Sonntägliche Spazierfahrt im Auto. Paul macht mit uns eine kleine Spritztour durch das Essonne, ›dort ist es im Spätsommer so schön‹. Mich hat man mit dem Sicherheitsgurt auf dem Beifahrersitz festgeschnallt. Hélène und Virginie sitzen hinten. Und Yvette hat die Gelegenheit genutzt, um eine entfernte Cousine zu besuchen, natürlich in Begleitung von Jean Guillaume. Das Fenster ist einen Spaltbreit geöffnet, es riecht nach Landluft und feuchtem Gras. Keiner sagt ein Wort. Von Zeit zu Zeit bemerkt Paul: »Hast du die Kirche gesehen? Wie wunderschön«; Variante: »Hast du den alten Bauernhof gesehen? Ein Wahnsinnskasten!« Und Hélène antwortet: »Ja, sehr schön.« Virginie ist in ihr Fünf-Freunde-Buch versunken und hört und sieht nichts.
»Ist Ihnen kalt, Lise?« erkundigt sich Paul zuvorkommend.
Kein Zeigefinger. Ich komme um vor Hitze, Yvette hat mich angezogen, als ginge es zu einer Polarexpedition.
»Glaubst du, sie friert?« fragte Paul Hélène.
»Wenn Sie frieren würde, hätte sie dir geantwortet, oder?«
Ein Ehekrach zeichnete sich am Horizont ab. In einer Linkskurve gleite ich zur Seite.
»Du könntest etwas aufpassen! Du fährst wie ein Verrückter!« ruft Hélène.
Bingo!
»Oh, hör auf, als würde dir das nie passieren! Hast du gesehen, wie der die Kurve geschnitten hat?«
»Natürlich, um eine Ausrede bist du ja nie verlegen!«
Hallo, hallo, ich bin völlig auf die Seite gerutscht.
»Wie du einem manchmal auf die Nerven gehen kannst!«
»Du drehst mir das Wort im Mund um! Aber das mußte ja kommen. Du hattest schon schlechte Laune, als wir losgefahren sind.«
»Was?! Du hattest schlechte Laune! Den ganzen Nachmittag über hast du noch keinen Ton gesagt!«
»Was soll ich denn sagen? Soll ich mich über die alten Steinhaufen begeistern, an denen wir vorbeifahren? Entschuldigung, aber es gibt doch wohl aufregendere Arten, seine Zeit zu verbringen, als durch den Regen zu fahren wie die Rentner.«
»Genau, du mußt ja immer alles schlechtmachen!«
Vollbremsung, ich sacke vornüber. Eine Tür fällt ins Schloß.
»Idiot«, schimpft Hélène hinten.
»Wohin geht Papa?«
»Pipi machen.«
»Ich muß auch mal.«
Noch eine Tür fällt ins Schloß.
Ich bin ganz an die Beifahrertür gerutscht, doch das fällt niemandem auf. Schade, denn wenn wir noch lange so weiter fahren, muß ich mich übergeben. Pauls Tür öffnet sich.
»Na, hat der Herr sich beruhigt?«
»Hör jetzt bitte auf, okay? Das ist wirklich nicht der richtige Augenblick, okay?«
»Und warum nicht?«
»Du hast Glück, daß du eine Frau bist, manchmal könnte ich dich …«
»Früher warst du nicht so anspruchsvoll, oder? Als du mich gebraucht hast.«
»Verfluchte …«
Klatsch. Offenbar hat Paul wirklich im Augenblick eine sehr lose Hand.
»Wie kannst du es wagen?! Hast du den Verstand verloren, oder was?«
Türenschlagen, Geschrei.
»Mama, Papa, hört auf! Hört auf!«
Ich würde gern den Kopf heben. Ich wäre gern weit weg. Solche Situationen sind mir zuwider. Knall, knall, knall; alle steigen wieder in den Wagen. Eisiges Schweigen. Paul schaltet das Radio ein. Beethovens Musik dröhnt durch den Wagen. Nervöses Anlassen. Wir fahren los. Ich hänge da, wie ein nasser Sack an einem Nagel. Wirklich ein toller Ausflug! Was hat sie vorhin gemeint, als sie ihm vorgeworfen hat: ›Als du mich gebraucht hast‹? Aber eigentlich geht es mich ja nichts an, und im Grunde weiß ich nichts über diese Leute. Ich frage mich sowieso, warum sie sich derart für mich interessieren. Schließlich bin ich keine sonderlich unterhaltsame Gesellschaft. Man könnte fast sagen, wie es in den Wald hineinruft, so schallt es heraus. Na ja … Virginie scheint sich wieder in ihr Buch vertieft zu haben. Wenn sich jetzt die Eltern zu allem Überfluß auch noch streiten, ist das nicht gerade einfach für sie. Ich verstehe, warum sie sich vorstellt, daß ihr Bruder noch immer ›lebt‹. Puuh!
Beethoven wird kurz von den Nachrichten unterbrochen. Bla, bla, bla. Die Polizei bittet um Ihre Mithilfe: Im Zuge der Ermittlungen im Mordfall Michael Massenet in Boissy-les-Colombes sucht die Polizei nach Zeugen, die am Samstag, dem 28. Mai, gegen 13 Uhr auf der D 91 in der Ortschaft La Furetière einen weißen oder cremefarbenen Kombi gesehen haben.
Sarajewo: Die serbische Artillerie eröffnet erneut …«
Anderer Sender: Rockmusik.
»Ein Kombi, ist das so wie unser Auto?«
»Ja.«
»Und unser Auto ist auch weiß«, fährt Virginie fort.
»Vielen Dank, darauf wären wir nie gekommen«, brummt Paul.
»Es gibt viele Autos wie das unsere«, erklärt Hélène. »Monsieur Guillaume fährt auch einen weißen Kombi.«
Mein kleines Gehirn arbeitet auf vollen Touren. Yssart hatte mir gesagt, daß es eine falsche Fährte sei. Anscheinend ist dem nicht so. Ein weißer oder cremefarbener Kombi. Wie der ihre oder der von Jean Guillaume. Das eröffnet ganz neue Perspektiven in den Ermittlungen. Schließlich war Guillaume der erste, der dazukam, als man mich zu ertränken versuchte. Wer könnte besser als erster an Ort und Stelle gewesen sein als der, der mich ins Wasser gestoßen hat? Nein, Blödsinn: Der arme Jean hat nichts mit einem Mörder gemein. Außerdem, warum hätte er mich retten sollen, wenn er es gewesen wäre? Um in mein Privatleben einzudringen und Virginie aus der Nähe beobachten zu können … Nein, nein, nein, das reicht, ich spinne.
Paul fährt noch immer genauso hektisch, und ich werde hin- und hergeworfen wie in einem Autoscooter. Ich spüre, daß mein Magen zu revoltieren beginnt. Endlich halten wir an.
»Nun sieh sich einer all diese Idioten an, die ins Grüne gefahren sind«, brummt Paul und zündet sich eine Zigarette an.
»Warum halten wir?«
»Weil Papa uns in einen Stau gefahren hat … An diesem Rauch erstickt man noch …«
»Mach doch das Fenster auf.«
Eine reizende Atmosphäre. Diesen Ausflug werde ich so bald nicht vergessen … Eine gute Weile quälen wir uns im Schrittempo voran, ohne daß ein Wort fällt. Plötzlich ruft Hélène aus:
»Oh, sieh mal, das ist Steph! Da, in dem weißen CX … da!«
»Das ist kein CX, das ist ein BMW.«
»Das ist er. Ich werde doch wohl Steph erkennen!«
»Das weiß ich auch. Aber, tut mir leid, ich sehe keinen CX.«
»Natürlich, er ist ja auch gerade rechts abgebogen. Bestimmt eine Abkürzung. Er kennt sich hier aus. Er ist nicht so blöd und steht stundenlang in irgendeinem dämlichen Stau.«
Paul stellt das Radio lauter, die Rockmusik dröhnt in meinen Ohren. Schließlich löst sich der Stau auf, und wir fahren weiter. Ich stelle mir die Hunderten von Familien vor, die Stoßstange an Stoßstange in ihren Autos hocken und sich bei voll aufgedrehten Radios und dem Hupkonzert anbrüllen. Brrr.
»Endstation! Alles aussteigen!« Yvette hilft Paul, mich aus dem Auto in den Rollstuhl zu heben.
»Na, war der kleine Ausflug schön?« erkundigt sich Yvette.
»Sehr schön, sehr schön. Entschuldigen Sie uns, aber ich habe noch viel zu tun. Bis morgen!« ruft Paul und fährt an.
»Na, was ist dem denn für eine Laus über die Leber gelaufen?« wundert sich Yvette, als sie mich ins Haus schiebt.
Eine Laus? Eine ganze Läusekompanie, meinst du, und ich habe das Gefühl, die Sache ist noch nicht ausgestanden: Hélène schien sehr aufgebracht!
Regen, Regen und nochmals Regen. Eigentlich lausche ich gern dem Regen, dann bin ich beschäftigt. Aber um mich herum haben alle schlechte Laune, angefangen bei Yvette, die sich über ihr Rheuma beklagt.
Kaffeeduft. Yvette setzt sich neben mich und schlägt die Zeitung auf. Es regnet stärker.
»Nun hören Sie sich das an! ›Neue Erkenntnisse im Fall des Sadisten von Boissy-les-Colombes. Ein anonymer Anrufer machte gestern die Beamten des Polizeireviers Saint-Quentin auf die Forsthütte an der Wegkreuzung G7 und C9 im Wald von Vilmorin aufmerksam. In dieser Hütte, die zum Abstellen der Forstgeräte dient, wurden blutbefleckte Herrenkleidungsstücke gefunden. Die Ergebnisse der heute nacht vorgenommenen Laboruntersuchung stehen noch aus.‹ Stellen Sie sich das doch mal vor, Lise. Warum sollte der Mörder seine Sachen in der Hütte verstecken, statt sie zu verbrennen oder in den Fluß zu werfen. Das hat doch weder Hand noch Fuß.«
Ganz deiner Meinung, Yvette. Aber dennoch wird es einen Grund geben. Warten wir das Ergebnis der Laboruntersuchung ab.
Das Telefon läutet. Yvette erhebt sich schwerfällig.
»Hallo? Ah, guten Tag, Stéphane. Ja, sie ist da. Ja, ich gebe sie Ihnen. Es ist Stéphane, er will Ihnen etwas sagen.«
»Hallo, Elise?«
Da ich natürlich nicht antworte, spricht er weiter.
»Ich wollte Ihnen sagen … Glauben Sie nicht, was man Ihnen über mich erzählen wird. Hören Sie, ich kann Ihnen das jetzt nicht erklären, aber ich habe Feinde, ich muß verschwinden. Ich umarme Sie. Ich … ich liebe Sie, Elise. Adieu.«
Er legt auf.
»Hat er aufgelegt?« erkundigt sich Yvette, die sich tapfer zurückgehalten und nicht mitgehört hat.
Zeigefinger.
»Ist alles in Ordnung?«
Zeigefinger. Nein, nichts ist in Ordnung, was hat er damit gemeint? Ich verstehe kein Wort. Und die Vorstellung, daß dieser Irre in mich verliebt ist, tröstet mich auch nicht.
Ich habe schlecht geschlafen. Der Wind frischt auf, ein starker, heftiger Wind, begleitet von einem Höllenlärm. Ich habe die Nacht damit verbracht, Probleme zu wälzen, die Ergebnisse der bisherigen Untersuchungen zu überdenken, doch das einzige Ergebnis scheint eine handfeste Migräne zu sein.
Wie sagt man ›Ich habe Kopfschmerzen‹, wenn man nur den Zeigefinger heben kann? Gar nicht. Also kein Aspirin. Also dumpfe Schmerzen über den Augenbrauen, das Klatschen des Regens an die Scheiben, das Heulen des Windes, eine Stimmung wie in einem unheimlichen Film. Die Haustür.
»Was für ein gräßliches Wetter! Ich bin völlig durchnäßt! Ich mache uns einen schönen heißen Kräutertee.«
Igitt.
»Einen leckeren Eisenkrauttee … Das wird Sie wieder munter machen.«
Pfui Teufel. Einen Calvados, einen Calvados!
»Ich habe die Zeitung gekauft, um zu sehen, ob es etwas Neues gibt. Im Fernsehen bringen sie ja nie Einzelheiten.«
Ah gut, ich bin ganz Ohr.
»So, ich habe Wasser aufgesetzt. Also … wo ist denn nur meine Brille?«
Ich bin sicher, du hast sie wie immer um den Hals hängen.
»Mein Gott, bin ich dumm! Ich habe sie ja um den Hals.«
Bingo!
Sie wendet die Seiten um und liest:
»Die Überschwemmungen … die bosnischen Serben … Das Fußballspiel Frankreich-Bulgarien … Die Regional wahlen … Die Restaurierung der Kathedrale … ah, da ist es ja: ›Wurde Michael Massenet in der Forsthütte ermordet? Diese Frage stellt sich durchaus. Die eilig durchgeführten Laboranalysen haben ergeben, daß das Blut auf den Herrenkleidungsstücken – siehe unsere gestrige Ausgabe – von dem kleinen Michael stammt. Was die Kleidungsstücke angeht (ein grauer Wollpullover, Jeans, ein Paar schwarze Handschuhe), so gehören sie einem Mann von etwa 1,85; Konfektionsgröße 52, mit sehr großen Händen. Alles, was ich sagen kann, erklärte Kommissar Yssart, ist, daß die Ermittlungen erheblich fortgeschritten sind.‹ Also mit diesen Indizien«, fährt Yvette fort, »müßten sie ihn ja finden können. Noch dazu gibt es sicherlich Haare auf dem Pullover. Heutzutage verfügen ja die Labors über so präzise Apparate, daß sie anhand eines Haares so manches feststellen können, die Größe des Mannes, die Hautfarbe usw. Oh, hoffentlich schnappen sie ihn endlich! 1,85 m, wie groß ist das denn? Ungefähr so groß wie Stéphane. Ja. Viel größer als Jean und auch gut einen halben Kopf größer als Paul. Ich lese Ihnen den Rest vor: ›Werden diese neuen Hinweise endlich Licht in die bestialischen Morde von Boissy-les-Colombes bringen, die bisher ungeklärt blieben? 11. Juni 1991: Victor Legendre. 13. August 1992: Charles-Eric Galliano. 15. April 1993: Renaud Fansten. 28. Mai 1995: Michael Massenet. Und am 22. Juli dieses Jahres wurde Mathieu Golbert auf grausame Weise umgebracht. Eine unheimliche Bilanz, unter die die Untersuchungsbeamten bald einen Schlußstrich zu ziehen hoffen.‹ Nun, in der Zeitung von morgen werden sicher nähere Einzelheiten stehen. Ich rufe mal Hélène an, vielleicht hat sich ja die Polizei bei ihr gemeldet.«
Sie hantierte mit dem Telefon. Die arme Hélène! Diese neuen Morde und all die Aufregung müssen sie ständig an Renauds Tod erinnern. Wie ein immer wiederkehrender Albtraum. Und für die anderen betroffenen Eltern muß es ebenso sein. Das Schlimmste ist, daß ja irgend jemand die Morde begangen haben muß. Hinter dem Etikett ›Sadist‹ verbirgt sich jemand, der spricht, ißt, lacht und arbeitet, als wäre nichts gewesen. Ein Mensch, der fähig ist, ein Kind zu erwürgen und ihm die Augen oder das Herz herauszuschneiden. Warum hat Yssart mir das eigentlich erzählt? Ich hätte gern auf dieses Detail verzichtet.
»Inspektor Gassin war bei ihnen. Er hat sie gebeten, sich morgen auf der Polizeiinspektion die Sachen anzusehen, es könnte ja sein, daß sie ihnen bekannt sind. Die Eltern aller Opfer sind bei der Untersuchungsrichterin Blanchard vorgeladen. Und er hat sie um die Namen eventueller Freunde gebeten, auf die die Beschreibung in der Zeitung zutrifft. Sie haben Stéphane nennen müssen. Hélène wirkt erschöpft, sie hat mir gesagt, sie wünsche nichts sehnlicher, als daß endlich alles vorbei wäre. Na, das kann man ja verstehen.«
Fünf Morde in fünf Jahren. Victor, Charles-Eric, Renaud, Michael, Mathieu. Vier der fünf kleinen Jungen wurden grauenvoll verstümmelt. Lange Abstände zwischen den Morden. Von 1993 bis 1995 nichts, und dann plötzlich … Was ist in den letzten sechs Monaten geschehen? Die Tötungsmaschine hat sich plötzlich wieder in Marsch gesetzt. Warum? Hängt es damit zusammen, daß ich Virginie kennengelernt habe? Virginie ist sicher der Schlüssel zu der Sache, aber ich weiß nicht, in welches Schloß er gehört. Und diese Herrenkleidungsstücke in der Forsthütte … Der Mörder muß doch damit gerechnet haben, daß man sie findet. Und wer hat die Polizei angerufen? Dieser eigenartige anonyme Anruf … Wer mag dahinterstecken? Jemand, der die Sachen zufällig entdeckt hat und nicht in ein Verbrechen verwickelt werden will? Es macht mich wahnsinnig, keine Fragen stellen zu können. Ich warte ungeduldig auf morgen Abend, um zu erfahren, was die Richterin wollte.
Dieser Tag scheint nie zu Ende gehen zu wollen! Ich langweile mich tödlich. Es regnet nicht einmal mehr. Jean Guillaume hat Yvette zwei Forellen mitgebracht, die er selbst gefangen hat, und jetzt spielen die beiden Karten. Ich höre sie lachen. Yvette hat mir gesagt, daß Jean ihrem Cousin Leon ähnlich sieht. Ich erinnere mich gut an Leon. Ein muskulöser Lastwagenfahrer, ein Typ wie zur Jahrhundertwende. Bis er bei einem Unfall ums Leben kam, tauchte sein Gesicht auf allen Familienfotos auf. Ich habe immer vermutet, daß Yvette ein Faible für ihren Cousin Leon hatte, der dauernd Unsinn im Kopf hatte. Ich weiß, daß Jean Guillaume klein ist, das hat Yvette mir erzählt. Ich stelle mir also Leons Kopf auf dem gedrungenen Körper eines Gewichthebers vor. Angespannt lausche ich auf das Telefon, denn ich hoffe, daß Hélène anruft.
Yvette:
»Wie spät ist es?«
Jean Guillaume:
»Vier Uhr …«
»Wenn sie nicht rechtzeitig zurück sind, muß ich Virginie von der Schule abholen.«
»Ich möchte nicht an ihrer Stelle sein. Das ist mein Stich. Ich frage mich, warum die Richterin sie alle vorgeladen hat … Hat Ihnen der Kommissar nichts gesagt?«
»Der ist hier nicht aufgetaucht. Achtung, ich steche!«
»Einer wird bald Ärger bekommen, und das ist Migoin. Er hat die richtige Größe, er ist kräftig und hat Riesenpranken. Und er war da, als Elise ins Wasser gestoßen wurde. Mit dem möchte ich im Augenblick nicht tauschen.«
»Stéphane? Soll das ein Witz sein? Aber warum Stéphane? Außerdem kannte er die anderen Kinder gar nicht …«
»Die Leute vom Bau kommen viel rum. Man hat mir erzählt, daß er zum Beispiel das Haus der Familie Golbert renoviert hat. Denn zur Zeit kocht die Gerüchteküche ganz schön, da darf man sich nichts vormachen. Da ist ja das As, Sie sind unglaublich!«
»Sie haben aber im Radio gesagt, daß sie einen weißen oder cremefarbenen Kombi suchen, und Stéphane hat einen dunkelblauen BMW.«
»Ja, ich weiß, aber man kann sich auch ein anderes Auto beschaffen.«
Rückblende: »Oh, sieh nur, Stéphane, da in dem weißen CX!« – »Das ist kein CX, das ist ein BMW.« Stéphane … der mir am Telefon erzählt, daß er Feinde hat, und daß man sicherlich ›merkwürdige Dinge‹ über ihn erzählen wird. Stéphane, der mir von Anfang an nicht ganz ›geheuer‹ war. ›Vertrauen Sie auf Ihre Intuitionen‹, sagen die Psychiater. Ich vertraue, ich vertraue, ich mißtraue.
Yvette holt Virginie ab. Jean setzt sich neben meinen Rollstuhl aufs Sofa. Er seufzt.
»So ein verdammter Mist … Und Sie, meine arme Elise, alles in Ordnung?«
Zeigefinger.
»Übrigens habe ich gestern, als ich bei Romero vorbeikam, an Sie gedacht.«
Romero ist das Sanitätshaus, in dem auch Geräte für Behinderte verkauft werden.
»Ich habe einen elektrischen Rollstuhl gesehen, der reduziert ist. Jetzt, wo Sie Ihren Zeigefinger bewegen können, könnten Sie ihn vielleicht selbst bedienen, man müßte nur die entsprechenden Knöpfe einbauen. Soll ich mal mit Yvette darüber reden, damit sie Ihren Onkel anruft?«
Ein elektrischer Rollstuhl? Aber ich würde ja überall anstoßen! Außer, ich würde lernen, mich im Haus damit zu bewegen … Mein Gott, das wäre, das wäre ja … eine Revolution!
Zeigefinger.
»Sie haben recht. Sie können nicht wie eine Stoffpuppe rumsitzen und darauf warten, gesund zu werden … Ich bin sicher, daß man so manches austüfteln könnte, um Ihnen das Leben zu erleichtern.«
Wundervoller Guillaume mit dem Kopf von Léon! Und ich habe dich für einen Augenblick verdächtigt, der Mörder zu sein! Nur zu, mein Junge. Bastele, tüftele, hol mich aus diesem dunklen Tunnel, in dem ich festsitze!
Virginie sieht fern. Ich höre Gekreische, Geschrei, der Schlachtlärm eines intergalaktischen Kampfes. »Sie dürfen uns nicht entkommen – Kapitän, wir können die Fusionsgeschwindigkeit der Neutroglyceronen nicht erhöhen, sonst gibt es eine Explosion!«
Peng, Krach, Bumm! Jean hilft Yvette, die Fische auszunehmen. Wie spät mag es sein?
Es läutet. Endlich!
»Da kommen sie! Ah, guten Tag, Hélène, guten Tag, Paul! Kommen Sie herein, Virginie sieht sich gerade Intergalactis an. Wie war es? Möchten Sie etwas trinken?«
»Ich nehme gerne ein Bier, wenn Sie eins haben. Ich komme um vor Durst«, antwortet Paul.
»Es hat sehr lange gedauert … , aber die Richterin ist, glaube ich, gut … Für mich nur ein Glas Wasser, bitte«, sagt Hélène.
»Setzen Sie sich, ich komme gleich. Jean kümmert sich um die Forellen, er hat uns zwei Prachtexemplare mitgebracht.«
»Guten Abend, Elise.«
»Hallo, Lise.«
Zeigefinger.
Sie setzen sich. Paul seufzt und läßt seine Finger knacken.
»So, ich hoffe, das Bier ist kalt genug. Nun?«
Ich lausche gespannt. Paul scheint erst mal zu trinken, denn man hört ihn schlucken, dann antwortet er:
»Nun, die Richterin hat, ähmm … sie hat eine Exhumierung … hm … der Leichen angeordnet. Da man damals keine Verbindung zwischen den Morden hergestellt hat, ist sie der Auffassung, daß unter diesem Aspekt erneut eine Autopsie vorgenommen werden muß. Begeistert sind wir davon natürlich alle nicht. Aber was sollen wir tun?«
»Eine Exhumierung? Oh … ja, natürlich …«
»Sie glauben, daß Michael in der Nähe des Flusses ermordet wurde«, unterbricht Hélène, »und daß sich der Mörder in der Forsthütte umgezogen hat. Um diese Jahreszeit wird sie nicht benutzt.«
»Aber woher sollte irgend jemand das wissen?« fragt Yvette schlagfertig.
»Weil ihn jemand gesehen hat – jemand, der aus Angst schweigt«, gibt Paul zurück, während er sein Bier austrinkt.
Virginie? Nein, die Polizisten hätten den Unterschied zwischen einer Kinderstimme und der Stimme eines Erwachsenen bemerkt … Gibt es also noch jemanden, der Bescheid weiß?
»Es könnte auch ein Landstreicher gewesen sein, der in der Hütte Unterschlupf suchte und dabei die Sachen entdeckt hat«, ruft Jean Guillaume aus der Küche, wo das Fett in der Pfanne brutzelt.
»Ein Landstreicher hätte nicht die Polizei angerufen«, stellt Hélène mit müder Stimme fest.
Kurz, wir drehen uns mit unseren Ermittlungen im Kreis. Wenn nur dieser blöde Yssart vorbekommen würde, vorher habe ich ihn öfter gesehen, als mir lieb war …
Exhumierung … da läuft es einem kalt über den Rücken. Kleine, bleiche Hände, ein mit feuchter Erde bedeckter Sarg, ein halbverwester Körper, Stofffetzen, Haarsträhnen auf den ausgezehrten Gesichtern, unter der Haut schimmern die Knochen durch … Stop, Elise, nicht weiterdenken. Jetzt wird nicht mehr gedacht.
»All das ist fürchterlich. Ich hoffe, daß man ihn bald fassen wird«, seufzt Yvette.
»Bedauerlich, daß man ihn nicht schon früher gefaßt hat«, brummt Paul. »Gehen wir, ich bin mit der Arbeit in Verzug.«
»Ja, natürlich, ich will Sie nicht aufhalten … Wann findet es statt? Ich meine …?«
»Die Exhumierung? Übermorgen früh«, antwortet Hélène. »Kommst du, Virginie, wir gehen …«
»Jetzt schon? Aber die Sendung ist noch nicht zu Ende …«
»Beeil dich und fang nicht zu quengeln an!«
»Auf Wiedersehen, Elise, auf Wiedersehen, Yvette, auf Wiedersehen, Onkel Jean.«
Weiß der Himmel, warum sie ihn ›Onkel Jean‹ nennt. Alle verabschieden sich. Der Mehlsack bleibt nachdenklich in seinem Rollstuhl zurück. Bei dieser Geschichte stimmt nichts. Nichts paßt zusammen. Als würde jemand die Spuren verwischen. Jemand, der das Gesamtbild des Puzzles kennt und die einzelnen Teile zerschneidet, damit wir sie nicht zusammenfügen können.
»Der arme Paul! Ich möchte nicht in seiner Haut stecken. Zu wissen, daß das eigene Kind wieder ausgegraben wird …«, ruft Jean aus der Küche.
»Hören Sie auf, davon bekommt man ja Gänsehaut. Können Sie sich das vorstellen, Elise?«
Zeigefinger.
»Manche Menschen haben’s wirklich nicht leicht auf dieser Welt, das kann man nicht anders sagen«, fährt Yvette fort.
Das kann ich nur unterstreichen.
»Sein Gesicht ist vom Schmerz gezeichnet«, bemerkt Guillaume. »Manchmal wirkt er plötzlich zehn Jahre älter.«
Ich kann nicht umhin, mir vorzustellen, was ich empfinden würde, wenn man mir plötzlich mitteilen würde, daß man Benoît ausgräbt. Benoît, den man ohne mich begraben hat … Benoît, der mir immer lächelnd unter dem wolkenverhangenen irischen Himmel in Erinnerung bleiben wird und der heute ein fleischloser Körper sein muß, an dem sich die Würmer gütlich tun. Das Leben ist wirklich zu ungerecht. An manchen Tagen möchte man die Welt packen und mit beiden Händen wie ein Glas zerbrechen, bis einem das Blut von den Händen tropft.
»Ißt Elise auch Forelle?«
»Ich werde sie mit Kartoffeln zerdrücken …«
Ja, Schweinefutter. Ich habe das Gefühl, ich bin heute abend gräßlich schlecht gelaunt.
Ich habe ihn! Den neuen elektrischen Rollstuhl. Ich throne darin wie eine Kaiserin. Yvette hat gestern morgen meinen Onkel angerufen, und nachmittags wurde er schon geliefert. Jean hat sich gleich an die Arbeit gemacht, und seit heute morgen ist er mein! Ein Rollstuhl, der von selbst fährt. Und den ich, o Wunder, bedienen kann, ohne auf irgend jemanden angewiesen zu sein. Ich brauche nur mit dem Zeigefinger auf einen Knopf zu drücken. Jean hat kreuzförmig vier kleine Knöpfe angebracht, vorwärts – rückwärts, rechts – links. Im Augenblick kann ich vorwärts und rückwärts bedienen, rechts und links jedoch fällt mir noch etwas schwer. Raybaud, den man konsultiert hat, ist der Auffassung, daß dieser neue Rollstuhl gut für die Beweglichkeit meiner Hand ist, und hat mir wärmstens empfohlen, meine Fertigkeiten darin weiter zu üben. Als täte ich das für ihn! Jedenfalls bewege ich die Knöpfe, fahre im Wohnzimmer vor und zurück, und ich muß sagen, es ist wirklich genial, sich nach Lust und Laune fortbewegen zu können, wenn man monatelang von anderen abhängig war – und wenn es auch nur drei Meter sind.
Während ich mich mit meinem neuen Spielzeug amüsiere, ist die Polizei dabei, die Leichen der Kinder zu exhumieren. In Anwesenheit eines Familienmitglieds. Ich nehme an, Paul ist hingegangen. Und die anderen Väter. Eine Gruppe Männer mit trockenen Augen und zusammengeschnürter Kehle steht im eisigen Wind, den Blick auf die Totengräber geheftet, die die Grube ausheben. Ah, nein. Yvette hat gesagt, daß das Wetter schön ist. Sie hat die Fenster geöffnet, und es riecht nach Herbst und feuchter Erde. Anscheinend tragen die Männer, die die Särge öffnen, einen Mundschutz wie die Ärzte; nicht so sehr wegen des Geruchs, sondern mehr wegen der giftigen Gase. Die Leichen fermentieren in den Särgen. Manchmal kommt es sogar vor, daß einer explodiert. Aber warum lasse ich mich nur immer zu solchen Gedanken hinreißen! Vor, zurück, zurück, vor, ich will mir diesen Friedhof nicht vorstellen, ich will nicht an die verwesten Körper der Kinder denken, vor, zurück.
»Sie werden mit Ihrem Rollstuhl noch eine Spurrille im Parkett hinterlassen!«
O ja, meine gute Yvette, zurück, vor, eine Rille, einen Graben, ein Grab, aufhören!
Das Telefon.
»Hallo? Ah, guten Tag, Catherine. Wie bitte? Nein, nein, das macht nichts, dann kommen Sie eben morgen, ja, ich verstehe … Wenn Sie zum Zahnarzt müssen … Was? Was sagen Sie da …? Aber das ist doch nicht möglich …! Wie haben Sie das erfahren? Ah … Und was sagt er …? Was? Aber das ist doch völlig unsinnig …! Aber warum …? Aber das ist doch kein Grund … Ja, ich verstehe, danke, bis morgen … Elise, es ist furchtbar, Stéphanes Frau … sie hat Selbstmord verübt! Catherine war im Krankenhaus, als sie sie eingeliefert haben.«
Was? Aber was soll das denn nun wieder?
»Sie hat ein Röhrchen Schlaftabletten geschluckt, und die Putzfrau hat sie morgens gefunden … Sie ist tot, Elise!«
Tot? Stéphanes Frau? Umgebracht? Aber was zum Teufel …
»Catherine denkt, daß sie es getan hat, weil er sie verlassen wollte … Also sich deshalb umzubringen … Und niemand weiß, wo er ist, man hat ihn nicht erreichen können … Stellen Sie sich das nur vor, seine Frau ist tot, und er weiß es nicht einmal! Sie haben versucht, ihn über sein Autotelefon zu erreichen, aber er meldet sich nicht. Oh, la la, im Augenblick ist es wirklich furchtbar, ich weiß nicht, was los ist, aber es nimmt anscheinend kein Ende!«
Das stimmt. Sophie tot! Und ich habe immer gedacht, mit Schlaftabletten schafft man es nie. Und wo steckt Stéphane? Ich habe das Gefühl, daß er Ärger bekommen wird, großen Ärger. Was hatte sein Anruf neulich zu bedeuten: »Ich habe Feinde«, und all das … Als hätte er vorausgeahnt, was kommt. Stéphane, der in dem gesuchten weißen Kombi herumfährt … dessen Frau zur rechten Zeit stirbt … und der behauptet, verliebt in mich zu sein. Jemand, der sich in einen Mehlsack verliebt, ist unweigerlich etwas verrückt.
Telefon. Aha, jetzt geht es wieder los, jetzt wird wieder rundgerufen!
»Hallo? Ah, guten Tag, Hélène … Ja, ich weiß, Catherine hat es mir erzählt, das ist grauenvoll … wie … Aber ich verstehe nicht, warum … Ah, ja, natürlich … Und wie geht es Ihnen …? Ja sicher, das kann ich mir vorstellen … Wenn Sie sich zu einsam fühlen, kommen Sie doch vorbei … Kommen Sie zum Kaffee … Ja gut, bis gleich. Das war Hélène. Inspektor Gassin war bei ihr. Er hat gefragt, ob sie weiß, wo Stéphane ist. Sie suchen ihn. Sie hat gesagt, sie hätte keine Ahnung, vermutlich auf irgendeiner Baustelle. Sie schien wirklich deprimiert, sie kannte die arme Sophie ja gut, und daß sie das ausgerechnet heute morgen erfahren mußte … Paul ist bei der Exhumierung, Virginie in der Schule; sie ist ganz allein, ich habe sie eingeladen, zum Kaffee zu kommen. Sie war einverstanden, heute arbeitet sie nämlich nicht. Das ist wirklich alles furchtbar!«
Es läutet.
»Also so was … Wer ist das denn nun schon wieder?«
Die Haustür.
»Ah, Inspektor, kommen Sie herein. Er ist nicht hier!«
»Wie ich sehe, sprechen sich die Neuigkeiten schnell herum. Entschuldigen Sie … Guten Tag, Madame.«
Damit meint er bestimmt mich. Zeigefinger.
»Sie wissen also schon, daß Madame Migoin tot ist?«
»Ja, wir haben es soeben von Catherine Rimiez, Elises Krankengymnastin, erfahren.«
»Wir versuchen, Monsieur Migoin zu erreichen. Sie wissen nicht zufällig, wo er ist?«
»Monsieur Migoin informiert uns gewöhnlich nicht über seinen Terminkalender, er ist nur ein entfernter Bekannter …«
»Ich weiß, aber ich muß es überall versuchen.«
»Warum bemühen Sie sich so, er wird doch sowieso früher oder später nach Hause kommen?«
»Es tut mir leid, daß ich Sie umsonst belästigt habe … auf Wiedersehen, meine Damen.«
Haustür. Ja, warum bemühen sie sich so? Um einen Witwer aufzuspüren, behelligt man keinen Inspektor … Da schickt man einen einfachen Polizisten … Offenbar hatte ich recht: für Stéphane wird es brenzlig …
»Ich frage mich, warum die Polizei so in Aufruhr ist«, kommentiert Yvette. »Na, ich werde mal Kaffee kochen.«
Vor, zurück, wenn ich diesen verdammten Zeigefinger nur einen Millimeter mehr zur Seite bewegen könnte, wenn ich nur … Ich spüre, wie der Finger vibriert, wie er zittert, ich werde es bald schaffen!
»Wissen Sie, was mir gerade eingefallen ist, Elise? Ich denke, daß sie die Tabletten heute nacht genommen hat, sonst hätte die Putzfrau sie noch rechtzeitig gefunden. Sie muß sie geschluckt haben, während er schlief. Das ist doch grauenvoll, wenn man sich vorstellt, daß er in aller Seelenruhe geschlafen hat, während seine Frau neben ihm im Sterben lag!«
Und als er aufgestanden ist, hat er nichts bemerkt? Er hat sich gedacht, daß sie einfach ausschlafen will, und sich auf Zehenspitzen davongeschlichen? Warum nicht? Aber warum ist sie aus dem Bett gefallen? Ein letztes Aufflammen der Lebensgeister? Das werden wir erfahren, wenn sie ihn erwischen, denn ich habe den Eindruck, daß sich der gute Stéphane aus dem Staub gemacht hat. Es ist wirklich komisch … wenn man in diesem Zusammenhang ein solches Wort gebrauchen kann, aber ich hätte Sophie nie für den Typ Frau gehalten, der Selbstmord begeht. Bei ihrem Charakter … Das zeigt mal wieder, wie man sich in den Menschen täuschen kann.
Hélène ist da. Wir trinken Kaffee. Nein, sie trinken Kaffee. Ich bekomme eine Tasse Verdauungstee. Ich rieche den Kaffeeduft. Ich würde so gerne einen guten starken Kaffee mit viel Zucker trinken, doch ich schlucke brav meinen viel zu heißen und faden Kräutertee und verfluche Yvette.
Hélènes Stimme klingt eigenartig, das deutet daraufhin, daß sie keinen guten Tag hat. Sie scheint erschöpft. Manchmal frage ich mich, ob sie nicht am Ende tatsächlich in eine Depression verfallen wird. Ich finde, sie wirkt immer niedergeschlagener.
»Sie haben Stéphane noch nicht gefunden, dabei haben sie alle seine Baustellen abgesucht. Kein Mensch hat ihn gesehen. Finden Sie das normal? Und Sophie bringt sich um … Steph und sie liebten sich schon lange nicht mehr. Sie hätten doch in aller Ruhe die Scheidung einreichen können. Ich kenne sie seit fünf Jahren. Sie hat mir damals sehr geholfen als … nun als Renaud … Wenn ich daran denke, was sie gerade mit Renaud machen … Das macht Paul total fertig …«
Schluchzen. Tröstende Worte von Yvette. Manchmal ist es gut, wenn man nichts sieht.
»Und noch dazu steckt Virginie in einer Krise. Das kann ich im Augenblick wirklich nicht gebrauchen. Natürlich ist es nicht ihre Schuld, aber ich weiß nicht mehr, was ich mit ihr machen soll, sie ist so verschlossen … Nach außen hat man den Eindruck, daß sie gehorcht, aber in Wirklichkeit macht sie, was sie will. In der Schule läßt sie immer mehr nach, aber sie will nicht darüber reden. Manchmal habe ich den Eindruck, daß sie abwesend ist, daß sie uns nicht hört; sie sagt zwar ja, sie lächelt, aber sie scheint vollkommen leer. Ich war mit ihr beim Schulpsychologen, er meint, das sei normal, sie habe einen großen emotionalen Schock erlitten, denn die Morde an Michael und Mathieu hätten den Verlust ihres Bruders wieder in ihr aufleben lassen … Er sagt, sie brauche Zeit. Ich kann nicht mehr einfach dasitzen und warten, ich kann nicht mehr weiter warten, immer soll man warten, immer heißt es, die Zeit heile alle Wunden, aber die Wahrheit ist, daß das nicht stimmt. Es wird nicht besser, es kann sogar schlimmer werden!«
»Das dürfen Sie nicht sagen, Hélène. Sie durchleben eine sehr schmerzliche Phase, aber Sie werden sehen … Eines Tages ist all das nur noch Vergangenheit. Sie werden wieder voller Zuversicht in die Zukunft blicken …«
Für meine Begriffe übertreibst du ein wenig, meine liebe Yvette … aber du meinst es ja nur gut. Und was soll man ihr auch sagen? Ja, Ihre Tochter ist verrückt, Ihr Mann scheint Sie nicht mehr ertragen zu können, Ihre beste Freundin hat sich gerade umgebracht, und deren Mann hat vielleicht Ihren Stiefsohn getötet, aber sonst ist doch alles in schönster Ordnung …
»Ja, Sie haben vielleicht recht … Wir werden sehen«, gibt Hélène teilnahmslos zurück. »Und Sie, Elise, geht es Ihnen gut?«
Zeigefinger.
»Elise hat einen neuen Rollstuhl.«
»Ah, ja! Das ist mir gar nicht aufgefallen. Entschuldigen Sie, aber im Augenblick …«
Das glaube ich dir gern, daß dich mein Rollstuhl im Augenblick nicht die Bohne interessiert.
»Es ist ein elektrischer. Man kann ihn schieben, aber sie kann sich auch alleine fortbewegen.«
»Aber das ist ja wunderbar! Zeigen Sie doch mal!«
Ich habe noch nie jemanden das Wort ›wunderbar‹ so hoffnungslos aussprechen hören. Aber gut, ich gehorche: vor, zurück …
»Oh, Elise! Das ist phantastisch! Endlich können Sie sich selbst vorwärts bewegen!«
Ja, zwischen zwei Wänden hin- und herfahren!
»Jean Guillaume hat ihn bei Romero im Schaufenster gesehen und hatte die Idee, ihn für Elise umzubauen.«
»Sagen Sie mal, Yvette, dieser Monsieur Guillaume scheint Sie ja ziemlich zu interessieren«, versucht Hélène mit nicht eben fröhlicher Stimme zu scherzen.
»Ich muß zugeben, daß er mir sehr sympathisch ist, außerdem ist es doch immer sehr nützlich, einen Mann im Haus zu haben. Möchten Sie noch etwas Kaffee?«
»Nein danke, ich bin schon nervös genug. Hat Paul nicht angerufen?«
»Paul? Nein …«
»Ich dachte nur, weil er gesagt hat, er würde mich zu Hause anrufen, und er hätte vielleicht hier angerufen, während ich unterwegs war …«
»Er hat sicher sehr viel Arbeit …«
»Ja, im Augenblick ist er völlig überlastet. Ich habe ihn angerufen, um ihm zu sagen, daß Sophie … Er war in einer Besprechung, aber die Polizei war schon dagewesen, dieser junge Inspektor Gassin, und Paul wollte mich zurückrufen … Das Wetter ist wirklich wunderbar heute.«
»Sollen wir nicht einen kleinen Spaziergang machen?«
»Warum nicht? Hinterher hole ich dann Virginie ab.«
»Ich suche nur rasch ein Plaid für Elise.«
Genau, damit ich umkomme vor Hitze. Hélène steht neben mir, und ich rieche ihr Parfüm.
»Stéphane hat seine Frau nicht umgebracht«, flüstert sie mir hastig zu.
Na, um so besser, aber ehrlich gesagt bin ich nicht davon ausgegangen …
»Sie wissen die Wahrheit, nicht wahr?«
Welche Wahrheit? Was redet sie da?
»Gehen wir?« unterbricht Yvette und legt mir ein zentnerschweres Plaid auf die Knie.
Die Wahrheit … die wüßte ich nur allzu gern … Draußen ist es warm, und ein angenehmer Duft erfüllt die Luft. Hélène denkt bestimmt an Renaud, den man gerade in einem Dunst von Formalin seziert, und an Sophie, die im Leichenschauhaus liegt. ›Stéphane hat seine Frau nicht getötet‹ … Soll das heißen, daß sie umgebracht wurde? Daß es sich vielleicht um einen kaschierten Mord handelt? Aber nein, was bilde ich mir da wieder ein! Komm, genieß den Spaziergang, liebe Elise, und vergiß alles andere!
Die Wahrheit … woher sollte ich sie wissen? Und Hélène, kennt sie die Wahrheit? Glaubt Hélène, daß Virginie etwas weiß? Daß Virginie mir etwas anvertraut hat? Elise, hör auf damit, du wirst noch verrückt. Gut, gut, schon gut!
Sie haben Stéphane noch immer nicht gefunden. Jetzt ist er schon seit drei Tagen verschwunden. Sophies Beerdigung findet morgen statt. Natürlich will Paul hingehen und Hélène nicht. Inspektor Gassin zufolge soll Sophie sich wegen ihres Mannes umgebracht haben. Weil er sie verlassen hat. Weil er definitiv verschwunden ist. Er hat alles Geld von seinen Konten abgehoben, seine Geschäfte geregelt und einfach ein neues Leben angefangen. In gewisser Weise ein vorweggenommener Abschied. Ich frage mich, ob er sich auf die Radiodurchsagen der Polizei hin melden wird. Meiner Meinung nach hat er nicht die geringste Lust zu erfahren, was mit seiner Frau geschehen ist. Außerdem haben sie keinerlei Beweise gegen ihn.
Es ist schließlich nicht seine Schuld, daß sie Selbstmord begangen hat. Aber ich könnte mir vorstellen, daß sie ihm etliche Fragen stellen wollen und daß der Tod seiner Frau nur ein Vorwand ist. Eine andere Hypothese: Was würden Sie tun, wenn Sie erfahren, daß Ihr Mann ein Mörder ist? Wenn Sie ihn durch die Beschreibung gewisser Kleidungsstücke wiedererkennen? Wäre das Grund genug, sich umzubringen?
Es läutet. Yvette eilt zur Tür.
»Oh, guten Tag …«
Sie klingt enttäuscht.
»Guten Tag, Madame Holzinski. Ich nehme an, Mademoiselle Andrioli ist zu Hause?«
»Wo soll sie denn sonst sein? Sie ist im Wohnzimmer. Sie kennen den Weg ja.«
»Ja, danke.«
Yssart! Ich höre seine ruhigen Schritte auf dem Parkett. Ich frage mich, wie er gekleidet ist. Im tadellosen Anzug mit Weste? Er duftet nach Rasierwasser.
»Guten Tag, Mademoiselle.«
Zeigefinger.
»Da ich gerade in der Nähe war, erlaube ich mir, Ihnen einen Besuch abzustatten. Keine Angst, ich möchte Ihnen keine Fragen stellen. Nein, sehen Sie, ich bin nur gekommen, um Sie über den neuesten Stand der Dinge zu informieren. Denn ich bin überzeugt davon, daß Sie großes Interesse an dieser traurigen Angelegenheit haben. Die Laboruntersuchung hat eindeutig bewiesen, daß auf dem Kragen des Pullovers, den man in der Forsthütte gefunden hat, Haare waren. Blonde Haare, Stéphane Migoins Haare. Wir haben sie mit denen aus seiner Haarbürste verglichen. Das wollte ich Ihnen mitteilen.«
Also stimmt es doch!?
»Außerdem sieht es so aus, als wäre Madame Migoins Tod nicht unbedingt auf Selbstmord zurückzuführen. Meiner Auffassung nach kann man sie sehr wohl gezwungen haben, die Tabletten zu schlucken. Ihr Kiefer weist ein Hämatom auf, das würde für meine These sprechen, aber sie kann es sich natürlich auch bei dem Sturz aus dem Bett zugezogen haben. Ich habe gehört, daß sich Monsieur Migoin für Sie interessierte.«
Pause. Ich warte. Er beobachtet mich sicher. Dann fährt er fort:
»Man hat mir auch gesagt, daß er am Steuer eines weißen CX gesehen wurde.«
Paul und Hélène! Sie haben also gegen ihn ausgesagt!
»Man hat mir so viele Dinge zugetragen, daß ich einen Haftbefehl gegen Stéphane Migoin beantragt habe. Falls Sie also die geringste Ahnung haben, wo er sich aufhalten könnte, wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie es mir mitteilen würden. Dadurch würden wir alle Zeit sparen.«
Schon wieder! Dieser Typ hält mich offenbar für die Vertrauensperson der ganzen Stadt! Wenn ich wüßte, wo sich Stéphane aufhält, würde ich es auf der Stelle sagen. Ich meine, ich würde mich verständlich machen.
»Wissen Sie diesbezüglich etwas?«
Kein Zeigefinger.
»Glauben Sie, daß die kleine Virginie Monsieur Migoin so verbunden sein könnte, daß sie nicht sagt, was sie über ihn weiß?«
Virginie? Stéphane verbunden? Sie hätte beobachtet, wie er ihren Bruder umbringt und nichts gesagt? Nein, unmöglich! Außer … außer … mein Gott, ja, aber ja! Außer, wenn Stéphane Hélènes Liebhaber gewesen wäre. In diesem Fall hätte Virginie nicht gewagt, etwas zu sagen. Aber Hélène liebt Paul. Warum zum Teufel sollte sie mit Stéphane schlafen? Und Stéphane liebt mich! Huuhu, ich habe den roten Faden verloren.
»Ist Ihnen klar, daß man Stéphane Migoin den Mord an dem kleinen Massenet zur Last legen wird?«
Zeigefinger.
»Glauben Sie, daß er das Verbrechen begangen hat?«
Aber was bildet sich der Kerl ein? Bin ich das Orakel von Delphi? Seit wann interessiert es die Bullen, was Gelähmte denken?
Und was denke ich überhaupt? Ich kann mich nicht entschließen, den Zeigefinger zu heben. Mir wird bewußt, daß ich nicht glauben kann, daß Stéphane diese Kinder getötet hat. Vorstellen kann ich es mir, aber glauben kann ich es nicht.
»Danke. Mir war sehr an Ihrer Meinung zu dieser Sache gelegen. Sehen Sie, Mademoiselle Andrioli, auch wenn Sie das verwundern mag, mir ist Ihr Urteil sehr wichtig.«
Also, das haut mich doch um! Ich habe mich überhaupt nicht geäußert, aber mein Urteil ist ihm wichtig! Ich glaube, ich träume! Dieser Bulle ist genauso verrückt wie alle anderen. Vielleicht bin ich ja in einem Irrenhaus gelandet und niemand hat es mir gesagt.
»Ich darf mich verabschieden, alles Gute.«
Wie charmant! Danke, und beste Grüße an die Familie. Der nächste bitte! Das Irrenhaus ist täglich geöffnet. Ich höre, wie sich sein ruhiger Schritt entfernt. Er trägt sicher handgefertigte Lederschuhe.
»Ist er weg?« erkundigt sich Yvette aufgebracht.
Zeigefinger.
»Eingebildeter Pinsel!« bemerkt sie noch, ehe sie wieder in ihre Küche zurückkehrt.
Vor, zurück, ich überlege. So viel habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht nachgedacht. Früher war alles so einfach. Ich beklagte mich wie alle anderen auch, aber wenn ich bedenke, wie einfach damals alles im Vergleich zu heute war … Vor, zurück … und wenn ich gegen die Wand rase? ›Gelähmte rast mit 250 Stundenkilometern gegen ihre Wohnzimmerwand und zerschmettert sich beim Aufprall den Schädel!!‹ Vor, zurück, Achtung, meine Damen und Herren, Sie sehen das große Rodeo von Boissy-les-Colombes und als Stargast die unvergleichliche Elise Andrioli. Bitte begrüßen Sie sie mit einem kräftigen Applaus! Gott sei Dank kann niemand meine Gedanken erraten, ich würde mich schämen. Mein armer Vater hat sich immer gefragt, warum ich selbst im schlimmsten Fall noch über alles lachen konnte. Offenbar ist das eine besondere Gabe. Die zweite Möglichkeit wäre, daß ich mit vollständiger Blödheit geschlagen bin. Aber mal ernsthaft: Wo könnte Stéphane stecken? Warum ist er geflohen? Warum hat er beschlossen zu verschwinden, seine Konten aufzulösen und so weiter? Und vor allem, ist er dumm genug, seinen Pullover, der mit Michaels Blut getränkt ist, in der Forsthütte liegen zu lassen? Er ist vielleicht nicht gerade Einstein, aber trotzdem …