Heute morgen findet die Beerdigung von Mathieu Golbert statt. Natürlich gehen alle hin: die Mondinis, die Quinsons, die Migoins. Yvette ist vor einer halben Stunde mit Paul losgefahren, Hélène weigert sich hinzugehen. Ich höre, wie sie nervös in einer Zeitschrift blättert, als säße sie im Wartezimmer eines Arztes. Als Yvette hörte, daß sie zu Hause bleiben wollte, schlug sie vor, sie solle mir doch Gesellschaft leisten, während sie auf der Beerdigung sei. »Dann sitzt sie wenigstens nicht allein zu Hause und bläst Trübsal«, meinte sie. Virginie spielt draußen mit ihren Puppen. Eine von ihnen kriegt gerade eine ordentliche Tracht Prügel: »So, so, du böses Mädchen, das kommt davon.« Klatsch, klatsch, ich weiß nicht, was sie ausgefressen hat, aber Virginie ist nicht zu bremsen.
Anscheinend ist das Wetter sehr schön: Ein wolkenloser, blauer Himmel und kein Lüftchen. Ich stelle mir vor, wie sich der Leichenzug aus Trauermienen in der sengenden Sonne entlang den ausgetrockeneten Feldern voranbewegt. Wenn ich daran denke, daß Benoît auf diesem Friedhof begraben liegt … Es ist noch ein sehr neuer Friedhof; soweit ich mich erinnere, wurde er 1976 in einem ruhigen Ort im Grünen angelegt. Ich habe nicht einmal hingehen und Benoîts Grab besuchen können. Yvette hat mir erzählt, daß auch Renaud dort begraben liegt. Ich verstehe, daß es über Hélènes Kräfte geht, an der Beerdigung eines kleinen Jungen teilzunehmen, der neben dem Sohn ihres Mannes beigesetzt wird. Ob der Mörder auch zur Beerdigung kommt? In Filmen sieht man das sehr oft.
Hélène ist recht schweigsam. Von Zeit zu Zeit eine Bemerkung über das Wetter, über die Uhrzeit; gerade hat sie ein Streichholz angezündet, und ich rieche, wie sich der Zigarettenrauch im Zimmer ausbreitet. Das Rascheln der fahrig umgeblätterten Seiten. Ihr Atem geht schnell. Zu schnell.
»Das Schlimmste ist, zu wissen, daß er in dieser kleinen Kiste liegt. Dein Kind in einer kleinen Kiste. Wie … wie ein Paket. Nicht viel größer als … als zum Beispiel eine Weinkiste. Das ist doch wirklich komisch, oder?«
Es geht ihr nicht gut. Ich glaube an meinem Speichel zu ersticken. Ihre Stimme zittert. Hoffentlich fängt sie nicht an zu weinen! Ich weiß nie, wie ich mich verhalten soll, wenn Leute weinen.
»Paul wollte zur Beerdigung gehen. Ich weiß nicht, warum, wir kennen diese Leute ja kaum, aber er wollte unbedingt hingehen, aus Solidarität. Ein großes Wort. Davon bekommen sie ihren Sohn auch nicht zurück. Ich war dagegen, aber wenn er sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hat … Ich wollte nicht allein bleiben, nicht an einem solchen Tag. Entschuldigen Sie, Elise, ich langweile Sie sicher mit meinem Geschwätz.«
Aber nein, überhaupt nicht, Hélène, aber wie soll ich Ihnen das klarmachen? Wie soll ich Ihnen sagen, daß ich Ihren Kummer verstehe? Dieser verfluchte Körper, versagt mir den Dienst … Mist, jetzt kommt Virginie.
»Kann ich etwas Wasser haben, Mama? Was hast du denn, Mama?«
»Nichts, mein Liebling. Hol dir Wasser aus der Küche.«
»Bist du traurig wegen Mathieu?«
»Ja, ein bißchen.«
»Es ist nicht schlimm, Mathieu ist bestimmt froh, daß er in den Himmel kommt.«
»Ja, sicher. Hol dir schnell etwas zu trinken.«
Eilige Trippelschritte.
»Es ärgert mich, daß ich mich so aufführe. Es ist lächerlich. Gott sei Dank sieht mich Paul nicht. Er findet meine Krisen unerträglich.«
Der gute Paul scheint ja wirklich ein Musterbeispiel an Geduld zu sein! Jetzt verstehe ich besser, warum Hélène immer so abwesend und traurig wirkt. Virginie saust wie ein Wirbelsturm vorbei und rennt lärmend in den Garten hinaus. Der Tod ihres kleinen Freundes scheint sie absolut nicht zu berühren. Wenn ich daran denke, wie sehr sie neulich geweint hat, kommt mir das merkwürdig vor. Sie hat offenbar alles verdrängt und will nicht mehr daran denken.
Wie spät mag es sein? Hélène tut wieder so, als ob sie lesen würde. In dieser morbiden Atmosphäre sind meine Nerven zum Zerreißen gespannt.
»Ich hätte Renaud an jenem Tag nicht erlauben dürfen, draußen zu spielen. Es mußte zwangsläufig passieren. Zwangsläufig.«
Gleich bekommt sie einen hysterischen Anfall, das spüre ich. Was soll ich dann tun? Ich versuche es mit dem gehobenen Zeigefinger.
»Nein, ich weiß, daß es meine Schuld ist, ich weiß es, Elise, Sie werden mich nicht vom Gegenteil überzeugen.«
Zeigefinger.
»Ich wußte, daß es geschehen würde, ich wußte es, ich habe es gefühlt, und ich habe nichts dagegen unternommen. Virginie hat ihn gefunden. Sie hat mich gerufen, er lag auf dem Bauch, und überall war Blut! Ich habe Virginie in die Arme genommen und bin zum Haus zurückgelaufen, um den Notarzt zu rufen. Ich wollte nicht, daß sie ihn so sieht; also habe ich ein Badetuch über den Körper geworfen, es färbte sich auf der Stelle rot … Ich hasse Rot! Eine Farbe, die ich nie trage.«
Ihre Stimme wird bedrohlich schrill. Es läutet am Gartentor. Uff!
»Guten Tag, meine kleinen Virginie, wie geht’s?«
»Alles in Ordnung, Hélène? Waren wir nicht zu lange weg? Paul wartet im Wagen auf Sie, er hat es eilig. Hélène?«
»Ich komme. Ich suche nur ein Taschentuch, ich habe einen fürchterlichen Schnupfen.«
»Einen Schnupfen? Das muß wohl ein Heuschnupfen sein, es ist doch so warm.«
»Bestimmt. Gut, ich gehe. Auf Wiedersehen, Elise, auf Wiedersehen, Yvette. Komm, Virginie!«
»Auf Wiedersehen.«
»Auf Wiedersehen, meine Kleine.«
Die Tür fällt ins Schloß.
»Oh, es war fürchtbar«, ruft Yvette, während sie anfängt, den Tisch zu decken. »Man hat die Mutter zurückhalten müssen, sie wollte dem Sarg nachspringen. Paul war leichenblaß. Claude Mondini ist in Tränen ausgebrochen, und ihr Mann war kurz davor. Die Quinsons mußten natürlich mal wieder auffallen. Betty trug einen völlig lächerlichen Schleierhut und Manuel einen weißen Anzug. Wir sind hier schließlich nicht in China, wo man in Weiß zur Beerdigung kommt! Kommissar Yssart war nicht da. Dafür aber ein junger Inspektor, Florent Gassin, ein sehr netter Junge, er scheint recht gewissenhaft, sieht ein bißchen aus wie Patrick Bruel, wissen Sie, was ich meine?«
Schon wieder ein schöner Mann in meiner Umgebung! Aufhören, aufhören! Stop!! Ich weiß ja gar nicht mehr, wohin mit ihnen!
»Stéphane und seine Frau waren auch da. Was für ein eingebildetes Weibsbild! Seine eine Gesichtshälfte war noch ganz blau und geschwollen. Wo habe ich nur die Butter hingestellt? Ah, das ist sie ja! Und dann diese drückende Hitze, alle waren schweißgebadet. Der Priester – er war noch sehr jung, mit einem starken Akzent, er scheint aus Südfrankreich zu kommen oder ich weiß nicht, woher, auf alle Fälle völlig unverständlich – erging sich in nicht enden wollenden Trostworten, ich hätte alles dafür gegeben, anderswo zu sein. Sobald die Trauerfeier vorbei war, hat Paul mir ein Zeichen gemacht, und wir sind gegangen.«
Ich kann mir gut vorstellen, wie grauenvoll diese Beerdigung war. Ob Paul an dem Grab seines Sohnes vorbeigegangen ist? Yvette läßt in der Küche Wasser laufen. Aus der Ferne dringt ihre Stimme zu mir herüber:
»Jean wollte nicht mitkommen. Er findet das morbide …«
Jean? Ach ja, Jean Guillaume. Sie reden sich also schon mit Vornamen an … Morbide, kein Wunder … bei einer Beerdigung … Das Ideale wäre eine Beerdigung ohne Leiche, aber das kommt eher selten vor.
»So, fertig.«
Sie schiebt meinen Rollstuhl an den Tisch. Dieser Geruch … ist das nicht … Mais? Richtig! Meine Wahrnehmung wird immer besser. Ich kaue, so gut ich kann. Eine Hand auf meinem Handgelenk, bleibe ich ruhig sitzen.
»Ich hoffe, daß die Polizei dieses Ungeheuer bald zu fassen bekommt. Es ist wirklich entsetzlich. Ach, ich bekomme keinen Bissen mehr herunter.«
Aber ich! Es mag ja unglaublich sein, aber ich habe Hunger! Leider höre ich schon, wie Yvette den Tisch abräumt. Vielleicht ein kleines Dessert? Nein, kein Dessert. Ich höre, wie sie sich Kaffee einschenkt. Der Kaffeeduft steigt mir in die Nase. Ah, ein guter, starker Kaffee, in dem der Löffel steckenbleibt … Aber natürlich ist mir das verboten. Da hocke ich zusammengesunken und mit knurrendem Magen in meinem Rollstuhl. Den Rest des Tages, den ich in Gesellschaft einer aufgewühlten Yvette verbringe, herrscht eine gedrückte Stimmung. Wie ein Film spulen sich die Ereignisse immer wieder vor meinem inneren Auge ab:
1)Ich lerne Virginie kennen, die mir etwas über einen Kindermörder erzählt.
2)Ihre Erzählung wird durch das Auftauchen der Leiche des kleinen Michael Massenet bestätigt.
3)Ich lerne ihre Eltern, Paul und Hélène Fansten, und deren Freunde kennen: Stéphane und Sophie Migoin, Manuel und Betty Quinson, Jean-Mi und Claude Mondini.
4)Man versucht mich umzubringen!
5)Virginie sagt mir Mathieus Tod vorher.
6) Mathieu wird ermordet. Schlußfolgerung?
Virginie ist der Dreh- und Angelpunkt der ganzen Geschichte. Aber welche Rolle kommt mir dabei zu? Wie kann ich mit meiner Behinderung überhaupt eine Rolle in dieser schaurigen Geschichte spielen?
Es scheint, als ob Regen aufzieht. Der Himmel ist wie ich: Unentschlossen, mürrisch, aufgewühlt.
Es ist Nachmittag. Ich sitze im Wohnzimmer und höre eine Kinderkassette. Nicht, daß ich in ein infantiles Stadium zurückverfallen wäre, aber Virginie ist da und hat ihre Kassetten mitgebracht.
»In Jurassic Park benutzen sie, wie hier auch, eine Ziege als Köder«, erklärt sie plötzlich.
Und in Boissy-les-Colombes muß ich als Ziege herhalten, hätte ich ihr am liebsten geantwortet.
»Es ist nicht die Schuld der Wölfe, daß sie Schafe töten. Sie müssen ja schließlich was essen.«
Genau. Du bist auf dem richtigen Weg. Sprich nur weiter.
»Und manchmal ist es bei den Menschen genauso. Sie machen manche Dinge auch, weil sie müssen. Auch wenn es böse ist.«
Virginie, mein Liebling, du hast soeben das Problem der Willensfreiheit angesprochen, und ich kann dir bei der Lösung nicht weiter helfen; zum einen, weil ich stumm bin, zum anderen, weil ich selbst auch keine Antwort weiß.
»Aber ja, sie hört.«
Was? Ich verstehe nicht, was sie damit meint. ›Ja, sie hört‹? Wer hört? Ich? Mit wem spricht sie? Mit Yvette? Aber Yvette hat doch die Gelegenheit genutzt, um schnell in die Apotheke zu gehen. Sie hat sogar die Fenster geschlossen und die Tür abgesperrt.
»Nein, wenn ich dir doch sage, daß sie hört! Sie kann nur nicht sprechen!«
Was spielt sie denn da für ein Spiel? Die Kassette ist doch zu Ende. Virginie legt anscheinend eine andere Kassette ein, denn ich höre, wie sie sich am Apparat zu schaffen macht. Ah, Peter und der Wolf von Tschaikowski. Die Musik erfüllt den Raum, und ich lausche angestrengt, um den tieferen Sinn des Stückes zu verstehen.
»Sie ist sehr nett. Du darfst ihr nichts tun!«
Virginie? Virginie, mein Liebling, was erzählst du da? Ich hebe den Zeigefinger.
»Keine Angst, Elise, ich habe es ihm erklärt.«
Was erklärt? Wem? Ich werde langsam nervös. Und wenn sie nun nicht spielt? Und wenn sie tatsächlich mit jemandem spricht?
»Er findet dich sehr hübsch.«
O nein! Ich versuche mit aller Kraft zu lauschen, um einen Atemzug, die geringste Bewegung wahrzunehmen, aber diese höllische Musik übertönt alles.
»Er besucht mich oft. Er hat Angst, verstehst du …?«
Aber wer, wer in Gottes Namen?
»Hör auf, ich habe dir gesagt, du sollst sie nicht anfassen!«
Sie spielt nicht. Dieses Kind spielt nicht. Sie spricht mit irgend jemandem. Mit jemandem, der in meinem Wohnzimmer ist und mich ansieht. Mit jemandem, der schweigt. Der mich hübsch findet. Der mich anfassen will. Stop! Ich spüre, wie eiskalter Schweiß über meinen Rücken rinnt. Ist ›er‹ es? Ist es der Mörder? Ich bin so angespannt, daß ich das Gefühl habe, jeden Augenblick zu zerspringen. So sag doch was, verdammter Dreckskerl!
»Mama will nicht, daß ich mich mit ihm unterhalte. Sie sagt, das ist schlecht.«
Wie? Hélène kennt ihn auch? Ein Knarren an meiner rechten Seite … Was war das? Was war das? Nähert sich mir jemand?
»Aber ich weiß, daß er Angst hat, ganz alleine da unten im Dunkeln. Also erlaube ich ihm zu kommen.«
War da nicht ein Seufzer? Habe ich nicht direkt neben mir ein Seufzen gehört? Virginie, hör auf damit, ich flehe dich an. Bring diesen Typen nach draußen, raus! Ich hebe den Zeigefinger mehrmals hintereinander.
»Du glaubst mir also auch nicht? Niemand glaubt mir, aber es stimmt, Renaud ist da, er besucht mich.«
Renaud? Ich verstehe nicht. Renaud? Glaubt sie etwa … mein Gott, glaubt sie etwa, ihr Bruder wäre da?
»Er fürchtet sich in seinem Sarg, also besucht er mich, wenn ich allein bin. Und mit dir ist es, als wäre ich allein, weil du nichts siehst.«
Sie glaubt, ihr toter Bruder würde sie besuchen. Dies Kind ist völlig gestört, Yssart hat recht. Arme Kleine, ich würde sie gern in die Arme schließen und … und vor allem bin ich unglaublich erleichtert. Gut, es ist gemein, sich erleichtert zu fühlen, weil Virginie krank ist, aber, ehrlich gesagt, ist mir das lieber als die Anwesenheit eines Mörders in meinem Wohnzimmer. Plötzlich fühle ich mich schlapp: Das ist die Reaktion auf die Anspannung.
»Er sagt, wenn er gewußt hätte, wie das ist, hätte er sich nicht totmachen lassen.«
Diese kleine, ruhige Stimme. Ich frage mich, wie sie ihren Bruder sieht. Wie die Zombies in den Filmen? Ein unangenehmes Bild, das ich besser nicht heraufbeschworen hätte, denn ich habe genügend Horrorfilme gesehen, so daß auch ich es mir gut vorstellen kann: Halb verwest steht er neben meinem Rollstuhl, und sein Lächeln ist so breit und starr, als habe man ihm die Mundwinkel an den Ohren festgenäht …
»Virginie! Mach die Musik leiser! Da wird man ja ganz taub. Es hat etwas länger gedauert, aber es war sehr voll.«
Ah! Wenn ich springen könnte, würde ich jetzt an der Decke kleben. Yvette! Wie immer, mein rettender Engel! Ich höre ihre Schritte auf dem Parkett.
»Ich habe dir doch verboten, die Tür zu öffnen!«
Warum sagt sie das? Es hat doch niemand die Tür geöffnet.
»Virginie, leg das Buch weg und antworte mir«, fährt Yvette fort. »Warum hast du die Tür aufgemacht?«
»Ich hatte Bilou im Garten vergessen.«
Bilou ist ihre Puppe. Aber ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern, sie hinausgehen gehört zu haben. Sie hat mich nur allein gelassen, um Pipi zu machen. Ist sie bei dieser Gelegenheit in den Garten gegangen? Hat sie jemanden hereingelassen? Nein, Geister kommen nicht durch die Tür. Außer, es wäre kein Geist gewesen. Was für ein Unsinn! Ich verliere langsam den Verstand. Außer, sie hätte einem Wesen aus Fleisch und Blut die Tür geöffnet … He, he, he! Gefahr im Verzug! Elise Andrioli steht vor einem Nervenzusammenbruch! Hallo, hallo, Doktor Raybaud, Ihre Patientin muß sofort in ein ruhiges Sanatorium, vor allen Dingen weit entfernt von Boissy-les-Colombes!
»So, komm deinen Kuchen essen! Elise, Ihnen mache ich einen Kräutertee.«
Virginie erhebt sich und folgt Yvette brav in die Küche. Doch ehe sie geht, flüstert sie mir zu:
»Ich mußte ihm aufmachen. Er kann noch nicht durch Wände gehen, das ist sehr schwer, weißt du …«
Natürlich, er kann noch nicht durch Wände gehen … Sie trippelt davon. Und ich sitze da, habe das Gefühl, daß ein Wirbelsturm durch mein Gehirn braust und versuche, mir einen Reim auf die ganze Sache zu machen.
Der Kräutertee ist zu heiß, widerwärtig, Lindenblüten oder so was Ähnliches, ich mag keinen Kräutertee, ich will einen gut eingeschenkten Calvados, der einem im Magen brennt. Doch ich schlucke brav meinen Kräutertee. Virginie malt irgend etwas aus, ich höre, wie der Stift über das Papier kratzt.
»Was malst du da, Liebling? Eine Vogelscheuche?«
Yvette scheint um Verständnis bemüht, doch ihre Stimme klingt verwundert.
»Nein, das ist ein kleiner Junge!«
»Dein kleiner Junge ist aber eigenartig. Ganz steif, mit ausgebreiteten Armen und grün …«
»So ist er eben!«
»Nun ärger dich doch nicht! Ich sage das deinetwegen, mir ist es schließlich egal … Noch etwas Kräutertee?«
Kein Zeigefinger.
»Dann eben nicht. Virginie, hilfst du mir beim Abspülen?«
»Ja gut.«
Zu gerne würde ich die Zeichnung sehen: Ein kleiner, grüner Junge, der ganz steif ist? Ich habe die unangenehme Befürchtung, daß Virginie in eine andere Welt abgetaucht ist. Na ja, nach dem Tod ihres Bruders und den neuesten Ereignissen … Und Yssart unternimmt nichts!
Es klingelt an der Tür.
Es ist der junge Inspektor, Florent Gassin. Er riecht nach Leder, Tabak und Rasierwasser. Ich stelle ihn mir in einer Fliegerjacke und ausgewaschenen Jeans vor.
»Ich hoffe, ich störe Sie nicht. Inspektor Yssart hat mich gebeten vorbeizuschauen. Er hat noch einige Fragen zu dem genauen Hergang des Angriffs, der auf Sie verübt wurde.«
Zeigefinger. Er fühlt sich wahrscheinlich unwohl und tritt von einem Fuß auf den anderen. Das Parkett knarrt.
»Wußte irgend jemand, daß Sie durch den Wald kommen würden?«
Kein Zeigefinger. Warum fragt er mich das? Hat er Stéphane schon dieselben Fragen gestellt?
»Ist das der Weg, den Sie normalerweise gehen?«
Du willst sagen, der Weg, den diejenigen gehen, die meinen Rollstuhl schieben, mein Hübscher? Ja, im allgemeinen. Also, Zeigefinger.
»Haben Sie das Bewußtsein verloren?«
Zeigefinger.
»War Jean Guillaume schon da, als Sie wieder zu sich kamen?«
Zeigefinger. Mein Gott, ist das langweilig!
»Hat es zum Zeitpunkt des Unfalls schon geregnet?«
Zeigefinger. Was hat denn der Regen damit zu tun?
»Gut, ich danke Ihnen.«
Das Notizbuch wird zugeklappt. Yvette kommt herein:
»Möchten Sie etwas trinken?«
»Ähm … nein danke, ich bin in Eile. Übrigens, stimmt das Gerücht, daß Stéphane Migoin und seine Frau sich scheiden lassen?«
»Ah, das weiß ich nicht! Ich höre mir solche Klatschgeschichten nicht an!« gibt Yvette würdevoll zurück. »Sind Sie fertig?«
»Ja, ich gehe. Anscheinend ist seine Frau unglaublich eifersüchtig. Das erzählt man sich zumindest. Auf Wiedersehen, meine Damen.«
Wenn ich recht verstehe, verdächtigt man diese alte Ziege von Sophie, aus Eifersucht ihren Mann k.o. geschlagen und mich ins Wasser gestürzt zu haben … Warum nicht? Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem alle Theorien ihre Berechtigung haben.
»Wirklich ein hübscher Kerl, dieser Inspektor«, sagt Yvette, während sie irgend etwas aufräumt. »Und nicht so ein ungehobelter Klotz wie sein Chef … Aber ich habe nicht genau verstanden, worauf er mit seinen Fragen hinauswill. Aber nun … Virginie, meine Kleine, es wird Zeit, nach Hause zu gehen. Mach dich fertig, dein Papa wird gleich kommen.«
Es läutet. Papa ist da.
»Guten Tag, Yvette, guten Tag, Lise. Es hat sich ganz schön abgekühlt, was? Bist du fertig, Virg’?«
»Kommen Sie herein, Paul. Entschuldigen Sie, aber ich habe etwas auf dem Herd stehen …«
Yvette geht.
»Papa, willst du sehen, was ich gemalt habe?«
»Ja, aber schnell. Geht es Ihnen gut, Lise?«
Zeigefinger. Seine Stimme klingt abgespannt.
Virginie trippelt über das Parkett.
»Guck mal.«
Das Geräusch einer schallenden Ohrfeige. Was ist passiert?
»Mach so etwas nie wieder, hörst du, Virginie? Nie wieder!«
Seine Stimme klingt leise und dumpf. Er muß vor Wut kochen. Ratsch, das Papier wird zerrissen. Virginie schnieft.
»Komm, wir gehen. Auf Wiedersehen, Lise, auf Wiedersehen, Yvette.«
Er verströmt die Wärme eines Tiefkühlschranks. Ich bin baff. Paul, der immer so überlegen ist … Sicher, wenn Virginie ihm Renauds Porträt als Zombie unter die Nase gehalten hat … Aber es ist schließlich nicht ihre Schuld, wenn sie ein Trauma hat, das arme Kind. Man könnte meinen, niemand in der Familie würde es bemerken. Bald wird man sie noch schlagen, weil sie Albträume hat. Ich auf alle Fälle durchlebe einen Albtraum. Als hätte ich nicht schon genug Probleme, als wäre ich nicht schon unglücklich genug … Nein, bitte kein Selbstmitleid. Und ich kann nicht einmal beschließen, mich zu betrinken, um alles zu vergessen.
Die kriminalistischen Untersuchungen bringen nichts Neues. Das Wetter ist unfreundlich. Ich auch. Es ist kühl und es nieselt. Yvette hat begonnen, die Sommersachen wegzuräumen und die Wintersachen zu sortieren. Gerade war Catherine die Große zu ihrem täglichen Massagetratsch da. Sie hat bestätigt, daß sich die Migoins trennen wollen. Das hat ihr Stéphane beim Tennis anvertraut. Auch bei Paul und Hélène soll nicht gerade alles zum Besten stehen. Liegt das am Wechsel der Jahreszeit? Als mich Hélène gestern besuchte, hatte ich das Gefühl, sie weinte. Die einzigen, bei denen alles in Ordnung scheint, sind Jean Guillaume und meine Yvette. Gestern Abend waren sie im Kino, darum war auch Hélène bei mir. Sie haben sich den letzten Clint Eastwood angesehen. Für mich war das Kino immer so wichtig. Zum Teufel. Zum Teufel mit dem Leben, zum Teufel mit dem Tod, zum Teufel mit der ganzen Welt.