Heute ist der große Tag. Ich bin sehr früh aufgewacht. Das weiß ich, weil ich lange warten mußte, bis Yvette kam, mich aufrichtete, mich wusch, mir die Bettschüssel unterschob, mich anzog. Glücklicherweise habe ich meine Blase mehr oder weniger unter Kontrolle. Das beruhigt mich und läßt mich hoffen, daß ich eines Tages wieder selbständiger sein werde. Ich wäre zufrieden, wenn ich die Arme bewegen, den Kopf schütteln, lächeln könnte. Schade um den Sex. Schade ums Sprechen. Aber sehen können. Wieder sehen, mit den anderen kommunizieren können. Warum schenkt mir niemand einen Stimmcomputer? Weil ich weder reich noch berühmt oder genial bin; man muß sich mit den Gegebenheiten abfinden.
Das Bett ist mit einer Spezial-Vorrichtung ausgestattet, die es Yvette ermöglicht, mich in den Rollstuhl hinübergleiten zu lassen. Und schon sitze ich. Wenn wir außer Haus gehen, zieht sie mich an, eine mühsame Prozedur. Ein T-Shirt, das sich am Rücken ständig verwurstelt. Ein Rock und darüber eine Decke. Sie setzt mir die obligate Brille auf und bindet mir einen Schal um den Hals, weil, wie sie mir erzählt, draußen ein kühler Wind wehe. Ich schwitze mich zu Tode. Wir brechen auf. Glücklicherweise ist das Haus ebenerdig. Das sind die kleinen Details, die mich davor bewahrt haben, in einem Pflegeheim untergebracht zu werden. Das und das Geld, das mein Onkel für das Kino bekommen hat. Er hat es an meiner Stelle weitergeführt.
Ich erinnere mich an seinen Besuch Ende Januar. Er legte seine Hand auf meine Schulter und sagte mit einer Stimme, die er immer in ernsten Situationen anschlägt: »Hör mal, mein Mädchen, ich habe lange nachgedacht. Du brauchst Geld und du brauchst jemanden, der sich um dich kümmert. Ich habe beschlossen, das Kino zu verkaufen. Ich bin sicher, daß das auch in Louis’ Sinn wäre. (Louis ist mein verstorbener Vater, der das Kino gegründet hat.) Ich weiß, wie sehr du daran hängst. Aber ein Kino kann man wieder zurückkaufen. Deine Beine nicht. Du mußt alles daransetzen, wieder gesund zu werden. Und das wird teuer. Ich will, daß du die beste Behandlung bekommst. Das Beste vom besten. Den besten Rollstuhl, all das. Verstehst du? Also, ich hab’s verkauft. An Jean Bosquet.« Ich war so wütend. Ausgerechnet Bosquet! Dieser Scheißkerl, der im Jaguar durch die Gegend fährt und in den Siebzigern mit Pornos ein Vermögen gemacht hat. Er hat die schmuddeligsten und ältesten Kinosäle in der Gegend. Was wird er aus meinem Trianon machen?
Der Rollstuhl holpert über den Bürgersteig und reißt mich aus meinen Erinnerungen. Yvette redet pausenlos, kommentiert alles, was sie sieht: Den neuen Regenmantel von Madame Berger, der Lehrerin, die nicht so lange Sachen tragen sollte. So wirkt sie fast wie eine Tonne. Die wirklich ungünstige Frisur der armen, kleinen Sonia, die glaubt, nur weil sie ein Kosmetikdiplom habe, könne sie sich wie ein Starlet aufführen, usw., usw.
Doch was sie dann sagt, erregt meine Aufmerksamkeit.
»Oh! Da ist die bedauernswerte Madame Massenet, die Mutter des armen kleinen Michael, Sie erinnern sich sicher an den kleinen Michael, den man letzten Samstag im Wald gefunden hat, ein kleiner blondgelockter Junge, immer höflich … Wie traurig sie aussieht! Und die dunklen Ringe unter ihren Augen! Wie tapfer von ihr, ihre Einkäufe hier zu erledigen. Ich an ihrer Stelle würde ja in einen anderen Supermarkt gehen. Nun gut, ich lasse Sie hier. Der Wächter ist nicht weit weg, ich werde ihn bitten, ein Auge auf Sie zu haben. Bis gleich.«
Ich höre, wie sie davongeht und vor sich hinmurmelnd nach der Münze für den Einkaufswagen kramt.
Ich warte gespannt. Bei jedem Schritt, der sich in meine Richtung bewegt, spüre ich, wie sich meine Muskeln anspannen. Wird sie kommen? Und mit einemmal ist sie da.
»Guten Tag, Madame. Geht es dir gut?«
Zeigefinger.
»Willst du, daß ich dir meine Geschichte weitererzähle?«
Zweimal Zeigefinger.
»Die Polizei hat Michael gefunden. Im Wald. Er war mausetot. Ich wußte, daß sie ihn gesucht haben, aber ich konnte ihnen doch nicht sagen, wo er war, sonst hätten sie mich gefragt, woher ich das weiß, verstehst du?«
Und wie ich das verstehe!
»Ich wußte es, weil wir zusammen Angeln gespielt haben. Da angeln wir nicht wirklich, wir binden ein Band an einen Stock und tun nur so. Seine Mama will nicht, daß er am Fluß spielt, aber wir lügen, wir sagen, daß wir Fahrrad fahren. Und dann hatte ich keine Lust mehr zu angeln, weil er gesagt hat, daß er alle Fische gefangen hat und ich keinen einzigen, und dann habe ich gesagt, daß ich nach Hause gehe. Ich bin weg, aber ich habe einen schönen Pilz gefunden, und als ich wieder aufblickte, habe ich gesehen, daß er der Bestie begegnet ist.«
Ich habe gute Lust, sie kräftig durchzuschütteln. Wem ist er begegnet, verdammt noch mal?
»Und da wußte ich, daß er bald tot sein würde, so wie die anderen, weil die Geschichte immer gleich abläuft. Ich wollte weg, aber ich bin geblieben und habe mich hinter einem Baum versteckt. Ich wollte zusehen.« Ihr helles Stimmchen. Fast gleichgültig spult sie ihre Litanei des Grauens ab.
»Michael hat der Bestie guten Tag gesagt und dann hat sich sein Gesichtsausdruck auf einmal verändert, er ging einen Schritt zurück, dann noch einen, und dann ist er hingefallen. Damit war er verloren, weißt du, er hat noch versucht, wieder aufzustehen, aber es war schon zu spät. Die Hände haben sich um seinen Hals gelegt und einfach zugedrückt, er ist ganz rot geworden, dann ganz violett, und dann kam seine Zunge aus dem Mund, und er ist auf den Boden zurückgefallen, mit weit aufgerissenen Augen. Ich hab mich nicht vom Fleck gerührt, mir war heiß, weißt du, ich habe geschwitzt, aber ich wußte, ich darf mich nicht von der Stelle rühren, und dann haben die Hände losgelassen und …«
»Bist du schon wieder da, du kleines Plappermaul? Kannst du die Dame nicht in Ruhe lassen?«
Ihr Vater muß in unmittelbarer Nähe stehen. Ich rieche sein Rasierwasser. Frisch und würzig. Ich spüre die Sonne nicht mehr, er muß direkt vor mir stehen, seine Stimme, die plötzlich ganz nah ist, klingt sehr sanft:
»Hören Sie, es ist nicht so, daß ich nicht will, daß die Kleine mit Ihnen spricht, aber ich weiß nicht, ob es Sie nicht stört … Oh, guten Tag, Madame … Virginie ist mir einfach davongelaufen und hierhergekommen …«
»Das macht doch nichts. Mademoiselle Elise hat Kinder immer gern gehabt. Ich glaube nicht, daß sich das geändert hat. Sie hat sich immer gefreut, wenn sie kamen, um sich die Zeichentrickfilme anzusehen. Wissen Sie, im Kino, dem Trianon …«
»Ja, das kenne ich. Früher haben wir in Saint-Quentin gewohnt, aber jetzt sind wir nach Boissy gezogen, in den Stadtteil Merisiers.«
Saint-Quentin! Der kleine Renaud, von dem in den Nachrichten die Rede war, wurde in Saint-Quentin getötet!
»Aber da wohnen Sie ja quasi gleich nebenan! Wir sind Nachbarn! Was für ein Zufall! Nun, Mademoiselle Elise war die Besitzerin des Trianon.«
Wie kommt sie dazu, ihm aus meinem Leben zu erzählen? Jetzt hält er mich sicher für eine verklemmte alte Jungfer, die Kinder mit Eis vollstopfte und ihnen den Kopf tätschelte.
Auf meinem Schoß werden Tüten abgestellt. Der Rollstuhl setzt sich in Bewegung. Die Unterhaltung zwischen Yvette und Virginies Vater geht weiter. Sehr gut!
»Sie haben wirklich eine entzückende kleine Tochter!«
»Tja, sie sieht aus wie ein Engel, aber sie hat es faustdick hinter den Ohren, nicht wahr, Virginie?«
»Haben Sie noch mehr Kinder?«
»Ich … Nun, ich … ich hatte einen Sohn, aber, oh, da steht mein Auto. Ich muß jetzt los. Hören Sie, ich würde Sie ja gerne mitnehmen, aber mit dem Rollstuhl …«
»Das ist trotzdem sehr nett von Ihnen. Ach, es tut ganz gut, ein bißchen spazierenzugehen«, erwidert Yvette taktvoll, ohne weiter zu insistieren.
»Auf Wiedersehen, Elise, bis nächsten Samstag!« höre ich Virginies lebhaftes Stimmchen rufen.
»Auf Wiedersehen, Virginie. Ich glaube, Elise wird sich sehr freuen, wenn du kommst und ihr guten Tag sagst … natürlich nur, wenn Sie nichts dagegen haben, Monsieur …«
»Aber nein, ganz und gar nicht! Komm, beeil dich, Virginie. Mama wartet sicher schon. Auf Wiedersehen.«
Türenschlagen.
Yvette geht weiter.
»Ich weiß nicht, was er mit der Bemerkung über seinen Sohn gemeint hat, merkwürdig, ganz so als wollte er nicht darüber sprechen, sicher hat es einen Unglücksfall in der Familie gegeben. Jedenfalls mag die Kleine Sie sehr. Es ist schön, wenn man Kinder trifft, die ein Herz haben. Ich erinnere mich zum Beispiel …«
Yvette setzt zu einem langen Exkurs über all die hinterlistigen und mißratenen Kinder an, denen sie in ihrem Leben schon begegnet ist. Ich höre nicht mehr zu. Ich denke nach. Virginie hatte behauptet, daß ihr Bruder tot sei. Das Verhalten ihres Vaters läßt vermuten, daß das stimmt. Eins zu null für das Kind. Jetzt müßte ich nur noch herausbekommen, ob er Renaud hieß. Doch wenn Virginie tatsächlich Zeugin des Mordes an dem kleinen Michael war, dann ist sie in Gefahr. Der Mörder wird sie sicher aus dem Weg räumen wollen. Es sei denn, er hat sie nicht bemerkt. Wie soll man das wissen? Ich ertrage diese Machtlosigkeit nicht. Ich ersticke, ich ersticke, ich habe das Gefühl, in einer Zwangsjacke zu stecken und einen verrückten Doktor anzuflehen, mich freizulassen. Doch es wird nie jemand kommen und mich befreien. Ich möchte schreien. Die Arme heben können. Einfach nur diese verfluchten Arme heben können.
»O je! Sie schwitzen ja! Warten Sie, ich werde Ihnen den Schal ausziehen.«
Ja, nimm mir den Schal ab, knote eine Schlinge und häng mich am nächsten Baum auf, damit ich wenigstens stehend sterbe, ich hab es so satt! Ich darf mich jetzt nicht auf solche Gedankengänge einlassen. Ich muß auf dem Boden der Realität bleiben. Virginie ist real. Und sie hat Probleme. Große Probleme. Ich muß wissen, wer ihr Vater ist, den Namen dieses Mannes herausbekommen. Ich muß in die Sache eingreifen. Ich muß mich bewegen können!
Catherine die Große kommt jeden Tag und läßt mir ihre kraftvolle Pflege angedeihen. Sie ist groß und blond … schlank, sportlich, ein richtiger Aerobic-Typ mit Pferdeschwanz und Leggings. Vor dem Unfall habe ich sie manchmal im Kino mit ihrem jeweils gerade aktuellen Freund gesehen. Sie geht nur mit großgewachsenen, kräftigen Kerlen mit kurzgeschorenen Haaren aus. Ich kannte sie nur vom Sehen, hatte nie Bedarf für ihre Dienste und fand sie auch nicht sonderlich sympathisch. Es fällt mir schwer zu akzeptieren, daß ich ihr heute willenlos ausgeliefert bin und daß meine Wiederherstellung von dieser engstirnigen Person abhängt, die ständig die Meldungen des letzten Fernsehmagazins herunterleiert.
Doch in diesem Fall erweist sie sich als nützlich. Als sehr nützlich sogar. Denn sie ist nicht in der Lage, auch nur für fünf Minuten den Mund zu halten. Ich bin von äußerst redseligen Frauen umgeben. Von Schwatzsüchtigen. Welche Wohltat! Wenn man in meiner Situation ist, dankt man Gott, daß er die Klatschbase erschaffen hat. Denn ganz im Gegensatz zu dem, was man glauben könnte, verspüre ich keine Lust, mich in die ehrwürdige Stille zurückzuziehen, um über die Relativität des Kosmos zu meditieren. Ich will leben. Ich bin lebendig!
Also, Catherine die Große ist ein unerschöpflicher Informationsquell. Sie und Yvette sind meine ›Reporter vor Ort‹. Durch sie werde ich erfahren, wer Virginie ist.
»Haben Sie die Nachrichten gesehen?« erkundigt sich Catherine die Große, während sie an meinem Unterarm zieht.
»Nein, wieso? Wir haben im Garten zu Mittag gegessen, es war so schön draußen.«
»Es muß nicht leicht sein, sie zu füttern«, murmelt Catherine nachdenklich, während sie meinen Trizeps knetet.
Aber ja doch, meine Kleine, man sorgt schon irgendwie für die Bekloppte. Tut mir leid, daß deine ausgeprägte Sensibilität darunter leidet.
Sie fährt fort.
»Sie haben wieder etwas über den kleinen Michael gebracht. Die gleiche Reportage wie letzte Woche, Bilder vom Wald, von dem Angler, der die Leiche gefunden hat usw., denn jetzt sind sie sich sicher, daß es ein Irrer ist. Er hat schon vier Kinder umgebracht! Vier achtjährige Kinder ermordet! Alle in einem Umkreis von fünfzig Kilometern. Wenn ich daran denke, daß der Kerl frei rumläuft!«
»Und sie haben nichts gefunden? Keine Fußabdrücke, Reifenspuren, Stoffasern?« erkundigt sich Yvette, bereit, die Ermittlungen zu leiten.
»Nichts! Nicht das geringste! Und all die armen Kinder sind erwürgt worden.«
»Und, ähm, vergewaltigt worden?«
»Nein, nicht mal. Sie sind einfach nur erdrosselt worden.«
»Merkwürdig«, murmelt Yvette, die sich im Zimmer zu schaffen macht. (Vermutlich wischt sie Staub.) Im allgemeinen haben Morde an kleinen Kindern ein sexuelles Motiv.«
»Ach ja? Nun, jedenfalls haben sie das im Fernsehen nicht erwähnt. Das schlimmste ist, daß ich wenigstens drei der Mütter kenne. Eine arbeitet in der Post in La Verrière. Der zweiten gehört der Tabakladen im Supermarkt. Und die dritte ist Madame Massenet, die, wie ich Ihnen schon erzählt habe, regelmäßig zu mir kommt.«
»Und die vierte Familie?«
»Die kenne ich nicht. Im Fernsehen sagten sie, daß der Vater in einer Bank arbeitet. Die Familie wollte nicht gefilmt werden.«
Das sind sie, ich bin sicher, das sind sie! Wenn Catherine die Große sie doch nur kennen würde … Aber was würde das ändern? Sie wird nie kapieren, daß ich kein Mehlsack bin. Doch dazu müßte sie mich ansehen. Wenn ich mir vorstelle, ausgerechnet ihr eine derart komplizierte Botschaft übermitteln zu müssen …
Doktor Raybaud ist gekommen. Verschiedene Untersuchungen, die länger als gewöhnlich dauern. Kein Wunder, es regnet, und er kann heute nicht auf dem See surfen. Er hat mich von Kopf bis Fuß abgetastet, und ich nutze die Gelegenheit, um mehrmals hintereinander den Zeigefinger zu heben. Er ruft Yvette und erkundigt sich bei ihr, ob ich das häufiger mache. Sie erwidert ihm, daß sie es nicht wisse. Er sagt ihr, daß sie in Zukunft darauf achten solle. Ich zwinkere mit den Augen und versuche, den Kopf zu drehen, aber das hat leider nicht den gewünschten Erfolg. Er hält es für einen Anfall, und sie halten mich fest, bis es mir wieder besser geht. Raybauds Schlußfolgerung: Es scheint, als hätte ich Bruchstücke meiner Motorik wiedererlangt. Er wird darüber mit Professor Combré sprechen. »Aber keine falschen Hoffnungen.« Vielleicht sind es nur reflexartige Bewegungen, unkontrollierte Zuckungen, »Kontraktionen«, wie man sagt.
Es sind jetzt schon acht Monate, daß der Zug meines Lebens durch einen dunklen Tunnel fährt. Wenn nur … Nein, ich darf mich nicht der Hoffnung hingeben.
»Mademoiselle Elise! Huhu! Ich bin’s!«
Sei unbesorgt, Yvette, ich hab mich nicht davongemacht. Ich sitze noch immer hier in meinem Rollstuhl wie ein Paket, das darauf wartet, aufgemacht zu werden.
»Sie werden nie erraten, wen ich getroffen habe! Genau vor der Post. Virginie und ihre Eltern! Wie schade, daß Sie nicht mehr das Kino haben, dann hätte man ihnen Freikarten schenken können. Diese Woche spielen sie Das Dschungelbuch.«
Die Elefanten auf Patrouillengang ziehen durch mein Herz.
»Da wir gerade in der Nähe waren, habe ich ihnen gezeigt, wo wir wohnen … Sie heißt Hélène. Eine sehr hübsche Frau, schlank, dunkles Haar, große blaue Augen. Und sehr helle Haut. Er heißt Paul. Paul und Hélène Fansten.
Das sind sie! Virginie hat die Wahrheit gesagt: Ihr Bruder ist tatsächlich ermordet worden.
»Er sieht sehr elegant aus, ein schönes Gesicht à la Paul Newman, wirklich sehr sympathisch«, fährt Yvette fort. »Sehr männlich. Ein Typ wie … nun … egal …«
Ich weiß genau, was du wolltest sagen: Ein Typ wie Benoît. Ist das möglich? Benoît war einzigartig. Und im übrigen hatte er mehr Ähnlichkeit mit Robert Redford, also wirklich …
»Wir haben uns ein wenig unterhalten, und dann habe ich ihnen vorgeschlagen, doch mal abends bei uns auf einen Aperitif vorbeizuschauen. Immerhin sind wir Nachbarn! Und wissen Sie was? Sie haben zugesagt! Sie kommen Mittwochabend mit der Kleinen.«
Ein dreifaches Hipphipphurra auf Yvette! Sie muß bei den beiden ja ganz schön auf die Tränendrüse gedrückt haben, sonst hätte sie sie sicher nicht dazu bewegen können zu kommen!
»Und was den Sohn betrifft, hatte ich recht.«
Yvette senkt die Stimme, als wären wir in der Kirche:
»Er ist vor zwei Jahren gestorben. Er ist einer von diesen armen Jungen, die erwürgt worden sind, stellen Sie sich das mal vor! Virginies Mutter hat mir gesagt, daß sie nicht gern darüber sprechen möchte, also habe ich nicht weiter nachgefragt, Sie kennen mich ja … Ein Kind zu verlieren, ist schon eine schlimme Sache, aber zu wissen, daß es ermordet wurde …«
In der Tat, so etwas stellt man sich nicht allzu gern vor … Renaud Fansten. 1993 bin ich viel gereist. Ich war Jurymitglied bei mehreren Filmfestivals und dann, ich erinnere mich nicht mehr warum, war das eine Zeit, in der es zwischen Benoît und mir jede Menge Spannungen gab. Sicher ist das der Grund, warum ich diesem Mord damals keine Beachtung geschenkt habe.
Hélène und Paul Fansten. Paul. Ein Vorname, der gut zum Klang seiner Stimme paßt. Ein selbstsicherer Mann. Hat er helle oder dunkle Augen? Hat er braune Haare? Ich stelle mir seine Augen braun vor. Und Virginie ist blond, hat lange blonde Haare wie eine kleine Puppe. Werden sie uns wirklich besuchen, der schöne Paul und seine Tochter? Ich habe meine Zweifel, wenn ich daran denke.
Ungeduldig sehnte ich den Mittwoch herbei. Ich hatte das Gefühl, die Zeit würde überhaupt nicht mehr vergehen. Dieser Zustand fieberhafter Anspannung erinnerte mich an meine ersten Rendezvous mit Benoît.
Und heute also ist der große Tag. Ich habe das Gefühl, unter Hochspannung zu stehen. Absolut lächerlich.
Seit dem frühen Morgen macht sich Yvette in der Küche zu schaffen. Wie ich sie kenne, mußte sie unbedingt ein kaltes Büffet vorbereiten, das selbst bei den Windsors im Buckingham Palace Ehre gemacht hätte. Sie hat mich gewaschen, angezogen, frisiert (um Gottes willen!) – wie man es bei einer Schülerin am Tag der Zeugnisvergabe tut. Ich bin sauber und adrett. Ich stecke in einem Sommerkleid aus Baumwolle (Hoffentlich ist es keins von ihr!) und sitze im Wohnzimmer am offenen Fenster. Ich frage mich, wie ich wohl aussehe. Natürlich bin ich noch immer klein, schmal und dunkelhaarig, doch ich muß inzwischen eingefallene Wangen haben, wodurch meine Nase noch länger wirkt, und sicher bin ich schneeweiß. Und dieses dumme Haar, das mir unterm Kinn sprießt? »Absolut nicht zu sehen«, sagte Benoît immer. Das sagst du so, bestimmt hängt es mir inzwischen bis zum Knie. Ein Skelett in einem Kleid mit Vichykaros und einem peinlichen Haar am Kinn, na, da lohnt sich der Besuch wenigstens! Irgendwo bellt ein Hund. Es ist komisch, daß immer irgendwo ein dämlicher Köter bellen muß. Es klingelt.
Yvette eilt zur Tür. Ich schlucke. Ich würde mich so gerne im Spiegel betrachten, um zu wissen, wie ich aussehe. Rasche Schritte, leisere Schritte. Jemand läuft auf mich zu. Ein Stimmchen voller Lebendigkeit ruft: »Guten Tag, Elise.«
Ich hebe den Zeigefinger. Virginie legt ihre Hand auf meine. Ihre Hand ist warm. Eine weitere Person betritt das Zimmer.
»Guten Tag.«
Die tiefe Stimme. Das ist er, Paul.
»Guten Tag.«
Eine sanfte, ruhige Stimme. Das muß Hélène sein.
»Setzen Sie sich doch bitte«, sagte Yvette, als sie den quietschenden Servierwagen ins Zimmer schiebt.
Das Ledersofa knarrt. Sie müssen Platz genommen haben. Ich stelle mir vor, wie sie unauffällig die Einrichtung des Zimmers mustern. Die Clubsessel, das große Büffet aus Kirschholz von meiner Großmutter, den Schrank mit der Hi-Fi-Anlage, den Fernseher, den niedrigen Holztisch, die vollen Bücherregale, den Schreibtisch, in dem ich meine Papiere aufbewahre … Ich höre, wie Virginie mit Trippelschritten das Zimmer erkundet.
»Virginie, faß bitte nichts an!«
»Nein, Mama, ich seh mich nur um. Guck mal, da sind ja ganz viele Kinderbücher.«
Die habe ich von meinem Vater. Ich hatte sie aufgehoben, um sie eines Tages dem Kind, das ich mir mit Benoît wünschte, vorzulesen. Aber uns blieb dafür nicht die Zeit.
»Darf ich eins haben und lesen?«
»Aber natürlich, mein Mäuschen. Komm, setz dich hierhin.«
Yvette setzt sie in den großen Sessel ganz in meiner Nähe.
»Das Haus scheint ja recht groß!« sagt Hélène.
»O ja, das ist es auch. Kommen Sie, ich führe Sie herum.«
Angeregt plaudernd gehen sie aus dem Wohnzimmer. Sofort hüpft Virginie von ihrem Platz und kommt zu mir. Sie flüstert mir ins Ohr:
»In der Schule hat die Lehrerin mit mir geschimpft, weil ich meine Hausaufgaben nicht gemacht habe. Aber ich kann nicht lernen, weil ich Angst habe. Das ist dumm, ich weiß, denn es sterben ja nur Jungen, aber man kann nie wissen. Und wenn die Bestie es sich anders überlegt? Kennst du den Film Der Sinn des Lebens? Mein Papa hat sich ein Video davon ausgeliehen. An einer Stelle kommt der Tod zu Leuten, die vergiftete Pastete gegessen haben, um sie davon zu überzeugen, daß sie bald tot sein werden.«
Sie spricht von einem Film der Monty Pythons! Und ob ich den kenne! Es war einer unserer Lieblingsfilme, ich habe ihn mindestens zehnmal gezeigt. Sie beugt sich noch näher zu mir herüber, ich spüre ihren warmen Atem.
»Ich habe Angst vor dem Tod, vor der Bestie. Seine Fratze ist so unheimlich. Ich würde wahnsinnig gern in Disneyland wohnen, im Schloß von Dornröschen.«
Selbst wenn ich wüßte, was ich darauf sagen sollte, könnte ich es nicht. Yvette und die anderen kommen zurück, ihre Schritte hallen auf dem Parkett wider. Sie sprechen über das Wetter, den Kauf von Häusern und darüber, wie teuer das Leben geworden ist. Nichts Aufregendes. Virginie ist still. Ich nehme an, sie liest wieder in dem Buch, denn ich höre, wie regelmäßig Seiten umgeblättert werden. Da sie mir kurz zuvor noch diese abscheulichen Dinge erzählt hat, empfinde ich es irgendwie als unwirklich, sie mir nun friedlich lesend vorzustellen und die anderen seelenruhig Belanglosigkeiten austauschen zu hören. In der Tat fällt es mir schwer zu glauben, daß das, was sie erzählt hat, tatsächlich wahr ist. Pauls warme Stimme unterbricht mich in meinen Gedanken:
»Stören wir Sie auch nicht?«
Spricht er mit mir?
»Nein, nein, ich bin sicher, sie freut sich. Mademoiselle Elise hat immer gern Leute um sich gehabt«, antwortet Yvette an meiner Stelle.
Paul seufzt, als wenn ihn plötzlich etwas traurig stimmen würde. Was sieht er in mir? Wird er an mich denken, wenn er abends im Bett liegt, und alles in weißes Mondlicht getaucht ist? Ich bin jedenfalls so gut wie sicher, daß ich an ihn denken werde beziehungsweise an die Vorstellung, die ich mir von ihm mache: Ein großer Mann mit braunem, sehr kurz geschnittenem Haar, schlank mit langen Beinen, einem entschlossenen Gesicht und großen, hellen Augen … Vielleicht liegt es daran, daß mich seine Stimme beruhigt, mir Vertrauen einflößt. Ich fühle mich so allein. Und Hélène scheint auch sympathisch zu sein. Leute, die ich sicher gern kennengelernt hätte, bevor ich …
Hélène, Paul und Yvette unterhalten sich angeregt über die Politik der neuen Gemeindeverwaltung.
Virginie erhebt sich, um ihr Buch beiseite zu legen. Sie steht auf einmal direkt neben mir, denn ich kann die Wärme ihres kleinen Körpers, der nach einem Badezusatz duftet, spüren.
»Ich glaube, die Bestie mag nicht, was sie tut. Aber sie muß es tun, verstehst du«, flüstert sie mir ins Ohr. »Es überkommt sie, einfach so, und hopp, braucht sie ein Kind. Da war ein Polizist, der hieß Kommissar oder so, der hat mir ein paarmal Fragen gestellt. Ich fand, er sieht wie ein Clown aus, ich nenne ihn Bonzo, er hat einen großen, gelben Schnurrbart und Haare wie Stroh. Er wollte so gern, daß ich ihm sage, was ich weiß, aber ich kann nicht. Ich kann es niemandem erzählen, außer dir, weil das etwas anderes ist.«
Es stimmt, ich bin verschwiegen wie ein Grab. Also, die Polizei hat sich schon für Virginie interessiert. Wahrscheinlich für alle Kinder aus der Gegend, die ja vielleicht etwas beobachtet haben könnten.
»Renaud wußte nichts von der Bestie, er war nicht mißtrauisch, und deshalb konnte sie ihn kriegen. Ich hab ihm gesagt, er soll nicht in dem Häuschen spielen. Denn ich hatte schon bemerkt, daß die Bestie um ihn herumscharwenzelte, ihn angelächelt hat … Aber er hat nicht auf mich gehört. Hörst du mir zu?«
Ich hebe den Zeigefinger. Ich bin etwas benommen.
»Virginie, was machst du da?«
Die besorgte Stimme von Hélène.
»Ich unterhalte mich mit Elise.«
Betretenes Hüsteln.
»Möchtest du einen Tee? Oder einen Kakao, mein Liebling?« erkundigt sich Yvette.
»Nein, danke, Madame.«
»Virginie, komm bitte mal kurz her.«
Das ist Paul.
Virginie seufzt genervt.
»Nie hat man seine Ruhe!«
Ich lächle, beziehungsweise ich habe zumindest das Gefühl zu lächeln. Ich weiß nicht, was mein Gesicht ausdrückt.
»Ist etwas nicht in Ordnung, Mademoiselle Elise?« erkundigt sich Yvette besorgt.
Nun gut, an meinem Lächeln muß ich wohl noch etwas arbeiten.
»Wir müssen gehen. Wir sind heute Abend bei Freunden zum Essen eingeladen«, erklärt Hélène. »Machst du dich fertig, Virginie?«
»Sie müssen uns unbedingt wieder besuchen. Wissen Sie … (Yvette senkt die Stimme), ich habe den Eindruck, daß es ihr wesentlich besser geht, seit sie die Kleine und Sie beide kennt. Sie ist so allein … Wir würden uns wirklich freuen, wenn Sie bald wieder einmal vorbeikommen würden.«
»Wir werden es versuchen. Nun … mein Mann … er hat sehr viele Verpflichtungen, nicht wahr, Paul? Jedenfalls möchten wir uns ganz herzlich für die Einladung bedanken. Es war sehr nett. Hast du schon auf Wiedersehen gesagt, Virg’?«
»Auf Wiedersehen, Madame.«
Rasche Trippelschritte in meine Richtung.
»Auf Wiedersehen, Elise. Ich mag dein Haus sehr. Und ich finde dich sehr nett.«
Sie drückt mir einen Kuß auf die Wange. Ich schlucke.
»Findest du mich auch nett?«
Ich hebe den Zeigefinger.
Flüstern. Yvette nähert sich mit schweren Schritten.
»Mademoiselle Elise?«
Zeigefinger.
Sie beugt sich zu mir herab und spricht ganz laut und deutlich:
»Verstehen Sie mich? Wenn Sie mich verstehen, dann heben Sie bitte zweimal den Zeigefinger.«
Ich hebe zweimal den Zeigefinger.
»Mein Gott! Also stimmt es! Sie versteht uns! Der Doktor hatte da seine Zweifel! Ich wußte es, ich wußte, sie versteht alles!«
»Das ist wirklich erstaunlich«, murmelt Hélène.
Am liebsten wäre ich aus meinem Rollstuhl gesprungen, um mich mit ihnen zusammen zu freuen.
»Was ist?« will Virginie wissen.
»Mademoiselle Elise hört, sie hört und versteht uns!«
»Aber klar, wie hätte ich mich sonst mit ihr unterhalten können?«
»Hören Sie, Yvette, wir müssen jetzt wirklich los, und im übrigen möchte ich Ihnen sagen, daß … wir uns sehr für Sie beide freuen.«
Es ist wieder Hélènes Stimme. Paul muß sehr schüchtern sein.
Stimmengewirr auf dem Flur. Kaum hat sich die Haustür geschlossen, ist Yvette schon am Telefon. Als sie auflegt, meint sie triumphierend:
»Der Doktor kommt heute abend noch vorbei.«
Ich finde es nicht schlecht, daß ich dem Kerl den heutigen Abend verderbe.
Raybaud war da. Er hat Yvettes Begeisterung einen Dämpfer versetzt. Die Tatsache, daß ich anscheinend höre und verstehe, bedeutet nicht: a) daß ich geistig zu 100% wieder so bin wie früher, b) daß ich mich wieder werde bewegen können. Es gab schon Fälle, da konnten Leute dreißig Jahre lang lediglich einen Zeh oder ein Ohr bewegen. Wie immer sehr aufbauend, dieser Raybaud. Kurz, was meine Neuronen betrifft, möchte er ein paar neue Tests durchführen.
Und schwupp, weg ist er! Auf Wiedersehen, Essenseinladung, Freunde, kann unmöglich zu spät kommen, ein richtiger Wirbelwind, dieser Typ. Ich weiß nicht einmal, wie er aussieht. Ich stelle mir einen durchtrainierten Mann im Surfanzug vor, um dessen Hals ein Stethoskop baumelt.
Yvette hat eine kleine Flasche Champagner aufgemacht, sie läßt mich einen winzigen Schluck trinken und schlürft den Rest, während sie mit meinem Onkel in Südfrankreich telefoniert, um ihm die gute Nachricht mitzuteilen.
Ich verbringe eine unruhige Nacht. Na ja … das ist so dahingesagt. Ich kann an nichts anderes denken als an das, was Virginie mir erzählt hat. Und an Paul und Hélène. Sie müssen mich abstoßend finden. Ich verstehe nicht, warum Virginie sich weigert, den Täter zu nennen. Denn ich bin überzeugt, daß sie nicht lügt: Sie weiß, wer es ist. Aber sie schützt ihn. Das ist unglaublich!