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Es regnet. Ein heftiger, dichter Regen prasselt gegen die Fensterscheiben. Ich höre, wie der Wind an Fenstern und Türen rüttelt. Yvette eilt geschäftig umher, schließt die Fensterläden, legt die Riegel vor. Gleich wird sie mir das Abendessen bringen. Ich werde nichts anrühren, ich habe keinen Hunger. Sie wird darauf bestehen, daß ich etwas esse, wird böse werden. Sie wird mir sagen: »Kommen Sie schon, Elise, bitte, Sie müssen etwas essen, Sie müssen schließlich wieder zu Kräften kommen.« Blödsinn. Die einzigen Kräfte, über die ich verfüge, sind die, die meine inneren Funktionen am Laufen halten. Ich leide an Tetraplegie, einer gleichzeitigen Lähmung aller vier Gliedmaßen. Und, als würde das noch nicht reichen, habe ich das große Los gezogen: »Leider müssen wir unsere Sendung wegen einer Bild- und Tonstörung unterbrechen.« Ich bin stumm, blind und kann mich nicht rühren. Um es auf den Punkt zu bringen: eine lebende Leiche. Yvette kommt, ich höre ihre raschen Schritte.

»Zeit fürs Abendessen!«

Das Abendessen besteht für gewöhnlich aus einem proteinhaltigen Gemüsebrei, den man mir mit einem Teelöffel verabreicht. Er ist zu heiß, ich versuche mich zu wehren. Ich nehme an, daß Yvette verzweifelt das Gesicht verzieht. Ich erinnere mich noch gut an ihr rundes, von blondem Haar umrahmtes Gesicht mit dem milchigen Teint. Sie ist Eisenbahnerwitwe, um die sechzig, kräftig gebaut und gut zu Fuß. Sie arbeitet seit fast dreißig Jahren als Haushälterin bei uns in der Familie. Yvette erinnert sich besser an meine Mutter als ich. Als meine Mutter »in den Himmel kam«, war ich erst fünf Jahre alt. Und als vor sieben Jahren mein Vater starb, zog ich wieder hierher, und Yvette führte mir von da an den Haushalt. Nun pflegt sie mich. Die Krankenschwester hat ihr die notwendigen Handgriffe beigebracht. Arme Yvette, sie muß mich waschen, füttern, saubermachen. Sie hat sich sicherlich schon oft meinen Tod gewünscht. Und ich, wie oft habe ich ihn mir schon gewünscht?

Ich frage mich, ob es wohl dunkel ist. Wir haben Ende Mai. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, ob es zu dieser Jahreszeit gegen sieben oder acht dunkel wird. Und ich kann Yvette nicht fragen. Ich kann niemanden etwas fragen. Meine Körperfunktionen sind gestört.

Es passierte letzten Herbst, als wir Urlaub in Irland machten. Benoît und ich. Es war der 13. Oktober 1994. Ich erinnere mich genau, was er an jenem Tag trug: Eine marineblaue Hose, einen Pullover in der gleichen Farbe und blaue Tennisschuhe. Ich selbst trug Jeans und einen weißen Rollkragenpullover. Und dazu weiße, ganz neue Turnschuhe. Jetzt habe ich Pantoffeln an den Füßen und fast immer ein Nachthemd an. Aber die Farbe meines Nachthemds kenne ich nicht …

Benoît und ich machten damals einen Abstecher nach Nordirland. Giant’s Causeway. Belfast. An jenem Morgen in Belfast wollten wir zur Bank, um ein paar Travellerschecks einzulösen. Ich kann mich nicht mehr erinnern, welche Tasche ich an jenem Tag dabeihatte. War es die blaue Ledertasche oder der bunte Rucksack? Solche unwichtigen Kleinigkeiten treiben mich schier zum Wahnsinn. An so vieles, was ich gesehen habe, kann ich mich nicht mehr erinnern! Dabei wäre es gerade jetzt so wichtig für mich.

Nun, wir betraten die Bank, wobei ich die Glastür öffnete. Und in dem Augenblick passierte es. Die Explosion. Keine zehn Meter von uns entfernt stand ein Auto mit einer Sprengladung. Der Fahrer war natürlich sofort tot, vier Passanten starben. Und Benoît. Da war zuerst der Lärm, die enorme Detonation und gleichzeitig das Gefühl, in ein riesiges, loderndes Flammenmeer geworfen zu werden. Benoît packte mich am Arm, riß mich zu Boden. Wir wurden von einer Welle aus berstendem Metall und Glas erfaßt. Ich sah zwar, wie das Auto explodierte, hörte die Schreie, aber ich begriff nicht, nein, ich begriff nicht wirklich, daß es mir, Elise Andrioli, zustieß. Die Leute schrien. Ich sah, wie ein Glassplitter sich in Benoîts Kehle bohrte, wie das Blut – aber begriff ich wirklich, daß es Blut war? – herausschoß. Auch ich schrie. Irgend etwas traf mich am Kopf. Ich schloß die Augen. Seitdem habe ich sie nie wieder geöffnet.

Ich lag fast zwei Monate im Koma. Als ich wieder zu mir kam, befand ich mich in Frankreich, in Paris. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, daß mein Zustand nicht vorübergehend war. Daß ich weder jemals die Augen öffnen noch aufstehen würde. Daß ich weder mit den Krankenschwestern noch den Ärzten reden würde. Durch ihre Gespräche untereinander begriff ich, wie ernst mein Zustand war. Ich konnte es nicht glauben. Und dennoch …

Man unterzog mich unzähligen Tests, bis man zu dem Schluß kam, daß, obwohl mein Rückenmark nicht irreparabel verletzt zu sein schien, meine Bewegungszentren ernsthaft geschädigt waren. »Motorischer Kortex … Funktionsstörung des Kleinhirns … möglicherweise ein katatonischer Zustand …« Kurz, ein Defekt. Was nun meine Augen anging, kam man zu dem gleichen Ergebnis: Der Sehnerv ist intakt, aber irgend etwas in meinem Gehirn muß angegriffen sein, und die Ärzte wissen nicht, ob ich jemals wieder werde sehen können. Sie sind sich nicht sicher, ob ich höre und verstehe, was man mir sagt, also sprechen sie mit mir, als sei ich geistig behindert. Und so verhalten sich auch alle anderen, bis auf Yvette, die hartnäckig daran glaubt – und das ganz zu Recht –, daß ich alles mitbekomme und mich eines Tages wie ein wieder zum Leben erweckter Lazarus aus meinem Rollstuhl erheben werde …

Damit wäre eigentlich schon alles gesagt. Ich bin sechsunddreißig. Ich fuhr Ski, spielte Tennis, ging wandern und schwimmen, ich liebte die Sonne, Ausflüge, Reisen, Liebesromane. Die Liebe … Und nun bin ich in mir selbst begraben und bete jeden Tag darum, endlich richtig sterben zu können.

Wenn ich mitbekomme, wie Yvette sich um mich bemüht, muß ich oft an einen Film denken, den ich mal im Fernsehen gesehen habe. Er handelte von einer armen Kreatur wie mir, doch der hatte man auch noch Arme und Beine amputiert, es war die Geschichte eines blinden und tauben menschlichen Wracks, das verzweifelt versuchte, mit seiner Krankenschwester zu kommunizieren, um sie dazu zu bringen, es zu töten. Benoît und ich hätten beinahe losgeheult. Gesund und glücklich, ein Glas Wein in der Hand, saßen wir behaglich auf dem Sofa. Bereit, das Unglück anderer zu beweinen.

Yvette schimpft mit mir. Ich versuche zu schlucken. Es ist schwierig. Tag für Tag frage ich mich, warum bestimmte Muskeln funktionieren und andere nicht. Warum hört mein Herz nicht auf, Blut zu pumpen, und warum arbeitet mein Gehirn noch immer? Warum spüre ich jede Berührung und warum bekomme ich Gänsehaut, wenn ich friere? Tag für Tag, seit ich das Bewußtsein wiedererlangt habe, konzentriere ich meine ganze Willenskraft auf ein einziges Ziel: Ich will mich bewegen. Bewegen, bewegen, bewegen. Vor zwei Monaten gelang es mir, mit den Augen zu blinzeln, und letzten Monat schaffte ich es, den Zeigefinger meiner linken Hand zu heben. Ich kann auch den Kopf bewegen, aber das sind unkontrollierte Bewegungen, auf die ich keinen Einfluß habe. Raybaud, mein Arzt, sagt, das sei ein enormer Fortschritt. Und daß er zum Surfen fährt. Raybaud kann man nicht gerade als besonders feinfühlig bezeichnen. Seiner Ansicht nach gehöre ich in eine Spezialklinik. In ein aseptisches Heim, in eine Art Lager für Mehlsäcke, denn als solcher fühle ich mich.

Das Abendessen ist beendet. Yvette räumt ab. Sie schaltet den Fernseher ein und spült das Geschirr. Nachrichten. »In Bourgen-Bresse stürzte ein Kran auf ein Wohnhaus.« Sirenengeheul, Schreie, Kommentare. Es kommt noch besser: ein Irrtum der Polizei. »Ein junger Araber wurde wegen eines Autodiebstahls versehentlich erschossen. Der Innenminister …« Was hatten wir bloß vor dieser verdammten Bank verloren? Gibt es tatsächlich so etwas wie Schicksal? »In der Region Yvelines sucht die Polizei noch immer nach dem kleinen Michael Massenet …« Und wenn das mein Schicksal ist, wie soll ich es akzeptieren? Was nützt es dann, sich zu beklagen? »Ein Hochdruckgebiet über den Azoren …« Dröhnende Werbung. Ich höre Stimmen, die überschwenglich die Vorzüge von Windeln, Matratzen, Waschmitteln, Autos, Toilettenpapier, Elektrogeräten, Parfüm, Käse und Tiefkühlkost anpreisen. Das scheint mir alles so weit, weit weg. Jetzt fängt die Sendung an, die sich Yvette heute ansehen will: Eine Diskussion über Drogenmißbrauch und Kriminalität an den Schulen. Ich lausche andächtig.

Ende der Diskussionsrunde. Man ist sich nicht einig geworden, aber alle machen sich gegenseitig überschwenglich Komplimente. Yvette seufzt und schiebt mich in mein Zimmer. Morgen müßte eigentlich die Masseurin kommen. Sie wird an meinen leblosen Gliedmaßen ziehen, sie mit Öl einreiben, sie stundenlang durchkneten und sich dabei fragen, ob ich irgend etwas davon spüre. Und ich werde ihr nicht antworten können.

»Gute Nacht«, sagt Yvette.

Egal, ob man das als gut oder schlecht betrachtet, für mich ist immer Nacht.

Heute morgen hat Yvette mich mit in den Supermarkt genommen, wie übrigens jeden Samstag, seit die Witterung milder geworden ist. Das Geschäft ist ganz in der Nähe, sie geht zu Fuß dorthin und schiebt mich dabei im Rollstuhl. Wunderbare Yvette, die sich nicht beirren läßt und mich wie ein Wesen mit vollem Denkvermögen behandelt. Ich habe Glück, daß ich sitzen kann. So habe ich zumindest das Vergnügen, die Sonne auf meinem Gesicht zu spüren, die Vögel, das Gehupe, das Geschrei der Kinder zu hören, die Auspuffgase und den Geruch frisch geschnittenen Grases einzuatmen, mir eine farbige Welt in Bewegung vorzustellen. Yvette hat mir eine Sonnenbrille aufgesetzt. Sie behauptet, das Sonnenlicht könne meinen Augen schaden. Ich denke, sie tut dies nur, damit die Kinder nicht vor meinem starren Blick erschrecken. Meinen Augen schaden … Sie sind ja doch zu nichts mehr nutze! Das Schlimmste, so sage ich mir manchmal im Scherz, ist, daß ich mich nicht mehr im Spiegel ansehen kann. Das ist natürlich unsinnig, aber ich frage mich oft, ob ich noch immer hübsch bin. Bin ich gut frisiert? Was das angeht, habe ich allerdings nur wenig Vertrauen in Yvettes Fähigkeiten.

Yvette hat mich in der Nähe eines Baumes abgestellt, das hat sie mir zumindest gesagt. Schön ruhig, nicht weit weg vom Parkwächter für den Fall, daß irgendwelche bösen Buben auf die Idee kämen, mich wegzufahren. Ich sehe schon die Schlagzeilen vor mir: »Hübsche Gelähmte von einer Bande junger Asozialer vergewaltigt.« Yvette ist in den Supermarkt gegangen, um ihre Besorgungen zu erledigen. Ich warte. Die Leute unterhalten sich über das Wetter, die Wahlen, die Arbeitslosigkeit etc. Bevor ich zu einem Mehlsack wurde, leitete ich ein kleines Kino, das Trianon, am Stadtrand, pardon, im neuerschlossenen Stadtgebiet. Drei frisch renovierte Säle. Vom Vater geerbt. Einen Teil des Programms widmete ich der Filmkunst, was dazu führte, daß ich auf ziemlich viele Festivals eingeladen wurde und häufig nach Paris fuhr. Kino, Theater, vorbei. Nein, ich werde jetzt nicht wieder anfangen, mich selbst zu bemitleiden.

Irgend etwas ist mir gerade auf die Hand gefallen. Es ist feucht. Ich höre ein Gurren über meinem Kopf. Verfluchte Taube! Beim Gedanken an diesen Vogeldreck auf meiner Hand ekelt mich. Ich ertrage es nicht länger, keine Macht über meinen Körper zu haben, ich ertrage diese Ohnmacht nicht länger …

»Warum wischst du das nicht weg?«

Jemand spricht mit mir. Ein Kind. Eine kleine, schüchterne Stimme. Ich sage nichts, wie könnte ich auch.

»Madame! Eine Taube hat dir auf die Hand gemacht.«

Das Kind wundert sich bestimmt, warum ich nichts sage. Es kommt näher, ich höre seinen Atem jetzt ganz deutlich.

»Bist du krank?«

Sehr scharfsinnig, dieses Kind! Ich nehme meinen ganzen Willen zusammen und hebe den Zeigefinger.

»Kannst du nicht sprechen?«

Nein, ich kann nicht. Ich hebe wieder den Zeigefinger. Ich weiß nicht einmal, ob das Kind es bemerkt hat.

»Ich heiße Virginie.«

Ein Mädchen! Mein Gehörsinn ist noch nicht so gut entwickelt wie der eines Blinden. Sie legt ihre Hand auf meine, ich spüre sie, eine kleine, junge Hand. Was macht sie? Ah, sie wischt mir die Hand ab, ich spüre ein Stoffoder ein Papiertaschentuch.

»Ich mach dir die Hand sauber, Madame. Wohnst du hier?«

Ich hebe den Zeigefinger.

»Wenn du den Zeigefinger hebst, bedeutet das ›ja‹?«

Ich hebe den Zeigefinger.

»Ich wohne auch hier. Ich bin mit meinem Papa hier, wir kaufen ein. Er sagt, ich darf nicht mit Fremden sprechen, aber bei dir ist das doch was anderes, oder? Du bist gelähmt. Hattest du einen Unfall?«

Ich hebe den Zeigefinger. Es ist meine erste Unterhaltung seit Monaten. Ich frage mich, wie alt sie wohl ist.

»Mein Papa arbeitet in einer Bank. Meine Mama ist Bibliothekarin. Und ich gehe in die Schule, ins Charmilles. Ich bin sieben. Du, soll ich dir eine Geschichte erzählen?«

Gedankenverloren hebe ich den Zeigefinger. Sieben Jahre ist sie. Ihre ganze Zukunft liegt noch vor ihr. Wenn man bedenkt, daß ich auch mal sieben Jahre alt war und mir geschworen hatte, große Dinge zu vollbringen …

»Es war einmal ein kleiner Junge, der hieß Victor. Er war der Sohn von der Frau, der der Tabakladen gehört. Er war sehr böse, und eines Tages hat man ihn dann tot im Wald gefunden, wo er aber gar nicht hindurfte.«

Aber was erzählt sie da?

»Die Polizei ist gekommen, aber sie haben nichts herausgefunden. Nach Victor hat sich die Bestie der Wälder Charles-Eric geschnappt, den Sohn von der Frau auf der Post. Man hat ihn im Gebüsch an der Bahnlinie gefunden, und er war auch voller Blut. Die Polizei ist zwar gekommen, aber der Fall wurde wieder nicht aufgeklärt. Und dann kam Renaud dran. Und gestern hat sich die Bestie Michael geschnappt, am Flußufer.«

Dieses Mädchen ist verrückt. Wie kann sie sich nur so eine Geschichte ausdenken? Sie stützt sich auf meinen Unterarm und flüstert mir zu:

»Aber ich, ich weiß, wer sie getötet hat.«

Was? Wo hat die Kleine denn den Unsinn her? Wo ist ihr Vater?

»Weil ich ihn gesehen habe, den Mörder. Hörst du mir zu?«

Ich hebe den Zeigefinger. Und wenn es wahr wäre? Nein, das ist lächerlich. Schon wieder ein Kind, das zuviel Fernsehen guckt.

»Und seitdem habe ich die ganze Zeit Angst. Ich bin in der Schule schlechter geworden, und alle glauben, daß das so ist, weil Renaud tot ist. Renaud war mein großer Bruder, verstehst du?«

Ich hebe den Zeigefinger. Dieses Kind hat eine total kranke Phantasie.

»Ich habe die Bestie gesehen, als das mit Renaud passiert ist. Im Häuschen hinten im Garten. Du weißt schon, so ein Häuschen für Kinder aus Stoff, wo Fenster draufgemalt sind, und Renaud war da drin und …«

»Virginie!« Eine männliche Stimme, warm und tief. »Ich suche dich jetzt schon seit einer Viertelstunde. Ich hab dir doch gesagt, du sollst in der Nähe vom Kiosk bleiben. Sie hat Sie doch hoffentlich nicht gestört, Mademoiselle? Oh, entschuldigen Sie …«

Die Leute entschuldigen sich immer, wenn sie meinen Zustand bemerken.

»Sag auf Wiedersehen zu der Dame, Virginie.«

»Auf Wiedersehen, Madame. Wir kommen jeden Samstag zum Einkaufen her.«

»Virginie! Das reicht! Entschuldigen Sie …«

Seine Stimme klingt jung. Eine sehr schöne Stimme. Ich stelle mir einen großen Mann mit kurzem Haar, in Jeans und einem Polohemd von Lacoste vor.

»Ist etwas passiert?«

Ich höre Yvette.

»Nein, nein, Virginie hat nur mit Madame gesprochen und ich hoffe, sie hat sie nicht gestört.«

Von allen Dingen, die mich so stören, ist dieses Mädchen wirklich das kleinste Übel. Ich höre Yvette flüstern. Ich überlege, was sie ihm wohl erzählt. »Ein schrecklicher Unfall, blablabla, behindert, blind geworden, kann nicht mehr sprechen, entsetzlich, blablabla, so jung, ihr Verlobter starb, die Arme, keine Hoffnung, die Ärzte sind pessimistisch, das Leben ist so ungerecht …«

Virginie flüstert mir zu: »Wenn du Samstag kommst, erzähle ich dir die Geschichte weiter.«

»So, nun komm, wir gehen! Sag auf Wiedersehen.«

Ich stelle mir vor, wie ihr Vater sie an der Hand zieht, es eilig hat wegzukommen.

Yvette stellt mir einen Teil der Plastiktüten, die voller spitzer Sachen sind, auf den Schoß, die anderen hängt sie an die Griffe des Rollstuhls und los geht’s. Während sie mich schiebt, redet sie mit mir, wie sie es immer macht, wenn sie mich spazierenfährt. Diese Monologe sind ihr zur Gewohnheit geworden. Sie hat zu Raybaud gesagt, sie sei überzeugt davon, daß ich sie verstehe. Recht hat sie. Raybaud hat gemeint, sie solle sich keine allzu großen Illusionen machen. Und hopp, ab aufs Surfbrett! Mein Fall interessiert ihn nicht wirklich. Viel zu deprimierend. Der einzige, der echtes Interesse an meinem Fall bekundet hat, ist der Neuropsychologe des Krankenhauses, Professor Combré. Er ist Spezialist auf dem Gebiet der Gehirnchirurgie. In drei Monaten will er mich wieder untersuchen. Manchmal träume ich davon, daß er beschließt, eine Operation vorzunehmen, die sozusagen die allerletzte Chance auf Heilung für mich wäre. Aber wie soll ich ihn davon überzeugen? Yvette redet in einem fort.

»Stellen Sie sich vor, Seezunge ist schon wieder teurer geworden. Bald können sich nur noch Milliardäre frischen Fisch leisten. Ich weiß schon, daß Ihnen das völlig egal ist, aber trotzdem.«

Ich weiß nicht, warum, aber Yvette hat immer darauf bestanden, mich zu siezen. Sie hat meine Eltern gesiezt und ich war Mademoiselle Elise. Das klingt ein wenig altertümlich. Sie spricht gerade über Virginie:

»Wirklich ein hübsches kleines Mädchen, ja. Ihr Vater auch, ein sympathischer Mann. Anständige Leute, das sieht man sofort. Die Kleine gepflegt, sauber, höflich. Er sehr elegant, blaß-grünes Polohemd, saubere Jeans, aber dennoch modisch, verstehen Sie? Schade, daß Sie keinen Besuch mehr bekommen. Ich weiß, daß Ihnen daran momentan nicht sonderlich viel liegt, aber trotzdem. Ganz allein dazustehen … ach, man kann sagen, daß Ihre Freunde Sie fallengelassen haben. Aber ich habe es Ihnen ja schon immer gesagt, so ist das heutzutage, die Leute interessieren sich nur für einen, solange man ihnen nützlich ist.«

Meine Freunde … Ich hatte nie viele Freunde, ich konnte sie an den Fingern einer Hand abzählen. Und noch dazu leben sie jetzt nicht mehr hier: Frank und Julia wohnen in Paris, Cyrille ist gerade in die Nähe von Grenoble versetzt worden, Isabelle und Luc wohnen in Nizza, nicht weit von meinem Onkel entfernt. Seit ich Benoît kennengelernt hatte, habe ich praktisch niemanden mehr gesehen, und die wenigen Bekannten, mit denen wir ausgingen, leben in Paris. Anfangs haben sie angerufen, die Freunde. Sie waren völlig schockiert. Benoît tot, ich behindert … Und dann wurden die Anrufe immer seltener. Ich verstehe sie, es muß peinlich für sie sein, sie haben es vorgezogen, mich zu vergessen.

»Habe ich auch den Glasreiniger gekauft?« unterbricht sich plötzlich Yvette.

Sie geht noch einmal Stück für Stück ihre Einkaufsliste durch. Ich höre nicht mehr hin. Ich grüble über das nach, was mir die kleine Virginie erzählt hat. Jetzt, wo ich darüber nachdenke, erinnere ich mich sehr gut an den kleinen Victor, den Sohn der Tabakladenbesitzerin. Jeder hat damals von der entsetzlichen Geschichte gesprochen. Er war in der Nähe des Kanals erwürgt aufgefunden worden. Das muß mindestens fünf Jahre her sein … Und der andere, der mit dem Doppelnamen, ja, ich erinnere mich, Benoît und ich haben über diesen Fall geredet. Auch er wurde, glaube ich, erwürgt. Die Polizei hatte einen Onkel in Verdacht, doch man konnte ihm nichts nachweisen. Aber solche Dinge geschehen derart häufig … zuerst sind sie in aller Munde und dann mit der Zeit vergißt man sie wieder. Und dieser kleine Michael? Das müßte ja erst kürzlich passiert sein. Habe ich diesen Namen nicht gestern abend in den Nachrichten gehört? Heute abend muß ich mir unbedingt die Fernsehnachrichten anhören. Vorausgesetzt, Yvette läßt mich im Wohnzimmer sitzen. Manchmal schiebt sie mich in mein Zimmer. Ich soll mich ausruhen. Von was, frage ich mich. Sie macht mir das Radio oder den CD-Player an. Sie nimmt sich irgendeine CD, läßt die Stücke weg, die ihr nicht harmonisch erscheinen und überfüttert mich mit klassischer Musik oder Musettewalzern. Ich habe mir bestimmt schon zweihundertmal Riquita, jolie fleur de Java anhören müssen, und oft träume ich davon, Riquita zu erwürgen, sie zu Brei zu schlagen.

Yvette verstaut die Einkäufe. Sie hat mich im Wohnzimmer im Strahl der Sonne gelassen. Langsam wird das Wetter wärmer, sie hat die Fenster weit geöffnet, ich spüre den Wind auf meiner Stirn und rieche den Duft der Blumen draußen. Ich kann die Düfte nicht unterscheiden, aber ich kann sie wahrnehmen, ich atme den Geruch des blühenden Frühlings, gierig sauge ich die Sonne ein.

Es klingelt. Das ist die Masseurin. Eine Folterstunde steht mir bevor.

Das Glück ist mir hold. Während sie meine schlaffen Muskeln bearbeitet, ruft Catherine, so heißt die Krankengymnastin, plötzlich Yvette etwas zu, die in der Küche hantiert:

»Haben Sie schon gehört? Sie haben den kleinen Jungen gefunden, erwürgt.«

»Was?« fragt Yvette und dreht den Wasserhahn zu.

»Man hat den kleinen Michael Massenet aus La Verrière gefunden. Seine Mutter kommt wegen ihrer Nackenschmerzen zu mir. Sie hat sich letztes Jahr einen Halswirbelbruch zugezogen. Man hat den Kleinen im Wald gefunden. Erwürgt.«

Yvettes Stimme scheint jetzt aus nächster Nähe zu kommen. Ich stelle mir vor, wie sie sich die Hände an ihrer mit pastellfarbenen Frühlingsblumen bedruckten Baumwollschürze abwischt. Sie ist empört: »Was für eine Welt! Wie alt war er?«

»Acht Jahre alt. Ein hübscher kleiner Junge mit blonden Locken. Ich habe es gerade in den Dreiuhrnachrichten gehört. Der Leichnam wurde in der Nähe des Flusses von einem Angler gefunden, als er mittags zu seinem Auto zurückging. Der Tod ist vor wenigstens vierundzwanzig Stunden eingetreten. Können Sie sich vorstellen, was das für ein Schock für den Mann war? Wenn ich Kinder hätte, würde ich sie momentan nicht aus dem Haus lassen. Das muß man sich mal vorstellen, das ist der vierte Mord in fünf Jahren.«

»Der vierte?«

»Aber ja! Anfangs hat man keinen Zusammenhang zwischen den einzelnen Morden gesehen, aber jetzt …«

»Hat man eine Spur? Gibt es irgendwelche Hinweise?« fällt ihr Yvette ins Wort, die eine begeisterte Krimileserin ist.

Dem Tonfall ihrer Stimme nach zu urteilen, verzieht Catherine die Große verächtlich das Gesicht:

»Wo denken Sie hin! Die tappen im dunkeln. Wie die hier«, fügt sie hinzu und kneift mich in die Wade.

Yvette muß sie wohl mißbilligend angesehen haben, denn Catherine die Große korrigiert sich auf der Stelle:

»Na, jedenfalls macht sie Fortschritte, das ist doch toll!«

Yvette läßt sich nicht ablenken:

»Aber, sagen Sie mal, Michael Massenet, war das nicht dieser hübsche kleine Junge, der im Kulturzentrum Klavier gespielt hat?«

»Ja, genau der. Sehr höflich, sehr weit für sein Alter …«

Sie unterhalten sich noch eine Weile über dieses Thema, und ich passe auf, daß mir nichts entgeht. Michael Massenet, acht Jahre, Schüler der Klasse CE2 am Charmilles, der neuen Schule in der Siedlung. Der Vater ist Fahrlehrer, die Mutter Sekretärin. Guter Schüler, intakte Familie. »Sicher ist der Verbrecher ein Sadist«, meint Yvette abschließend.

Jetzt liege ich in meinem Bett. Yvette hat den Fernseher ausgemacht. Es muß elf Uhr abends sein. Gegen drei Uhr morgens kommt sie, um zu sehen, ob mit mir alles in Ordnung ist: Kein Durst, Pipi machen, warm genug …? Heilige Yvette. Ich hoffe, daß dir mein Vormund wenigstens ein anständiges Gehalt überweist. Mein Onkel wurde zu meinem Vormund bestimmt. Mein Onkel Fernand, der Bruder meines verstorbenen Vaters. Er leitet eine Baufirma in der Nähe von Nizza und ist das, was man einen ehrenwerten Mann nennt.

Aber das ist jetzt nicht wichtig. Das Gesprächsthema des Tages ist dieser Mordfall. Wir haben die Zwanziguhrnachrichten gehört. Glücklicherweise läßt mich Yvette bei sich, wenn sie ein Thema fesselt, denn so kann sie ihre Überlegungen jemandem mitteilen. Natürlich wurde über den kleinen Massenet gesprochen. Erwürgt. Man stellte eine Verbindung zu anderen, viel länger zurückliegenden Verbrechen her, die im Umkreis von fünfzig Kilometern begangen wurden: Victor Legendre, 1991 in Valencay erwürgt aufgefunden; Charles-Eric Galliano, 1992 in der Nähe von Noisy erwürgt aufgefunden; Renaud Fansten, 1993 im Garten seiner Eltern in Saint-Quentin erwürgt aufgefunden. Keiner dieser Morde konnte bisher aufgeklärt werden. Darüber hinaus, so betonte der Sprecher, sei jeder dieser Fälle von verschiedenen Abteilungen untersucht worden: In den beiden ersten Fällen war die Gendarmerie zuständig, im dritten die Kriminalpolizei. Kurzum, aufgrund des Mordes an Michael Massenet wird die ganze Geschichte wieder aufgerollt. Yvette konnte gar nicht aufhören, sich über die Polizei und Triebtäter, bei denen man am besten eine Lobotomie vornehmen sollte, lautstark und ausdauernd zu ereifern.

In der Ferne ruft ein Käuzchen. Ich würde mich so gern umdrehen, ich habe es satt, auf dem Rücken zu liegen. Eine Nacht auf dem Rücken, eine Nacht auf der Seite, Jedesmal stützt Yvette mich mit Kopfkissen ab, legt mir Kissen zwischen die Knie und die Knöchel, so wie Raybaud es ihr empfohlen hat, um zu verhindern, daß ich mich wundliege. Es muß ganz schön nervig sein, mich Abend für Abend so hinzubetten. Stop, ich will nicht schon wieder in Selbstmitleid verfallen! Also hat die Kleine die Wahrheit gesagt. Mehrere Kinder sind umgebracht worden, von denen eines, angeblich, ihr Bruder ist. Das ist schrecklich. Ich kann verstehen, daß sie das alles jemandem erzählen muß. Aber ich finde die Gleichgültigkeit, mit der sie von diesen Morden gesprochen hat, ziemlich beunruhigend. Sie muß sehr durcheinander sein … Ich würde sie gerne Wiedersehen … nun, ich wollte sagen … sie wiederhören. Charmilles? Ist das nicht der Name der Schule, in die sie geht? Dieser große Glasbau, umrahmt von Bäumen, die erst noch wachsen müssen?

Ich war gerade eingenickt, als mich ein komischer Gedanke wieder aufschrecken läßt. Woher wußte die kleine Virginie überhaupt von Michael Massenet? Sie hat eindeutig gesagt: »Und seit gestern Michael, er liegt am Flußufer.« Doch Catherine die Große hat erklärt, daß der Leichnam erst heute gegen Mittag gefunden wurde. Wie hat die Kleine das heute morgen um zehn Uhr schon wissen können?

Weil sie ihn gesehen hat. Sie hat den Leichnam gesehen.

Oder den Mörder.

Deshalb wußte sie Bescheid. Sie ging dort vielleicht zufällig spazieren und hat alles beobachtet! Sie hat nicht gelogen, als sie sagte, daß sie den Mörder kenne! Und ich weiß noch nicht einmal, wer sie ist. Virginie. Ich versuche mich zu erinnern. Ich habe im Kino so viele Kinder gesehen, aber es gibt sehr viele neue Siedlungen hier, jeden Tag ziehen neue Leute her. Die einzige Virginie, an die ich mich erinnere, war klein und dick, ungefähr zehn Jahre alt und stopfte sich mit Bonbons voll. Diese Virginie aber hat mir erzählt, sie sei sieben, das haut also nicht hin. Und die andere hatte auch eine schrille Stimme, während diese hier leise, ruhig, … in einer irgendwie gleichgültigen Weise spricht.

Wenn dieses Mädchen den Mörder gesehen hat, muß man etwas unternehmen. Aber was? Ich bin nun wirklich nicht in der Lage, die Polizei zu verständigen. Und selbst wenn es mir durch ein Wunder gelänge, was sollte ich ihnen erzählen? Daß sie nach einem sieben Jahre alten Mädchen namens Virginie suchen sollen, von der ich nicht einmal weiß, ob sie hier oder in den »Wohnanlagen« am Wald lebt?

Auch wenn ich es kaum aushalte, mir bleibt nichts anderes übrig, als bis nächsten Samstag zu warten.