8

Schon wieder eine Beerdigung. Doch diesmal bin ich dabei. Da das Wetter schön ist, hat Yvette beschlossen, mich im Rollstuhl hinzufahren. Wir gehen in aller Ruhe zu Fuß. Paul und Hélène sind mit dem Wagen gefahren und haben angeboten, uns mitzunehmen, aber Yvette wollte lieber laufen. Sie sagt, bald kommt der Winter, und wir müßten das schöne Wetter nutzen. Also nutzen wir es.

Wenn die Straße geradeaus verläuft und frei ist, läßt mich Yvette auf den Knopf drücken und selbst fahren. Brumm, brumm … Das schlimmste ist, daß ich begeistert bin. Das Geräusch der Räder auf dem Asphalt, das raschelnde Laub, die Sonnenstrahlen auf meinem Arm, und einfach langsam so vor sich hinzufahren, das ist wirklich angenehm. Ich könnte darüber fast den Anlaß dieser kleinen Spazierfahrt vergessen.

Als wir uns dem Friedhof nähern, bemerkt Yvette knapp: »Wir sind da«, und übernimmt wieder das Kommando. Ende des kleinen bukolischen Intermezzos.

»Der Friedhof ist brechend voll«, flüstert mir Yvette zu.

Die ganze Stadt hat sich eingefunden, die Gerüchteküche brodelt. Da Sophie keine Familie mehr hatte, kümmert sich der Bürgermeister um alles. Der gute Ferber – den ich nicht gewählt habe –, läuft von rechts nach links, schüttelt Hände, überprüft den Blumenschmuck … Er muß sich schließlich einiges einfallen lassen, um das Ansehen seiner Stadt wiederherzustellen …

Anscheinend ist auch Inspektor Gassin in Begleitung von zwei Polizisten anwesend. Sie hoffen sicher, daß sich der Witwer zur Beisetzung einfinden wird. Paul hat uns anvertraut, daß das Haus von Stéphanes Eltern, eine alte Bauersfamilie aus dem Départment Eure, unter ständiger Überwachung steht.

»Guten Tag, wie geht’s?« flüstert uns Hélène zu. »Paul ist da drüben bei Ferber. Weder Michaels noch Mathieus Eltern sind gekommen. Sie kannten Sophie gut, aber nach allem, was man jetzt über Stéphane erzählt …«

Die Trauerfeier beginnt. Der Wind frischt auf, ein kühler scharfer Herbstwind. Ich spüre, wie er meinen Nacken und meine Wangen streift. Ausnahmsweise bin ich Yvette einmal dankbar, daß sie mich wie einen Säugling eingepackt hat. Die Stimme des Priesters dringt nur undeutlich zu mir herüber. Er leiert ohne sonderliche Überzeugung irgend etwas herunter. Glücklicherweise hält der Wind die Anwesenden wach.

Ich höre das dumpfe Geräusch, als die Erde auf den Sarg fällt. Das Knirschen der Schuhe, Bewegungen, Hüsteln, kurz, ein schweigsames Defilé; dann kommt Bewegung in die Menge; so, es ist vorbei: Sophie Migoin ruht endgültig in Frieden.

Ferbers laute, joviale Stimme:

»Ah, unsere liebe Elise! Wie geht’s denn? Gut sehen Sie aus!«

Nein, also wirklich Ferber, Entschuldigung, aber wenn du glaubst, daß ich dich deshalb wählen werde …

»Mademoiselle Andrioli hat große Fortschritte gemacht.«

Ach, Raybaud, scheint ja sehr stolz auf seinen gelehrigen Zögling zu sein.

Sie unterhalten sich, ohne sich weiter um mich zu kümmern. Um so besser. Ich lausche dem Gemurmel, dem aufgeregten Stimmengewirr der Lebenden. Im Zusammenhang mit tausend verschiedenen Hypothesen fällt immer wieder Stéphanes Name. Es gibt Gerüchte von einer Geliebten, Bankrott, den Morden, Drogen … wenn das so weitergeht, ist er bald Anführer der Mafia oder ein libyscher Terrorist. Jemand klopft mir auf die Schulter.

»Mademoiselle Andrioli, ich bin es, Florent Gassin. Noch immer keine Neuigkeiten von unserem Freund?«

Kein Zeigefinger. Das scheint zu einer fixen Idee zu werden.

»Nun gut. Entschuldigen Sie mich bitte.«

Die Trauergemeinde löst sich langsam auf, der kalte, schneidende Wind lädt nicht zu längeren Diskussionen ein. Yvette nimmt die Griffe des Rollstuhls.

»Die arme Sophie … Wenn ich bedenke, daß ich sie am Montag noch beim Metzger getroffen habe … Sie kaufte zwei Schnitzel. Und jetzt … Paul und Hélène sind beim Bürgermeister zum Mittagessen eingeladen. Ich habe ihnen gesagt, daß wir nach Hause gehen. Der Wind ist wirklich kalt … Also los!«

Wir machen uns auf den Weg. Stéphane ist nicht gekommen. Er ist nicht zerzaust und schweißgebadet aufgetaucht, um »Sophie!« zu schreien und das Rätsel aufzuklären.

Paul und Hélène essen mit Ferber. Das Leben geht weiter. Natürlich nur für die, die noch leben.

Auf dem Rückweg ist Yvette recht schweigsam. Um so besser, dann kann ich in aller Ruhe die letzten Neuigkeiten verdauen. Gehen wir also noch einmal alles durch.

Ein Mann tötet mehrere Kinder. Man vermutet, daß er einen weißen Kombi fährt. In der Forsthütte entdeckt man einen Pullover, der mit dem Blut eines der kleinen Opfer getränkt ist. Auf dem Kragen dieses Pullovers findet man Haare von Stéphane Migoin. Und eben dieser Stéphane Migoin wurde am Steuer eines weißen Kombi gesehen. Und er verschwand in derselben Nacht, in der sich seine Frau umbrachte, nicht ohne zuvor seine Konten geplündert und seine laufenden Geschäfte geregelt zu haben. Ich beantrage lebenslänglich!

Die Verteidigung hat das Wort:

Euer Ehren, ich bitte sie dennoch, folgende Punkte in Betracht zu ziehen:

a)Die Polizei wurde durch einen anonymen Anruf über die blutigen Kleidungsstücken in der Forsthütte informiert. Und wenn sie jemand dort hingelegt hat? Und wenn jemand absichtlich Stéphane Migoins Haare auf dem Kragen deponiert hat?

b)Die kleine Virginie Fansten behauptet, einen oder mehrere Morde beobachtet zu haben. Aber sie hat nie Stéphane Migoin beschuldigt, dem sie ansonsten keine besondere Sympathie entgegenzubringen scheint.

c)Ist Stéphane Migoin dumm genug zu fliehen, nachdem alle Indizien gegen ihn sprechen?

Ich plädiere auf Freisprach mangels Beweisen.

Ihre Meinung, meine Damen und Herren Geschworenen? Schuldig oder unschuldig? Das Urteil?

Ich bin so sehr mit meinem imaginären Prozeß beschäftigt, daß ich nicht einmal bemerkt habe, daß wir schon zu Hause sind. Mir ist klar, daß die Verteidigung nur dann eine Chance hat, wenn sie Virginie zum Sprechen bringt. Keine Zeit für Winkelzüge mehr, ich muß Yssart informieren.

Frage: Wenn Stéphane der Mörder ist und Virginie es weiß, hätte er sie am Leben gelassen? Gute Frage, ich bin stolz auf mich. Aber wie soll ich all das dem Kommissar erklären? In der Bienensprache, in dem ich mit meinem verfluchten Rollstuhl Achter auf dem Parkett fahre? Wenn nur Benoît noch da wäre … Wenn nur … Ich fühlte mich plötzlich deprimiert und habe einen Kloß im Hals, meine Lippen beginnen zu zittern. Ich weine. Das hat es seit dem Unfall nicht mehr gegeben. Man könnte meinen, daß es mir langsam besser geht, daß sich meine Muskeln entkrampfen. Ich weine. Verdammt noch mal, ich spüre, wie die Tränen über meine Wangen rinnen und meinen Mund benetzen. Ich bekomme kaum mehr Luft, es erdrückt mich, ich ersticke. Ich vergieße Krokodilstränen über diesen ganzen Schlamassel, und zugleich bin ich glücklich, weil ich wieder weinen kann. Es gibt Augenblicke, in denen man sich wirklich mit wenig zufriedengibt.

»Elise? Mein Gott, was ist denn los?«

Die Tränen werden mit einem sauberen Taschentuch abgewischt.

»Ist es wegen dieser Beerdigungen? Atmen Sie tief durch, das hilft. Sie werden sehen, Sie werden es schaffen, ich bin ganz sicher, weinen Sie nicht mehr …«

Yvette flüstert mir beruhigend ins Ohr, ich höre nicht hin; ich bin weit weg, ich bin zurückgekehrt zu jenen Jahren mit Benoît, die unwiderruflich vorüber sind, und ich spüre, wie meine Tränen unermüdlich fließen, wie ein Fluß, der in das Meer der Erinnerungen mündet.

Ich bin allein. Ich fahre vor und zurück, jetzt bin ich wieder ganz ruhig. Nach all den vergossenen Tränen bin ich völlig leer.

In unserer kleinen Stadt brodelt es vor Gerüchten. Die lange Kette tragischer Ereignisse hat uns zu trauriger Berühmtheit verholfen; man spricht im Fernsehen und in der Boulevardpresse über uns. Doch es wird immer nur die Kripo erwähnt, ganz so, als hätten die örtlichen Gendarme und Polizisten überhaupt nichts geleistet.

Der junge Inspektor Gassin zum Beispiel muß stocksauer sein. Er hat nie verwunden, daß man Yssart geschickt hat. Zu Hélène hat er gesagt, daß er nicht begreift, wie diese Großstadttypen die komplexe Verzweigung der Angelegenheit verstehen wollen. Was Yssart angeht … no comment.

Die letzten Neuigkeiten habe ich mit einer gewissen Gleichgültigkeit aufgenommen.

Stéphanes Foto wurde auf allen Fernsehkanälen in den Nachrichten gezeigt. Im ganzen Land hat man die Fahndung nach ihm eingeleitet. Doch bis jetzt ist Steph ihnen nicht ins Netz gegangen.

Die Exhumierung der Leichen hat bewiesen, daß sie allesamt Opfer desselben Mörders waren. Man hat nichts gefunden, was Stéphane be- oder entlasten könnte.

Der Vater von Mathieu Golbert hat einen Journalisten verprügelt, der unbedingt ein Interview wollte, und dabei seinen Fotoapparat zertrampelt.

Vor allem aber geben die Ergebnisse der Autopsie von Sophie Migoins Leiche zu der Annahme Anlaß, daß sie die Schlaftabletten nicht freiwillig genommen hat. Irgend jemand soll ihr den Mund aufgehalten und sie gezwungen haben, sie zu schlucken. Das weiß ich von Hélène, und sie weiß es wiederum von dem reizenden Inspektor Gassin.

Es ist kalt und regnerisch. Guillaume ist mit Yvette zu einem Supermarkt gefahren. Das Geräusch der Regentropfen erinnert an das gedämpfte Geräusch von Tennisbällen beim Aufschlag. Das Telefon. Wie immer hat Yvette, ehe sie weggeht, den Anrufbeantworter eingeschaltet. Ich verhalte mich ganz ruhig, um besser mithören zu können.

»Guten Tag, wir können Ihren Anruf im Augenblick leider nicht persönlich entgegennehmen, hinterlassen Sie uns bitte eine Nachricht nach dem Signalton …«

»Elise? Hören Sie, ich habe nicht viel Zeit.«

Stéphane!

»Sie sind in Gefahr, Elise, in großer Gefahr. Sie müssen die Stadt verlassen, ich habe keine Zeit, Ihnen alles zu erklären, aber glauben Sie mir, es sind grauenvolle Machenschaften im Gang, wenn Sie wüßten, ich muß gehen, ich muß auflegen, ich liebe Sie, Adieu … Ich … nein, nein, laß mich, nein!«

Ein heftiger Schlag gegen die Wand der Telefonzelle, dann nichts mehr. Keuchender Atem. Der nervtötende Tüt-tüt-tüt-Ton der unterbrochenen Verbindung.

Herr im Himmel! Träume ich? Der erstickte Schrei, die Stimme … Hat das zu bedeuten, daß Stéphane soeben … Draußen höre ich ein Knarren, ich schrecke auf, meine Nerven sind zum Zerreißen angespannt. ›In Gefahr … Verlassen Sie die Stadt …‹ Und die unterbrochene Verbindung … Ich fahre nervös mit meinem Rollstuhl im Zimmer auf und ab und wiederhole ständig Stéphanes Worte. Der Regen trommelt auf das Dach. Was hat dieser Anruf zu bedeuten? Es ist furchtbar, wenn man mit niemandem sprechen kann. Mein Gott! Aber der Anruf ist auf dem Anrufbeantworter aufgezeichnet, und das ist der Beweis. Ja, ein Beweis zu Stéphanes Gunsten! Außer, es handelt sich um ein geschicktes Manöver … Wo bleibt nur Yvette? Sie muß doch zurückkommen, den verfluchten Anrufbeantworter abhören und die Polizei informieren! Ich warte ungeduldig, ich sitze auf der Lauer! Die Minuten tröpfeln langsam und nervenaufreibend dahin wie Wasser aus einem Wasserhahn.

Ah! Schritte auf dem Asphalt. Ich will gerade zur Haustür fahren, als mir plötzlich auffällt, daß sie sich nicht öffnet. Ich höre, wie die Klinke heruntergedrückt wird, doch nichts geschieht. Wenn Yvette ihren Schlüssel verloren hat, sitzen wir ja fein in der Patsche. Schritte an der Außenmauer zum Eßzimmer. Sie halten inne. Warum ruft Yvette mir nichts zu? Sie müßte etwas rufen, mir etwas erklären. Ich bin doch nicht tot! Außer, es ist nicht Yvette … außer, es ist jemand, der weiß, daß Stéphane mich angerufen hat …

Wieder Schritte. Schritte im Regen. Sie bewegen sich ums Haus herum. Irgend jemand beobachtet mich vielleicht durch die Fenster. Ja, bestimmt hat jemand sein Gesicht an die Scheibe gepreßt. Ich fühle mich nackt, fahre mit meinem Rollstuhl rückwärts bis zum Büffet, als könnte ich mich damit vor den Augen schützen, die mich beobachten, ohne daß ich sie sehe, vor jenem Blick, den ich mir kalt und ausdruckslos vorstelle, der nur Interesse an dem Opfer ausdrückt …

Stéphane, ruf wieder an! Sag mir, daß es nur ein dummes Spiel war, ein alberner Alptraum! Ruf wieder an!

Schritte auf dem Kies. Die Vorstellung dieser Augen, die ich nicht sehe und die mich beobachten, ist mir unerträglich. Ich habe Angst. Ein Gefühl von Furcht steigt eiskalt und stechend in mir auf. Ist diese verfluchte Haustür wenigstens richtig abgeschlossen?

Jemand rüttelt an der Türklinke, ich höre das Geräusch ganz deutlich. Ich kann kaum mehr schlucken. Ein Kratzen am Fenster, ich stelle mir vor, wie die Finger über die Scheibe gleiten, lange, ungeduldige, gekrümmte Finger …

Dann herrscht Stille. Ist ›er‹ gegangen?

Ah! Der Schlag kommt völlig unerwartet. Splitterndes Glas genau vor mir auf dem Parkett. ›Er‹ schiebt seine Hand durch das Loch, um den Fensterriegel zu öffnen. Ich bin erstarrt, meine Kehle schmerzt so sehr, daß ich schreien möchte. Wer hat das Fenster zerschlagen? Wer versucht hier einzudringen? Verschwinde, verschwinde, wer auch immer du sein magst, laß mich in Frieden! Erbarmen!

Jemand ist im Wohnzimmer. Das Glas knirscht unter seinen eiligen Schritten. Ich bediene den Knopf an meinem Rollstuhl, um zurückzuweichen. Ein leises Lachen. Virginie? Jemand geht an mir vorüber. Wenn ich nur die Hand ausstrecken könnte, wenn ich nur sehen könnte … Ich presse mich in meinen Sitz und warte auf den Schlag, auf den Nadelstich oder Schlimmeres …

Ein metallenes Geräusch.

Plötzlich erklingt eine Stimme im Zimmer, und ich brauche zwei Sekunden, um zu begreifen, daß es der Anrufbeantworter ist.

Wieder Schritte, die sich mir nähern. Nein, ich will nicht …

Dieses Schweigen ist das allerschlimmste … Und wenn mir gleich jemand ein Messer in den Magen, in die Augen oder in den Mund stößt … er kann tun, was er will, ich …

Hupen. Ganz in der Nähe. Drei vertraute Töne. Jean Guillaume! Eilige Schritte zum Fenster, jemand läuft über den Kies. Hinter dem Haus schlägt eine Tür zu. Ich bin derartig erleichtert, daß ich glaube, ohnmächtig zu werden.

»Was ist das denn? Haben Sie gesehen, Jean? Das Wohnzimmerfenster ist zerbrochen …«

»Na so was! Warten Sie mal … Kein Wunder, sehen Sie sich das an! Hier, mit dem Stein … Die arme Elise hat Glück gehabt, daß sie ihn nicht mitten ins Gesicht bekommen hat!«

»Das waren bestimmt wieder diese Lausebengel, die sich am Bahnhof herumtreiben!«

»Ich wechsle Ihnen die Scheibe heute nachmittag aus, bei diesem Regen weicht sonst noch das ganze Parkett auf.«

»Alles in Ordnung, Elise? Sie müssen Angst gehabt haben …«

Kann man wohl sagen, daß ich Schiß hatte. Ich fühle mich so frisch wie ein zusammengefallenes Soufflé! Yvette packt die Einkäufe aus und schimpft dabei über die ungezogenen Bengel. Ich versuche normal zu atmen, nicht zu ersticken. Jean Guillaume macht sich am Fenster zu schaffen. Und plötzlich verstehe ich, was der mysteriöse Besucher hier zu suchen hatte: Er hat Stéphanes Nachricht gelöscht. Wenn er genug Zeit hatte … Stéphane anzugreifen und dann hierherzulaufen, bedeutet das, daß Stéphane mich ganz aus der Nähe angerufen hat. Oder daß sie zu zweit waren. Was hat Stéphane gesagt? ›Grauenvolle Machenschaften.‹ Sieht ganz so aus. Aber warum versucht man, mich in die Sache hineinzuziehen?

Auf alle Fälle bin ich wieder einmal der einzige Zeuge.

Seit zwei Tagen verfolge ich aufmerksam die Nachrichten und rechne damit, jeden Augenblick zu hören, daß man Stéphane Migoins Leichnam gefunden hat, doch nichts dergleichen geschieht. Der Regen läßt nicht nach, alle sind angespannt, nervös und aufgeregt. In zu kurzer Zeit haben sich allzu viele Dinge zugetragen, und jeder wartet ungeduldig und ängstlich auf die Auflösung des Falls. Virginie kommt fast nicht mehr, ihre Eltern haben sie zu einem Nachhilfekurs angemeldet, damit sie ihre Versäumnisse aufholt. Manchmal habe ich das Gefühl, daß Hélènes Stimme undeutlich klingt, wenn sie mit Yvette redet. Ich frage mich, ob sie trinkt. Anscheinend hat Paul wahnsinnig viel Arbeit, er kommt spät nach Hause und ist ständig schlecht gelaunt. Selbst Jean Guillaume und Yvette haben sich wegen des Rezepts für Coq au Vin gestritten, und er ist, ohne seinen Kaffee zu trinken, brummend gegangen. Das scheint lächerlich, doch es bringt gut die allgemeine Stimmungslage zum Ausdruck: Gereiztheit und Warten, ohne zu wissen, auf was. Warum finden sie Stéphane nicht? Wollte er sich einen Streich mit mir erlauben? Na ja, einen Streich … das ist so eine Redensart. Wer zu so etwas in der Lage ist, gehört gleich in die Zwangsjacke.

So vergeht die Zeit, alle sind angespannt.

Catherine die Große findet, daß es mir viel besser geht. Sie spürt eine gewisse Spannung in den Muskeln, ein Zittern, das Raybaud dazu veranlaßt, eine erneute Untersuchung anzuordnen.

Krankenhaus. Es riecht nach Formalin, Äther und Medikamenten. Man schiebt mich über die kalten Gänge, in denen die Geräusche widerhallen. Dann werde ich auf einen Tisch gehoben, mit Nadeln gespickt, und man befestigt Elektroden an der Brust und an den Schläfen. Ich werde abgehört, hingesetzt, meine Gelenke werden mit einem Gummihammer abgeklopft, untermalt von einem skeptischen ›hm, hm‹. Es dauert den ganzen Tag. Zum Schluß kommt der Scanner. Alle Ergebnisse werden auf dem Schreibtisch von Professor Combré landen, der sich im Augenblick zu einem Kongreß in den USA aufhält. Man zieht mich an, setzt mich in meinen kostbaren Rollstuhl, und dann geht es zurück nach Hause.

»Nun?« fragt Jean Guillaume, der uns abholt.

»Nach Ansicht des diensthabenden Arztes ist unbestreitbar eine Besserung zu verzeichnen. Um darüber zu entscheiden, ob man die Operation wagen soll, muß man jedoch die Meinung des Professors abwarten.«

Jean Guillaume senkt die Stimme, damit ich nichts höre, aber ich höre es doch.

»Und wenn die Operation gelingt, in welchem Zustand wäre sie dann?«

Auch Yvette spricht jetzt gedämpft.

»Sie wissen es nicht genau. Sie denken, daß sie das Augenlicht und vielleicht auch die Beweglichkeit der oberen Gliedmaßen zurückerlangen könnte.«

Ich spüre eine Mischung aus furchtbarer Verzweiflung und ungeheurer Hoffnung in mir aufsteigen. Verzweiflung, weil ich für immer in den Rollstuhl verbannt bleibe, und die Hoffnung, wieder sehen und mich ein wenig bewegen zu können.

Nun heißt es warten …