir die Situation vor: Er steht vor uns, elegant, eine Waffe auf uns gerichtet; Guillaume kauert in einer Ecke; Hélène ist vollkommen außer sich; Pauls steifer Leichnam; die ohnmächtige Yvette; ich im Rollstuhl. Ein wahnsinniges Bild.

Die Beretta in dem Nachttisch, auf dem der Radiowecker stand …

»Lassen Sie uns gehen. Yvette braucht dringend Hilfe«, fleht Guillaume.

und ein Glasschälchen, in das Benoît abends seine Uhr neben …

»Ich habe schon einen Krankenwagen gerufen«, meint Tony. »Fällt Ihnen nicht auf, daß es hier sehr eigenartig riecht?«

das Laguiole-Messer mit dem gelben Schildpattgriff legte!

»Sie sind widerlich«, murmelt Guillaume. »Sehen Sie denn nicht, daß Paul …

»Ich spreche nicht von Paul. Ich spreche von den Reliquien, die sich in dem Kasten dort befinden.«

»In dem Kasten?«

Guillaumes Stimme klingt gedämpft.

»Ja, in dem Kasten aus Ebenholz, dort auf dem Sideboard.«

Ich erinnere mich, es ist ein länglicher, mit Satin ausgeschlagener Kasten, in dem ein japanischer Säbel liegt. Reliquien? Was meint er damit? Ich habe Angst vor der Wahrheit.

»Hélène, möchtest du ihn nicht aufmachen?«

»Du Idiot.«

»Hélène war noch nie um eine Antwort verlegen. In diesem Kasten, lieber Monsieur Guillaume, befinden sich liebe Erinnerungsstücke an die Morde: Die Hände des kleinen Michael Massenet, das Herz von Mathieu Golbert, der Penis von Joris Cabrol …«

»Joris!«

»Ja, und es war nicht der Zug, der ihn kastriert hat … Ich fahre fort: Der Skalp samt Haaren von Renaud Fansten und die dunklen Augen von Charles-Eric Galliano, Augen, auf deren Netzhaut sich vielleicht das fratzenhafte Gesicht des Mörders eingeprägt hat.«

Guillaume überkommt offensichtlich Übelkeit, ich höre, wie er murmelt:

»Seien Sie endlich still!«

»Schweigen nützt nichts«, erwidert Tony, »wenn die Dinge existieren, existieren sie eben, selbst wenn Gott uns wirklich nichts erspart. Ist Ihnen noch nie aufgefallen, daß die meisten Mörder sich ähnlich verhalten wie die Menschen, die sich mit Schwarzer Magie beschäftigen? Sie heben häufig etwas von ihren Opfern auf, ein Stück Fleisch, ein Stück Haut, etwas Blut.«

Hat Benoîts Messer etwa dazu gedient, die Augen des Kleinen herauszuschneiden?

»Das ist nicht wahr, Sie lügen«, protestiert Guillaume schwach. Ich spüre, daß er völlig verwirrt ist.

»O doch, es ist wahr. Öffnen Sie den Kasten und sehen Sie selbst.«

»Sie sind verrückt!«

»Sicher. Machen Sie schon.«

Schweigen. Dann ein Klicken. Schließlich ein erstickter Aufschrei:

»Mein Gott! Es ist grauenhaft! Hélène, es ist wahr, die Sachen sind da … Sie Ungeheuer! Wie konnten Sie das tun? Ich würde Sie am liebsten eigenhändig umbringen!«

»Wir glauben alle ein wenig an Zauberei, oder? Zum Beispiel daran, daß wir, indem wir jemanden zerstören, zu einem neuen Menschen werden könnten, oder daran, daß wir, wenn wir die einzelnen Teile eines Menschen zusammentragen, ein geliebtes Wesen zu neuem Leben erwecken können – wie die Göttin Isis …«

Schon wieder Isis!

»Das ist doch Schwachsinn!« unterbricht ihn Hélène.

»Ach ja? Aber das heißt nicht, daß eine Sache nicht passiert, nur weil sie schwachsinnig ist, oder? Das Ritual zur Auferstehung eines geliebten Wesens wird detailliert im Satanischen Handbuch von Lewis F. Gordon beschrieben, ein Werk, das in jeder guten Bibliothek zu finden ist. Ehrlich gesagt hat es, außer ein paar Geistesgestörten, kaum jemand ernst genommen.«

Worauf will er hinaus? Will er sich rechtfertigen?

Das Messer, auf das Benoît so stolz war, bohrt sich in das Fleisch eines kleinen Gesichts mit blauverfärbten Lippen …

»Die Schwarze Magie hat den Vorteil, daß sie häufig von den wahren Motiven der Person, die sich ihrer bedient, ablenkt. So verbirgt sich zum Beispiel hinter dem Wunsch der Frau, die ihren Geliebten verhexen will, um seine Liebe zu erringen, ein zerstörerischer Trieb, ein Streben nach Einswerdung und Kastration. Dieses Ritual ist ganz auf dieses Ziel ausgerichtet. Und da es von rein egoistischen Motiven gelenkt ist, wird das Leid des anderen, dessen man sich als Werkzeug bedient, völlig außer acht gelassen. Das ist typisch für einen Massenmörder, der im Mitmenschen ebenfalls nur ein Objekt sieht.«

Erspar uns deinen Vortrag. Wie kann er hier so ruhig dozieren? Idiotische Frage: Wieso benimmt sich ein Verrückter verrückt? Ich höre weder Guillaume noch Hélène, keiner sagt einen Ton, sie müssen alle mit offenem Mund dasitzen.

»Wer kann schon sagen, wo für einen Massenmörder die Grenze verläuft – zwischen einem einfachen Blutrausch und dem magischen Wunsch, ein verlorenes Universum wiederherzustellen?«

Sprich ruhig weiter, dann kann ich dich besser orten, du stehst dicht neben mir, wenn ich den Arm hebe, dann könnte ich dir das Messer in den Oberschenkel rammen, und dann … ja, dann gerät er aus dem Gleichgewicht, es ist unsere einzige Chance, auch auf die Gefahr hin, daß er abdrückt …

»Ich vertrete die Theorie, daß ein Massenmörder auch immer, ohne es zu wissen, ein Hexenmeister ist, aber das steht hier nicht zur Debatte.«

Ich werde bis drei zählen, und dann werde ich es tun …

Eins, zwei, drei.

Die Klinge bohrt sich in sein Fleisch, als sei es Butter, etwas Warmes spritzt mir ins Gesicht, er stürzt mit einem überraschten Schmerzensschrei zu Boden, ein Schuß löst sich. Lärmendes Durcheinander.

»Keiner rührt sich von der Stelle, ganz ruhig!« ruft Hélène.

Daraus schließe ich, daß sie sich die Waffe geschnappt hat. Gott sei Dank!

»Elise, warum haben Sie das getan?« murmelt Tony dicht neben mir.

Ich stelle mir vor, daß er sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den Oberschenkel hält.

Wieso ich das getan habe? Um nicht in diesem Wohnzimmer zu krepieren, wo es nach Tod und Wahnsinn stinkt, darum!

»Jean, fesseln Sie ihm die Hände mit der Krawatte auf den Rücken«, befiehlt Hélène mit ruhiger Stimme.

Guillaume tut, was sie sagt. Ich sitze noch immer mit dem Messer in der Hand da.

»Elise, lassen Sie das Messer los, sonst verletzen Sie womöglich noch jemanden«, sagt Hélène und greift danach.

Ich will es nicht loslassen, ich umklammere den Griff, es ist beruhigend, das Messer in der Hand zu spüren.

»Also wirklich, Elise, das ist doch lächerlich.«

»Lassen Sie es nicht los«, sagt Tony mit schmerzerstickter Stimme.

Soviel steht fest, der Typ ist mehr als verrückt.

Ich zögere. Er flüstert mir zu:

»Elise, erinnern Sie sich daran, was ich Ihnen über Rätsel gesagt habe?«

Aber was will er bloß von mir?

»Virginie wußte nicht, daß ich ihr Vater bin.«

Was ändert das?

Das ändert alles. Virginie hatte nicht den geringsten Grund, jemanden zu schützen, den sie nicht kannte … Ich höre noch ihr zartes Stimmchen: »Papa ist schwer verletzt.« Also lügt Tony nicht, dann … wie konnte ich nur so dumm sein!

Ich hebe ruckartig den Arm, um mich zu schützen, aber es ist zu spät: der Pistolenkolben saust mit aller Wucht auf meinen Schädel nieder, während Hélène mit liebenswürdiger Stimme meint:

»Das hat aber ganz schön lange gedauert, bis Sie es begriffen haben!«

Vom Schlag benommen, lasse ich das Messer los. Ich höre, wie Guillaume nach Luft ringt, als würde er gleich ersticken.

»Stehen Sie nicht einfach so herum, Jean. Setzen Sie sich neben Yvette und strecken Sie die Hände vor … so ist es gut. Ich warne Sie, keine falsche Bewegung, schließlich möchte ich Yvettes schöne Stirn nicht mit einem dritten Auge zieren. Also, haben wir alle beisammen? So, jetzt fehlt nur noch die Kirsche auf unserem Kuchen. Virginie, wo bist du, mein Liebling? Virginie?«

Ich bekomme eine Gänsehaut, als ich diese fröhliche Hausfrauenstimme höre, und mit einem Schlag wird mir klar, wie schrecklich Wahnsinn sein kann.

»Hélène, ich begreife nicht … Was soll das heißen?« fragt Guillaume fassungslos.

»Das heißt, du sollst die Klappe halten und dich nicht von der Stelle rühren, klar?«

»Hélène! Aber das kann nicht wahr sein! Sagen Sie mir, daß das nicht wahr ist!«

»Sie hat sie alle umgebracht!« ruft Tony, der neben dem Rollstuhl am Boden liegt.

»Ist das wahr?« fragt Guillaume ungläubig.

»Sie stellen vielleicht dumme Fragen, mein lieber Guillaume. Wer soll es denn sonst gewesen sein? Ihre geliebte Yvette vielleicht?«

»Und Paul? Was ist mit Paul?«

»Paul war sehr unhöflich zu mir. Ihm hat der Inhalt des Kastens überhaupt nicht gefallen. Er hat den Wert meiner Sammlung nicht verstanden. Er hat mich angeschrien und ganz fürchterliche Dinge über mich gesagt … Ich mag es nicht, wenn man mich anschreit.«

»Und Stéphane? Warum Stéphane?« fragt Tony. »Er hat dir doch gar nichts getan!«

»Stéphane? Er wurde lästig. Er wollte mich ganz für sich allein haben. Armer Stéphane. Als ob ich einem einzigen gehören könnte … Das muß man sich mal vorstellen, Elise, Männer sind so arrogant und dumm! Außerdem bekam er es mit der Angst zu tun. Als er hörte, daß die Polizei nach einem weißen Kombi suchte, kriegte er Schiß, der arme Dummkopf. Er wußte, daß ich mir den Wagen häufig ausleihe. Er hat angefangen, sich Fragen zu stellen. Was er nicht wußte, war, daß ich diejenige gewesen bin, die die Polizei auf seine Spur gebracht hat. Ich war es, die anonym die Polizei verständigt hat, nachdem ich auf einigen alten Kleidungsstücken Blutspuren hinterlassen und die Sachen in der Forsthütte deponiert hatte, der Ort, wo ich mich um den kleinen Michael gekümmert hatte. Ich mußte einen Schuldigen finden, der Polizei einen Schuldigen liefern, so wie man einem Hund einen Knochen hinwirft, also … bye, bye, Stéphane.«

»Und Sophie? Ist Sophie …?« stammelt Guillaume bestürzt.

»Aber ja, mein lieber Guillaume, das war auch ich. Machen Sie den Mund wieder zu, Sie sehen so schon dumm genug aus! Sophie wußte zuviel. Sie wußte von Benoît.«

Was wußte sie? Ich versteh’ überhaupt nichts mehr. Hélène fährt fort: »Sophie hatte eine große Klappe. Sie war eine richtige Klatschbase. Ich konnte doch nicht zulassen, daß sie herumlief und mich und meine Person durch den Schmutz zog.«

Person. Sie bezeichnet sich als Person. Gibt es denn eine echte Hélène?

»Da war doch ein Selbstmord die einfachste Lösung, oder?« erzählt Hélène, von sich begeistert.

»Ich verstehe nicht«, stammelt Guillaume. »Ich glaube, ich verstehe das nicht … Hélène, das kann unmöglich wahr sein … Die Kinder, Stéphane, Sophie, Paul, das sind neun Menschen!«

»Halt die Klappe, verdammter Mistkerl!«

Er stößt einen kurzen Schrei aus, ich nehme an, daß sie ihm mit der Pistole einen Schlag versetzt hat. Ich kann mir gut vorstellen, wie sie ihm ganz beiläufig die Zähne ausschlägt.

Ein Streichholz wird angezündet. Kerzengeruch. Was macht sie jetzt? Warum habe ich bloß das Messer hergegeben?! Blut tropft mir in die Augen, der Schlag mit dem Pistolenkolben muß mich am Kopf verletzt haben. Ich kann mir das Gesicht nicht abwischen, ich spüre, wie das Blut über meine Lippen läuft, nehme seinen typischen Geruch wahr, das widert mich an, alles widert mich an, ich fühle mich weit von der Realität entfernt, nur noch in Angst und Grauen verstrickt.

»Sie hatten nicht das Recht, mir Max wegzunehmen.«

Max. Aber wer ist Max?

»Ich habe ihn so sehr geliebt.« Hélènes Stimme klingt jetzt rachsüchtig. »Er war mein ein und alles. Mit ihm sollte alles wieder gut werden, wollte ich die Schläge vergessen, die Angst, Leid durch Liebe ersetzen.«

»Und du glaubst, wenn du Kinder erwürgst, könntest du damit Leid durch Liebe ersetzen?« fragte Tony spöttisch.

»Wie kannst du nur so vulgär sein! Ich frage mich, wie ich mich zu jemandem wie dir hingezogen fühlen konnte, zu einem armen, schizophrenen Alkoholiker, zu einem Stück Dreck. Was weißt du schon von Liebe? Deine Mutter hat sich nie um dich gekümmert, dein Vater ist ein halber Penner … Liebe, was ist das für dich, Tony? Ein Krankenhausbett? Das künstliche Lächeln einer gestreßten Krankenschwester? Ein Teller Suppe, wenn es draußen kalt ist? Du klammerst dich hartnäckig an das Leben in dem Glauben, daß eines Tages alles wieder gut wird, aber leben heißt leiden. Leben bedeutet Schmerz, immerzu, immerzu. Du sagst, ich habe sie getötet, ich sage, ich habe ihnen Leid erspart, ihnen Frieden gegeben, den süßen Frieden des Todes. Ich verlange auch gar nicht, daß du mich verstehst. Es ist mir egal, ob man mich versteht oder nicht. Ich bin frei. Ich unterliege nicht euren dummen Moralvorstellungen. Wenn es eine Moral gäbe, wäre Max noch da … Mit ihm wäre alles anders geworden. Ich hätte die Gewalt vergessen können, den bitteren Geschmack der Gewalt, die Angst, doch so ist es nicht gekommen, das Rad des Schicksals hat sich in eine andere Richtung gedreht …«

»Aber wer ist Max?« wundert sich Guillaume.

»Ein Engel. Max war ein Engel. Ein Engel der Erlösung. Er ist gestorben, um das Leid der Welt zu sühnen.«

»Eine Art Jesus?« fragt Guillaume, der, so vermute ich, sich bemüht, sie zum Reden zu bringen.

»Wenn Sie es so sehen wollen …«, meint Hélène ironisch. »Genug von Max gesprochen, das Thema ist beendet. Jetzt …«

Sie beendet den Satz nicht, so als überlege sie.

»Und jetzt?« wiederholt Guillaume mit dumpfer Stimme.

»Jetzt muß ich gehen. Es tut mir leid, meine lieben Freunde, aber ich kann euch leider nicht mitnehmen.«

Eine wahnsinnige Hoffnung keimt in mir auf: Sie geht? Geht sie wirklich?

»Aber ich kann euch auch nicht allein zurücklassen … Aber seid unbesorgt, das Feuer der Freundschaft wird stets zwischen uns brennen.«

Das Feuer der Freundschaft? Das Streichholz … die Kerze … oh, verflucht …

»Ich werde den Kasten mitnehmen, dessen Inhalt unser guter Tony so grandios analysiert hat, und dann werde ich gehen. Freut mich, eure Bekanntschaft gemacht zu haben. Elise, ich hoffe, daß Sie schrecklich leiden werden, ich habe Sie immer gehaßt. Und gestatten Sie mir diese Bemerkung: Ihre Frisur ist wirklich grauenhaft.«

Das ist doch grotesk. Das einzige, was ihr einfällt, bevor sie uns alle bei lebendigem Leib verbrennen läßt, ist, daß meine Frisur häßlich ist! Das ist doch wirklich zum Weinen!

»Ich weiß wirklich nicht, was er an Ihnen gefunden hat.«

Er? Wer ist ›er‹? Sie meint doch nicht etwa …

»Der liebe, gute Benoît … Er wollte Ihnen alles nach dem Urlaub beichten, aber leider, leider hatte er dazu nicht mehr die Gelegenheit, und so haben Sie die letzten Minuten mit ihm verbracht …«

Mir was beichten? Ich will es nicht hören. Benoît wird doch nicht …

»Ein paar Monate, nachdem ich die Seele des kleinen Charles-Eric befreit hatte, habe ich das erste Mal mit ihm geschlafen. Er wollte, daß ich Paul verlasse und wir zusammen weggehen. Aber ich konnte nicht, Renaud wurde acht, er hatte das gleiche Lächeln wie Max, und sein Haar war so weich, so glänzend … Sie verstehen, ich mußte es tun … also konnte ich Benoîts Bitten, mit ihm wegzugehen, nicht nachgeben.«

Ein Sturm tobt in mir. Ein doppelter Sturm. Sie hat Renaud getötet, sie hat den Sohn ihres Mannes getötet. Und Benoît und sie … Benoît hat mich betrogen, Benoît hat mich angelogen, Benoît, mein Benoît mit dieser …

»Hören Sie nicht auf Sie! Benoît hat Sie geliebt, aber Hélène ließ einfach nicht locker, sie klebte an ihm wie Pech«, ruft Tony.

»Sei still!«

Das Geräusch von Schlägen.

»Ich bin froh, daß Sie zusammen mit Tony sterben werden. Ich weiß nicht, wen von euch beiden ich mehr hasse: Tony, den Oberlehrer, oder die ach so reizende Elise …«

»Hélène! Ist dir klar, daß du all diese Kinder getötet hast? Für nichts und wieder nichts! Daß sie tot sind, endgültig tot, daß von ihnen nichts mehr übrig ist außer ein paar Fetzen Fleisch, mit denen du nichts anfangen kannst«, sagt Tony langsam und deutlich. »Stücke von menschlichen Kadavern, die verwesen werden!«

»Tony, Liebling, ich mache mir Sorgen um dich, große Sorgen, du bist immer so rational … Du verstehst nichts, rein gar nichts … (Ihre Stimme überschlägt sich.) Du hast es nie begriffen, sie sind nicht tot, hörst du, sie haben ihren Frieden gefunden, sie sind bei mir, in mir, für immer, und nicht auf dieser schlechten, verkommenen Welt, sie gehören mir!«

»Sie sind tot, Hélène, einfach tot, und sie gehören niemandem mehr …«

Sie holt tief Luft, und ihre Stimme wird gefährlich sanft.

»Mein armer Tony, ich mache mir wirklich Sorgen …«

Sie kommt näher, man hört einen heftigen Schlag, irgend etwas zerbricht und Tony schreit kurz auf, dann noch einmal.

»Tony, Liebling, ich glaube, ich habe dir die Nase gebrochen … Du kriegst aber noch Luft, oder? Egal, bald kannst du sowieso nicht mehr atmen.«

Sie lacht, es ist ein ganz hohes Lachen, das entsetzlichste Lachen, das ich jemals gehört habe.

»Und Sie, Elise, wollen Sie gar nichts sagen? Nichts zu diesem historischen Augenblick beisteuern?«

Benoît hat mich betrogen.

Ich werde bei lebendigem Leib verbrannt.

»Wissen Sie, angeblich ist es so … daß man erstickt. Denken Sie an Jeanne d’Arc. Eine Nationalheldin. Und es heißt, daß ihr Freund, Gilles de Rais, zum Tod verurteilt wurde, weil er an die fünfzig Kinder gefoltert und ermordet haben soll. Eine amüsante Parallele, finden Sie nicht?«

Ja, zum Totlachen. Elise d’Arc und Hélène de Rais. Ein Monumentalfilm an Originalschauplätzen gedreht. Aber das ist einfach nicht wahr! Ich werde nicht auf diese Art und Weise sterben!

»Virginie! Komm aus deinem Versteck, mein Liebling, Mama muß jetzt gehen.«

Wo ist sie? Sie darf ihr Versteck nicht verlassen. Hélène wird sie irgendwo festbinden und sie mit uns zusammen dem Flammenmeer überlassen, ich spüre am Klang ihrer Stimme, daß sie sich in einer anderen Dimension befindet, in einer Dimension, in der kein Platz mehr ist für menschliche Gefühle. Bleib, wo du bist, Virginie, ich flehe dich an!

»Virginie! Mama wird sehr ärgerlich werden, und du weißt, was für schlimme Dinge passieren, wenn Mama böse wird.«

Ich spüre, wie mir Tränen über die Wangen laufen. Und ich höre noch jemanden, jemanden, der leise weint. Ich denke, es ist Jean Guillaume. Yvette ist nicht wach geworden. Sie wird sterben, ohne etwas zu spüren.

»Na, dann eben nicht, Virginie, Mama geht jetzt. Ach, ich habe meine Kassette vergessen. Haben meine Aufnahmen Sie gut unterhalten, Elise? Es hat viel Spaß gemacht, sie zusammenzutragen, wissen Sie, mit einem dieser kleinen Diktiergeräte … die sich von allein einschalten, sobald jemand spricht.«

Anscheinend bedient sie das Gerät, dann hört man eine Stimme, die sagt: »Es ist schon spät, wir müssen los. Gute Nacht, Yvette, gute Nacht, Elise, gute Nacht, Jean.«

Pauls Stimme. Es ist eigenartig, einen Toten sprechen zu hören. Vor allem, wenn er für uns eine eher belanglose Nachricht hat. Das Band wird vorgespult, jetzt hört man Yvette:

»Schön, daß sie gekommen sind. Rufen Sie an, Hélène.«

»Von wegen!« meint Hélène höhnisch. »Nun, mit dem Feuer werdet ihr alle Sorgen, die das Leben so mit sich bringt, mit einem Schlag los. Elise wird keinen Rollstuhl mehr brauchen, Tony muß nicht mehr in die Irrenanstalt, Jean können seine Cholesterinwerte egal sein … Also dann, auf Wiedersehen … Na, Jean, nun weinen Sie mal nicht! Seien Sie tapfer! Ich muß jetzt gehen, ich habe noch eine Aufgabe zu erfüllen …«

Ein knisterndes Geräusch. Ein unverkennbares Knistern und der Geruch einer Kerze.

»Virginie! Du hast genau zehn Sekunden, um herzukommen!«

»Sie hat den Volant am Sofa in Brand gesetzt«, informiert mich Tony mit seiner wegen des gebrochenen Nasenbeins verzerrt klingenden Stimme.

»Ich hab’ gesagt, du sollst das Maul halten, du mieses Schwein!«

Ich spüre, wie ihr Bein mich streift, als sie ihm ins Gesicht tritt. Tonys Kopf prallt gegen die Wand. Er sagt nichts, kann aber ein leises Stöhnen nicht unterdrücken. Das Knistern der Flammen wird immer lauter, ich spüre sie, sie sind real, ich spüre ihre Hitze, wir werden alle sterben, ICH WILL

NICHT! Mein Arm schnellt mit geballter Faust vor und trifft auf etwas Weiches, ihren Magen, sie krümmt sich, ich betätige den Knopf, und der Rollstuhl macht einen Satz, fährt frontal gegen ihre Beine, sie taumelt, ich höre, wie sie mit einem spitzen Aufschrei umfällt, das Geräusch des umstürzenden Tisches, ich fahre weiter vorwärts, die Räder holpern über ihre Knöchel und plötzlich stößt sie einen furchtbaren Schrei aus.

»Mein Gott, ihre Haare …«, murmelt Guillaume.

Hélène brüllt. Ein Luftzug, Brandgeruch. Sie läuft um mich herum.

Ihre Haare haben Feuer gefangen.

»Zurück!« brüllt Tony.

Ich fahre rückwärts, der Rollstuhl kracht gegen die Wand.

Ein dumpfer Knall. Hélène stößt einen Schrei aus, der an ein wildgewordenes Tier erinnert.

»Ihr Kleid«, sagt Tony, als würde er ein Spiel der Fußballweltmeisterschaft kommentieren. »Ihr Kleid hat Feuer gefangen. Sie hat sich in eine lodernde Fackel verwandelt.«

Ich muß unwillkürlich an religiös motivierte Selbstverbrennungen denken … aber das hier spielt sich unmittelbar neben mir ab, eine Frau, ein Wesen aus Fleisch und Blut brüllt, und wir spüren die Hitze des Feuers und riechen es, riechen das verbrannte Fleisch … Man muß etwas tun. Ich fahre zur Tür und wie verrückt immer wieder dagegen, irgend jemand in diesem verdammten Haus muß uns doch hören! Ich kann diese Schreie nicht länger ertragen!

»Wenn nicht augenblicklich Ruhe bei Ihnen herrscht, rufe ich die Polizei!« hört man jemanden von unten aufgebracht rufen.

Na los, beeil dich! Ruf schon an! Die Hitze breitet sich im Zimmer aus, die Flammen streifen mich, berühren mich, verbrennen mich. Hélène läuft schreiend durch das Zimmer, stößt gegen Möbel, ich spüre sie, ich spüre sie an meinem Arm, es brennt höllisch, ich spüre, wie ihr Fleisch aufquillt, sich Blasen bilden … und ich spüre ihre Verzweiflung. So hilf ihr doch jemand!

Ich spüre etwas an meinem Bein.

»Elise, das Messer, ich habe es, nehmen Sie es, schnell!« keucht Tony.

Er hat sich halb aufgerichtet und läßt es in meinen Schoß fallen. Meine Hand umklammert den Griff.

»Wir können sie nicht sich selbst überlassen. Halten Sie das Messer senkrecht, ich werde die Krawatte durchtrennen.«

Ja, er hat recht, vielleicht kann er sie ins Badezimmer dirigieren und die Dusche anstellen … Zum zweitenmal innerhalb einer halben Stunde konzentriere ich mich darauf, das Messer festzuhalten, während er versucht, die Krawatte möglichst schnell durchzuschneiden, aber es dauert, und diese Schreie, o mein Gott, diese SCHREIE!

Die Krawatte reißt, Tony steht auf, wobei er sich auf die Rückenlehne meines Rollstuhls stützt, er ruft mit erstickter Stimme: »Hélène«,und ich ahne, daß er versucht, sie zu packen.

»Hélène! Ich kann nicht, das brennt zu stark! Ich muß mein Jackett ausziehen!«

Beeil dich! Hélène hört nicht auf zu schreien, ihre Schreie ändern sich, werden unerträglich schrill, man glaubt nicht, daß diese gellenden Töne von einem menschlichen Wesen stammen, ich habe das Gefühl, daß mir gleich das Trommelfell platzt, ich beiße die Zähne so fest zusammen, wie es nur geht und umklammere mit aller Macht den Griff des Messers, wieviel Zeit ist inzwischen vergangen? Zwei Sekunden? Drei Sekunden? Drei Jahrhunderte? Diese entsetzlichen Schreie lösen bei mir Krämpfe aus, die Flammen kommen näher, ich möchte aufstehen und brüllen, gleich werde auch ich brennen, meine Haare Feuer fangen, ich hebe verzweifelt immer wieder den Arm, um auf mich aufmerksam zu machen, helft mir, so helft mir doch, Hélène läuft im Kreise, sie verbrennt mich, sie verbrennt mich, sie fällt auf mich, ich brenne auch! Ich brenne!

Etwas ist auf meinem Kopf, man stülpt mir etwas über den Kopf, nimmt Hélènes glühendheißen Körper von mir, schlägt mit etwas aus Stoff auf mir herum, Tonys Jackett, er erstickt die Flammen auf meinem Körper, ich bin gerettet, ich bin gerettet …

Das Schreien hat aufgehört. Hélène schreit nicht mehr. Rührt sich nicht mehr.

»Sie ist hineingefallen«, sagt Tony mit kaum hörbarer Stimme. »Dem Himmel sei Dank, sie ist einfach hineingefallen.«

Hineingefallen? Sie ist doch auf mich gefallen …

»Und?« erkundigt sich Guillaume.

»Sie ist tot«, antwortet Tony. »Die Klinge hat ihr Herz durchbohrt.«

Die Klinge? Oh, nein … Das Messer, das ich mit senkrecht stehender Klinge fest umklammert hielt. Ich habe Hélène getötet. Ich, Elise Andrioli, habe jemanden umgebracht. Dieses Messer, das ich in meiner Hand hielt, hat sich in die Brust eines menschlichen Wesens gebohrt. Die Klinge ist blutüberströmt, meine Hand ist blutüberströmt … Das wollte ich nicht …

Man hört das lodernde Geräusch der Flammen in der Stille, die plötzlich in diesem Wohnzimmer herrscht.

»Wir müssen machen, daß wir hier herauskommen!« ruft Guillaume.

Tony legt mir etwas in den Schoß und öffnet die Tür zum Gang, genüßlich sauge ich den Zementgeruch, die kühle Luft ein. Tony schiebt mich aus der Wohnung, Jean Guillaume folgt uns, ich spüre Yvettes Beine an meiner Wange, Guillaume läuft zum Fahrstuhl. Die Tür öffnet sich wie von Zauberhand. Hinter uns lodert das Feuer. Plötzlich durchfährt mich ein eisiger Schreck: Virginie! Ist Virginie noch in der Wohnung? Ich hebe hektisch die Hand.

»Sie ist hier, ich halte sie im Arm, sie schläft«, antwortet Tony.

Sie schläft? Wie konnte sie bei den Ereignissen, die sich in der Wohnung abgespielt haben, schlafen?

»Ich habe ihr Hexobarbital gespritzt. Sie wird erst in ein paar Stunden aufwachen. Ich wollte nicht, daß sie etwas mitbekommt. Unglaublich wirksam, dieses Hexobarbital. Sie haben es mir sechs Jahre lang verabreicht. Ich war die Ruhe selbst! Eigentlich hätte sie überhaupt nicht wach werden sollen, aber ich habe es falsch dosiert. Ich war gerade dabei, die Wohnung nach Benoîts Jagdgewehr zu durchsuchen …«

Ach, damit hat Hélène mich am Kopf verletzt …

»… dabei entdeckte ich den Kasten samt Inhalt. Auf einmal wurde sie wach, aber ich konnte nicht einschreiten, denn ich wollte nicht, daß Sie meine Anwesenheit bemerken. Damit Hélène ein Geständnis ablegte, mußte sie überrumpelt werden. Ich wartete, bis Virginie sich dank Ihrer Hilfe befreien konnte, dann habe ich mich, während sie versuchte, die Tür zu öffnen, angeschlichen und ihr eine zweite Spritze gegeben.«

Jetzt wird mir einiges klar. Und ich dachte, sie spielt Verstecken … Da habe ich mich ganz schön dumm angestellt.

Aber wo war sie? Wie hat er es geschafft, daß niemand sie gesehen hat? Der Typ hat anscheinend wirklich einen sechsten Sinn, denn er antwortet mir, als habe er meine unausgesprochene Frage gehört:

»Als sie das Bewußtsein verlor, habe ich sie hinter dem großen Ledersessel, der an der Wand stand, versteckt. Sie standen mit Ihrem Rollstuhl davor, waren sozusagen der Sichtschutz.«

Alles ganz einfach, da muß man keine großen Worte machen. Und was gibt es Normaleres als eine Wohnung in Flammen, in der zwei Leichen verkohlen?

Ich habe noch nicht einmal bemerkt, daß der Aufzug schon fährt. Guillaume flüstert immer wieder mit gepreßt klingender Stimme Yvettes Namen. Die Fahrstuhltür öffnet sich. Wir sind draußen. Es regnet, ein kalter Nieselregen. Schön kalt. Ich spüre auf einmal die Schmerzen an den Stellen, wo ich mich verbrannt habe. Ich höre Sirenengeheul. Ich sehe uns, wie wir vor dem Haus stehen: Tony mit seiner Tochter im Arm, Guillaume, der Yvette trägt und mich, mit Brandblasen übersät. Und mit dieser Sache, von der ich nicht weiß, was es ist, die Tony auf meinem Schoß deponiert hat.

»Ich verständige die Polizei«, sagt Tony mit dieser merkwürdig dumpf klingenden Stimme. »An der Ecke ist eine Telefonzelle.«

»Die Flammen schlagen aus dem Fenster«, sagt Jean Guillaume, nachdem Tony gegangen ist.

Völlig unzusammenhängend fragt er mich:

»Glauben Sie, sie wird durchkommen?«

Ich vermute, daß er von Yvette spricht. Wie soll ich das wissen, ich kann ja nicht einmal ihre Verletzungen sehen?

»Wenn sie das überlebt, heirate ich sie.«

Es ist schön, wenn man Zukunftspläne schmieden kann. Ich dagegen habe das Gefühl, eine gebrechliche alte Frau im Rollstuhl zu sein, die man im Stich gelassen hat. Das einzige, was mir geblieben war, war die Erinnerung an Benoît, und jetzt … habe ich nicht einmal mehr das: Benoît hat mich betrogen, dieser große Teil meines Lebens war eine Lüge. Benoît ist tot, ich bin allein, ich bin um Haaresbreite dem Tod entkommen, meine beste Freundin war eine Kindermörderin, Yvette wird vielleicht sterben … und wir stehen vor einem Haus und hören mit an, wie gerade Benoîts Wohnung abbrennt … Das ist völlig verrückt. Der Krankenwagen ist gleich da, Tony hatte nicht gelogen, er hat ihn tatsächlich gerufen.

»Die Polizei ist schon unterwegs«, berichtet Tony, als er zurückkommt. »Es hatte sie schon jemand alarmiert.«

Sicher der Nachbar aus der unteren Wohnung. Schweigend warten wir, bis der Krankenwagen mit ohrenbetäubendem Lärm eintrifft. Oben in der Wohnung verbrennt gerade Hélènes Leiche … Hätte ich mir jemals träumen lassen, daß Benoîts Wohnung eines Tages als Scheiterhaufen für die Fanstens dienen würde? Er hat Hélène 1993 kennengelernt. Im nachhinein verstehe ich, warum wir uns damals dauernd gestritten haben. Wollte sie Benoît benutzen? Ihn beschuldigen, so wie sie Stéphane beschuldigt hat? Hat sie, weil Benoît tot war, Stéphane zum Sündenbock auserkoren? Benoît. Man hätte meinen Benoît des Mordes beschuldigt! Meinen Benoît, diesen Schuft, diesen Lügner, diesen Ehebrecher. Diesen Dreckskerl!

Der Krankenwagen kommt vor uns zum Stehen. Stimmengewirr. Alle reden durcheinander. Leute rennen aus dem Gebäude, es herrscht das totale Chaos.

»Wir haben lange suchen müssen, die Adresse war nicht korrekt notiert worden.«

»Was ist hier los? Warum steht da ein Krankenwagen?«

»Mein Gott, es brennt! Jacques, es brennt!«

»Wo sind die Verletzten?«

»Verflucht, da oben brennt es! Ruf die Feuerwehr an!«

»Herrschaften, treten Sie bitte zurück …«

»Sind noch Leute in der Wohnung?«

In der Ferne hört man wieder Sirenengeheul.

»Ja, zwei Leichen.«

»Um Gottes willen!«

»Bestimmt haben die das Ganze angerichtet.«

Ich erkenne die bissige Stimme von Monsier Chalier, einem Postbeamten im Ruhestand, der im zweiten Stock wohnt. Aber ich glaube nicht, daß er mich wiedererkennt, o nein.

»Ist die Kleine verletzt?«

»Nein, sie hat Hexobarbital gespritzt bekommen.«

»Okay, kein Problem, wir werden sie mitnehmen. Eine Trage! Und Ihre Nase?«

»Es geht …«

Fahrzeuge bremsen mit quietschenden Reifen, Türenschlagen, laute Stimmen.

»Aber wen haben wir denn da! Mercier, hiermit verhafte ich Sie! Legen Sie sofort das Kind auf den Boden oder ich puste ihnen das Gehirn weg!«

Gassin! Außer sich vor Wut!

»Sie irren sich, Inspektor, er war es nicht«, sagt Guillaume. »Sanitäter, Achtung, ganz vorsichtig, sie ist bewußtlos.«

»Wir wissen schon, was zu tun ist, Monsieur!«

»Er war es nicht? Sie wollen mich wohl auf den Arm nehmen!« tobt Gassin.

»Wirklich, seien Sie bitte ganz vorsichtig, es ist meine Frau … Nein, Inspektor, es war Hélène Fansten, sie hat uns alles gestanden.«

»Hélène Fansten? Hélène Fansten soll die Mörderin gewesen sein? Und warum nicht gleich Aschenputtel? Hast du das gehört, Mendoza? Vielleicht hätten Sie die Güte, etwas deutlicher zu werden!«

»Wo sind Sie verletzt?«

»Sie kann Ihnen nicht antworten, sie ist stumm.«

»Sie ist blutüberströmt und mit Brandblasen übersät. Verständige die Zentrale, sag ihnen, wir bringen Brandopfer mit. Was ist das für ein Kasten da in ihrem Schoß?«

Der Kasten? Der Mistkerl hat die Frechheit besessen, mir den Kasten zu geben?

»Das ist für Inspektor Gassin. Da, Inspektor«, sagt Tony, als würde er ihm Bonbons anbieten, »öffnen Sie den Kasten.«

»Wenn das wieder einer Ihrer dummen Scherze sein sollte, Mercier, ich schwöre Ihnen, dann … Um Gottes willen! Sie mieser … Sie haben genau gewußt, was da drin ist!«

Wenigstens werde ich nie den Inhalt dieses Kastens sehen. Aber gibt es etwas Schlimmeres, als ihn sich vorzustellen? Die kleinen verkrümmten Fingerchen, die glasigen Augen …

»Ich dachte, das würde Sie interessieren«, meint Tony unbekümmert.

»Wo haben Sie das her?« will Gassin wissen, dessen Stimme auf einmal ganz tief klingt.

»Pardon, Inspektor, aber wir müssen sie in die Notaufnahme bringen …«

»Was machen wir wegen der Wohnung, Chef? Da oben liegen zwei Leichen …«

»Haben Sie sich mal seine Nase angesehen? Sie ist gebrochen, Inspektor.«

»Antwortet mir jetzt gefälligst jemand?!« brüllt Gassin.

»In fünf Minuten werde ich Ihnen alles erklären, aber sagen Sie, Sie haben nicht zufällig etwas zu trinken?« erkundigt sich Tony seelenruhig.