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Bin ich tot? Mir tut der Brustkorb weh, es brennt. Ah! Irgend jemand klopft auf mir herum, mitten aufs Herz, noch einmal, Wasser sprudelt aus meinem Mund, ich höre mich husten, ich möchte mich übergeben, ich …

»Hören Sie mich? He, hören Sie mich? Mist, ich muß ihren Kopf auf die Seite drehen, sieht so aus, als würde sie sich gleich übergeben …«

Schon passiert. Ich hole tief Luft, ein mächtiger, zugleich schmerzhafter und doch erleichternder Atemzug durchfährt mich, brennt in meinen Eingeweiden. Wasser läuft mir über das Gesicht, es gießt in Strömen.

»Bleiben Sie ruhig liegen. Gleich geht es besser.«

Es fällt mir nicht schwer zu gehorchen. Hände heben mich auf, jemand setzt mich hin.

»Sie haben Glück, daß ich meine Dose mit den Ködern holen wollte. Bei so einem Wetter ist niemand im Park unterwegs.«

Die Stimme des Mannes klingt etwas bärbeißig. Ich schätze, er ist so um die fünfzig.

»Und Sie haben Glück, daß ich einen Erste-Hilfe-Kursus gemacht habe.

Mit dem Wasser, das sie geschluckt haben, hätte man ohne weiteres einen Großbrand löschen können. Machen Sie sich keine Sorgen wegen Ihres Rollstuhls, er ist am Ufer im Wurzelwerk hängengeblieben. Verstehen Sie mich denn wenigstens?«

Mir wird klar, daß ich ihn mit leerem Blick anstarre, ich habe meine Brille verloren. Ich hebe den Zeigefinger.

»Sie können nicht sprechen?«

Zeigefinger.

»Gut, hören Sie … ich werde Sie jetzt zu meinem Auto tragen, und dann verständigen wir die Polizei, in Ordnung?«

Zeigefinger.

Er hebt mich hoch, ich registriere den Geruch nasser Wolle, spüre, daß er Ölzeug trägt. Vorsichtig bewegt er sich auf dem durchweichten Boden vorwärts. Der Regen peitscht uns unbarmherzig ins Gesicht.

»Da wären wir!«

Er öffnet die Tür mit einer Hand, beinahe rutsche ich dabei auf den Boden, er kriegt mich gerade noch zu fassen und bugsiert mich auf den Sitz. Es muß der Rücksitz sein, denn ich liege ausgestreckt.

»Ich komme gleich zurück.«

Ich möchte ihm zurufen, daß er mich nicht allein lassen soll, mir tut der Schädel entsetzlich weh, mir ist kalt, ich zittere am ganzen Leib, vermutlich die Reaktion auf den Schock. Aber was ist eigentlich passiert? Wo ist Steph? Hoffentlich kommt der gute Mann rasch zurück … warum hat er eigentlich kein Autotelefon? Wenn ich bedenke, daß ich mein Leben einer Dose mit Ködern verdanke … Das Prasseln des Regens auf dem Autodach übertönt jedes andere Geräusch, ich bin allein, außerhalb der Zeit, in einer Kugel eingeschlossen, und ich verstehe nicht, was mit mir geschieht, man könnte meinen, ein Unglück kommt selten allein.

Ich sitze, in ein Federbett eingemummelt, mit trockenen Strümpfen an den Füßen in meinem warmen Wohnzimmer. Mein Retter trinkt Kaffee mit Yvette, und ich unterhalte mich mit Kommissar Yssart, genannt Bonzo. Als die Polizei kam, haben sie uns als erstes ins Krankenhaus gebracht. Dort liefen sie zum Glück gleich Raybaud in die Arme. Zum Glück, weil es sonst ewig gedauert hätte, bis sie meine Identität festgestellt hätten. Kurz und gut, der gute Raybaud hat mich untersucht, festgestellt, daß alles in Ordnung ist, daß ich eine Ertrunkene in bester Verfassung bin, und daß man mich nach Hause bringen könne. Ich weiß nicht, wer Yssart verständigt hat, aber er tauchte eine Stunde später bei mir auf.

Mein Retter – er heißt Jean Guillaume und ist Klempner – hat darauf bestanden, mich zu begleiten. Yvette hat sich vor Dank überschlagen, ihm ihr Mißgeschick mit dem Knöchel berichtet und schon saßen die beiden, in ein anregendes Gespräch vertieft, in der Küche. Yssart sitzt wahrscheinlich auf dem Sofa und fixiert mich bestimmt mit kleinen Schweinsäuglein. Ich bin erschöpft, ich möchte allein sein. Schlafen. Ich habe die Nase voll. Seine leise, höfliche Stimme peinigt mich wie ein winziger, aber lästiger Mückenstich.

»Nun, Sie können sich also nicht erklären, durch welchen Zufall Sie in diesen Teich geraten sind? Im übrigen an der einzigen Stelle, an der er ungefähr zwei Meter tief ist.«

Nein, das kann ich nicht, also kein Zeigefinger. Yssart seufzt.

»Es war Stéphane Migoin, der Ihren Rollstuhl schob, nicht wahr?«

Zeigefinger.

»Er ist mit einem stumpfen Gegenstand niedergeschlagen worden, mit dem man ihm leicht den Schädel hätte zertrümmern können. Man fand ihn ohnmächtig und blutüberströmt im Gebüsch. Er behauptet, sich an nichts erinnern zu können.«

Steph! Niedergeschlagen! Aber dann war das ja gar kein Unfall … Es war …

»Ein Mordanschlag, so würde ich diesen Überfall werten, dem Sie, Mademoiselle Andrioli, zum Opfer gefallen sind. Sehr ungewöhnlich, ein Mordversuch an einer behinderten Person, die keine Lebensversicherung abgeschlossen hat und die nicht in der Lage ist, irgend etwas über irgend jemanden preiszugeben. Sie verstehen meine Verwirrung.«

Und ich? Was bin ich? Man stiehlt mir meine Arme, meine Beine, mein Sehvermögen, meine Stimme und jetzt versucht man, mich zu töten? Was soll ich denn sagen, ich, die ich nicht einmal schreien kann, die einfach nur wie ein Sandsack einstecken und noch mehr einstecken kann. Ich hasse Sie, Kommissar Yssart, ich hasse Ihre freundliche und zuckersüße Stimme, Ihre übertrieben höfliche Art, Ihre Versessenheit, sich für Hercule Poirot höchstpersönlich zu halten, lassen Sie mich in Ruhe, laßt mich alle in Ruhe!

»Ich nehme an, Sie sind erschöpft und wollen sich etwas ausruhen. Ich muß Ihnen sehr aufdringlich erscheinen. Aber glauben Sie mir, daß ich nur in Ihrem ureigenen Interesse so aufdringlich bin. Mich hat man heute morgen nicht versucht zu töten. Und ich bin es auch nicht, bei der man es vielleicht noch einmal versucht, verstehen Sie mich?«

Zeigefinger. Mistkerl. Ich hab schon genug Schiß, da muß er mir nicht noch zusätzlich Angst einjagen!

»Mademoiselle, ich kann Ihnen sagen, in den meisten Fällen sind die einzelnen Fakten wie Puzzleteile, man muß sie nur richtig zusammenfügen. Wenn sie sich nicht zusammenfügen lassen, hat man entweder ein Teilchen übersehen oder sich in die Irre führen lassen. Es kommt im menschlichen System höchst selten vor, daß etwas ohne Logik geschieht. Doch bei dem, was Ihnen passiert ist, kann ich keine Logik erkennen. Es sei denn, es gäbe einen Zusammenhang zwischen diesem Vorfall und Ihrer Freundschaft zu Virginie, die, wenn ich mich nicht irre, gestern aus dem Ferienlager zurückgekommen ist.«

Schlange. Du hast uns also die ganze Zeit weiter beobachtet.

»Folglich kann ich nicht umhin anzunehmen, daß Virginie Ihnen etwas – möglicherweise unbeabsichtigt – anvertraut hat, etwas, das eine potentielle Gefahr für eine dritte Person darstellt, eine so große Gefahr, daß es sicherer ist, Sie umzubringen, als das Risiko einzugehen, daß diese Information ans Licht kommt. Haben Sie Kenntnis von einer derartigen Information, Mademoiselle?«

Das ergibt keinen Sinn. Wenn ich recht verstehe, nimmt Yssart an, daß der Typ, der mich überfallen hat, derjenige ist, der die Kinder umgebracht hat, und in Panik geraten ist, weil mir Virginie etwas über ihn anvertraut haben könnte. Aber, Gegenfrage, Herr Kommissar, wenn er fürchtet, daß Virginie mir irgend etwas erzählt hat, warum bringt er dann nicht einfach die Kleine um, anstatt mich anzugreifen, mich, wo ich doch überhaupt nichts preisgeben kann?

»Entschuldigen Sie, aber ich hatte Ihnen gerade eine Frage gestellt.«

Ah, ja, stimmt.

»Hat Virginie Ihnen etwas von großer Wichtigkeit über den Mord an dem kleinen Michael anvertraut?«

Kein Zeigefinger. Ich lüge nicht. Sie hat mir nichts anvertraut, was Rückschlüsse auf den Täter zuließe. Alles, was sie mir gesagt hat, war, daß sie die Morde an Michael und ihrem Bruder beobachtet hat. Aber bestimmt könnte Yssart, wenn er das wüßte, sie befragen und ihr das Geheimnis entlocken. Dazu müßte er mir aber die richtige Frage stellen. Dieser Mann muß hellsehen können, denn das ist exakt die Frage, die er mir stellt:

»Mademoiselle Andrioli, bei unserem ersten Gespräch, habe ich Sie gefragt, ohne darauf eine Antwort zu erhalten, ob Virginie Ihnen gegenüber zugegeben hat, einen oder mehrere Morde beobachtet zu haben. Wenn Sie gestatten, wiederhole ich meine damalige Frage. Hat Virginie etwas in diese Richtung gesagt?«

Ohne zu zögern, hebe ich diesmal den Zeigefinger.

»Um welche Kinder handelte es sich?«

Er geht die Liste der Opfer durch. Ich hebe den Finger, als ich Renauds und Michaels Namen höre.

»Gut. Es ist doch merkwürdig, welche Streiche uns die Erinnerung spielt, nicht wahr? Nun, ich bin jedenfalls froh, daß Sie sich wieder erinnern. Leider wird uns das nicht von großem Nutzen sein. Sehen Sie, Virginie hat Sie angelogen. Den Mord an ihrem Bruder kann sie nicht beobachtet haben. Denn als er verübt wurde, war sie mit ihrer Mutter zusammen, half ihr, Marmelade einzukochen. Hélène Fansten ist sich in diesem Punkt absolut sicher: Virginie hat an jenem Morgen das Haus nicht verlassen. Sie hatte die Grippe und es regnete. Auch im Fall des kleinen Michael hat Virginie Sie belogen: Sie ist zwar mit ihm zusammen Fahrrad gefahren, aber Hélène Fansten hatte ihr strikt untersagt, die Siedlung zu verlassen – Sie verstehen, nachdem das mit Renaud geschehen war, war sie sehr vorsichtig geworden … Und so kam Virginie zurück und hat im Garten gespielt, sie ist nicht mit Michael in den Wald gegangen. Verstehen Sie, was ich sage? Sie hat Sie angelogen.«

Das ist nicht möglich. Woher konnte Virginie wissen, wo Michaels Leichnam lag? Und wie konnte sie wissen, daß er tot war, obwohl man seine Leiche da noch gar nicht gefunden hatte? Die einzig mögliche Erklärung ist die, daß ihre Mutter sie nicht die ganze Zeit im Auge hatte.

»Am Morgen des 28. Mai, nachdem Hélène Fansten Virginie verboten hatte, mit Michael wegzugehen, hat das Mädchen Klavier geübt, und anschließend haben sie gemeinsam im Garten Unkraut gejätet. Madame Fansten hat sie also nicht eine Minute lang unbeaufsichtigt gelassen.«

Hélène muß sich irren. Eine Viertelstunde hätte genügt …

»Ich erzähle Ihnen das alles nicht, weil ich mich so gerne mit Ihnen unterhalte, sondern damit Sie sich darüber im klaren sind, in welchem besorgniserregenden Zustand sich Virginie befindet. Ein Zustand, der meiner Ansicht nach einen ganz einfachen Grund hat: Sie hat die Morde nicht beobachtet, aber sie glaubt, sie weiß, wer der Mörder ist.«

Falsch, Yssart! Warum sollte der Mörder mich zu töten versuchen, wenn sie nur ›zu wissen glaubt‹, wer es ist? Nein, sie weiß tatsächlich, wer der Mörder ist, und er fürchtet, daß sie es mir erzählt hat. Und Virginie kann er nicht töten, weil alle Polizisten in der Gegend ein Auge auf sie haben.

»Auf alle Fälle möchte ich Sie bitten, allem, was Virginie Ihnen erzählt, größte Aufmerksamkeit zu schenken. Wir können diesen Fall nur lösen, wenn alle zusammenarbeiten. Mehrere Kinder sind umgebracht und grauenvoll verstümmelt worden, man hat versucht, Sie zu töten und Ihren Bekannten Stéphane Migoin angegriffen; das ist kein Spiel mehr, hier geht es um Leben und Tod. Kann ich mit Ihrer Hilfe rechnen?«

Zeigefinger. Man kann schließlich einem Typen, der den Moralischen hat, nicht die Unterstützung verwehren. Außerdem bin ich nicht unzufrieden, daß Kommissar Yssart da ist und auf mich achtet, denn ich bin mir voll und ganz darüber im klaren, daß ich die Lage nicht ganz im Griff habe … Plötzlich wird mir bewußt, was er da gerade gesagt hat: ›Grauenvoll verstümmelte Davon war vorher nie die Rede! Wenn ich nur sprechen, ihm Fragen stellen könnte, ich ertrage dieses Stummsein nicht länger! Ich hebe den Zeigefinger.

»Möchten Sie etwas fragen?«

Zeigefinger.

»Lassen Sie mich raten, also … im Zusammenhang mit dem, was ich Ihnen gerade gesagt habe?«

Zeigefinger. Methodisches Vorgehen hat wirklich seine Vorzüge, das kann man nicht anders sagen.

»Geht es um die Verstümmelungen?«

Verdammt, der Typ kann wirklich Gedanken lesen. Der ist nicht Polizist, sondern Hellseher, auf dem Jahrmarkt könnte er damit ein Vermögen verdienen. Eilig hebe ich den Zeigefinger.

»Wir haben diese Tatsache in den Medien bisher nicht erwähnt, und Ihnen erzähle ich es auch nur, weil ich weiß, daß Sie nicht darüber sprechen werden!«

Da kannst du sicher sein!

»Die Opfer wurden nicht nur erwürgt«, er senkt die Stimme und beugt sich zu mir herunter, »sie wurden auch verstümmelt und zwar mit einem Messer, das eine sehr dünne, scharfe Klinge hat. Die Verstümmelungen reichen vom Abschneiden der Hände bei Michael Massenet bis zur Enukleation der Augen im Fall von Charles-Eric Galliano.«

Enukleation! Das Wort dringt langsam bis zu meinem Gehirn vor, bis ich schließlich begreife, was es bedeutet. Man hat ihm die Augen herausgeschnitten. Ein kleines, verkrampftes Gesichtchen mit leeren Augenhöhlen! Dann muß ich an ›abgeschnittene Hände‹ denken, die Vorstellung daran ist auch nicht viel besser! Plötzlich bedauere ich es, daß Yssart mir jedes Detail erzählen will.

»Was Renaud Fansten betrifft, so hat es uns damals sehr gewundert, daß er skalpiert worden war. Diese Tat schien völlig unverständlich.«

Ich versuche etwas aus dem Klang von Yssarts Stimme herauszuinterpretieren, ich klammere mich an meine Schlußfolgerungen; Schlußfolgerungen sind logisch, und Logik gibt Sicherheit, sie verbannt die Enukleation in die dunklen Sphären jener Dinge, die eigentlich nicht passieren. Aber wenn die Opfer verstümmelt waren, hätte die Polizei ja eigentlich schon vom zweiten Mord an wissen müssen, daß es sich um einen Psychopathen handelt.

»Ich weiß, man könnte jetzt einwerfen, warum hat man nicht gleich einen Zusammenhang zu den ersten Morden hergestellt? Doch bei dem ersten Mord wurde das Opfer, Victor Legendre, einfach erwürgt. Heute denke ich, daß der Mörder bei seiner Arbeit gestört wurde. Das zweite Opfer, Charles-Eric Galliano, wurde erwürgt und die Augen waren … ähm … verschwunden. Erst nach dem Mord an Renaud Fansten begannen wir, einen Zusammenhang herzustellen. Er wurde ebenfalls erwürgt, nicht sexuell mißbraucht, doch skalpiert. Bei dieser Konstellation – Erwürgen, Verstümmelung, kein sexueller Mißbrauch – ist uns plötzlich ein Licht aufgegangen. Wir wollten diese Informationen nicht bekanntgeben, denn bei einem Verhör könnten sie von entscheidender Bedeutung sein. Der Mord an dem kleinen Massenet, der ebenfalls die drei Charakteristika aufwies, hat uns dann in der Annahme, daß wir es mit einem Psychopathen zu tun haben, bestärkt. Wir wissen zwar noch immer nicht, welche Person wir suchen, doch wir wissen inzwischen, welches Persönlichkeitsprofil der Täter hat: Er leidet unter einer Persönlichkeitsspaltung und kann die Taten mit vollem Bewußtsein begangen haben oder auch nicht. Gut. Ich hoffe, ich habe Sie mit diesen ausführlichen Einzelheiten nicht gelangweilt. Jetzt muß ich mich leider verabschieden. Die Pflicht ruft. Bis bald und vielen Dank für Ihre Hilfe.«

Schritte auf dem Parkett. Die Tür schließt sich. Ich bleibe allein zurück, ganz benommen von dieser Fülle von Informationen. Meine Rolle als bevorzugte Vertrauensperson bestätigt sich offensichtlich. Wann wohl der Psychopath selbst vorbeikommt, um mir sein Herz vor meinen hübschen kleinen Ohren auszuschütten, ehe er mir eines abschneidet, um es mit nach Hause zu nehmen und ihm die ganze Nacht lang seine Geschichten zu erzählen? Ich stelle mir Yvettes Entrüstung vor, wenn sie von diesen Verstümmelungen wüßte.

Aber warum tut ein Mensch so etwas? Dumme Frage, Elise! Der ›Schlächter von Milwaukee‹, der gerade im Gefängnis von seinen Mitgefangenen umgebracht wurde, hat schließlich auch die Schädel seiner Opfer in seinem Schrank aufbewahrt, nachdem er sie zuvor ausgekocht und liebevoll bemalt hatte! Verstehen Sie, was er davon hatte? Nun, er offensichtlich schon. Er wurde wegen der Morde verurteilt und weil er mit einigen der abgeschnittenen Köpfe Sexualverkehr hatte. Das stelle man sich mal vor, ich meine, den Kerl, wie er es gerade tut … Man kann es nicht fassen. Und doch ist es wahr.

Gelächter aus der Küche. Kochtopfgeklapper, eine Weinflasche wird geöffnet. Ich wette, daß Monsieur Jean Guillaume zum Essen eingeladen wird. Immerhin ist Yvette seit zehn Jahren Witwe, es wäre an der Zeit, daß sie wieder jemanden fände. Aber Yvettes Gefühlsleben ist im Augenblick ehrlich gesagt nicht mein Hauptproblem. Nein, sondern die Tatsache, daß ein Mörder um mich herumschleicht, daß Virginie mich belogen hat, daß sie bestimmt in Gefahr ist, und daß ich nicht weiß, was ich tun soll. Daß ich eigentlich überhaupt nichts tun kann. Außer versuchen, die Sache zu verstehen.

Warum hat Virginie behauptet, die Morde beobachtet zu haben? Ich bin immer mehr davon überzeugt, daß sie die Leichen zufällig gefunden hat, und was den Rest der Geschichte betrifft, teile ich Yssarts Meinung. Sie verdächtigt jemanden, und damit die ganze Geschichte logisch wird, muß sie einfach Teile davon dazuerfinden.

Warum hat irgend jemand (und es handelt sich sicherlich um dieselbe Person) Stéphane niedergeschlagen, um mich anschließend in den Teich zu befördern? Wer wollte mich umbringen und warum?

Wer hat mich in jener Nacht gestreichelt?

Alles muß sich ineinanderfügen, wie Yssart sagt. Man braucht nur die Tatsachen solange hin und her zu wenden, bis sie sich wie die Teile eines Puzzles richtig zusammenfügen.

Ist der Mann, der sich einen Scherz daraus gemacht hat, mir Angst einzujagen, derselbe, der mich in jener Nacht – nennen wir die Dinge ruhig mal beim Namen – befummelt hat und der mich jetzt töten wollte? Logischerweise ja. Und doch glaube ich es nicht. Der, der mich gestreichelt hat, war nicht wut- und haßerfüllt. Es war ihm unangenehm, und er hatte Angst, ja, ich habe seine Angst gespürt, seine Scham. Er gehorchte einem unwiderstehlichen Drang, dessen er sich schämte, doch er war weder grausam noch brutal. Es gibt also zwei Männer: Einen Sadisten, der mich mit der Nadel malträtiert und mich vermutlich in den Teich gestoßen hat, und einen Sexbesessenen, der verliebt in mich ist.

Na, da könnte ich mir auch eine schönere Eroberung vorstellen …

Langsam wird mir bewußt, daß man versucht hat, mich zu töten. Eigentlich müßte ich jetzt tot sein. Brrr. Und Stéphane? Hätte man ihm den Mord an mir zur Last gelegt? Ein Glück für ihn, daß er niedergeschlagen wurde. Ja, man kann wirklich von Glück reden, denn ohne Zeugen hätte er sonst einen hervorragenden Täter abgegeben. Stéphane … Sein Verhalten ist eigenartig. Hätte er sich selbst mit einem Gegenstand auf den Schädel schlagen können? Und eine Ohnmacht vortäuschen? Warum nicht? Die Kopfhaut blutet sehr leicht, und aktive Sportler haben selten Angst vor Schmerzen. Wenn ich davon ausgehe, daß er mich in den Teich gestoßen hat, daß er mich also umbringen wollte, muß ich auch davon ausgehen, daß er sich den Scherz mit der Nadel erlaubt hat. Und der Mann, der für beides verantwortlich ist, ist höchstwahrscheinlich auch der Kindermörder. Stéphane? Ja, Virginie kennt ihn gut und hat ihn sehr gern. Ach, mein Kopf platzt vor Eindrücken, wenn mich Yvette doch nur ins Bett bringen würde, ich habe Halsschmerzen. Und ich habe Angst. Wenn ich wenigstens wüßte, warum man mich umbringen wollte. Es ist schon schlimm genug, sich vorzustellen, daß einem jemand nach dem Leben trachtet, aber wenn man sich noch dazu nicht verteidigen kann, wird es grauenvoll. Ob er es noch einmal versuchen wird?

»Ist alles in Ordnung? Frieren Sie auch nicht? Wer hätte das für möglich gehalten, daß man Stéphane im Park angreifen könnte! Und dann rollt Ihr Rollstuhl auch noch den Abhang hinunter, also wirklich, so ein Pech. Zeigen Sie mal Ihre Hände. Na, das geht ja, sie sind schön warm.«

Ich habe fürchterliche Halsschmerzen, und wenn meine Hände warm sind, dann nur, weil ich mir eine Grippe geholt habe!

»Haben Sie Durst? Hunger?«

Kein Zeigefinger.

»Aber Sie müssen doch etwas essen! Monsieur Guillaume bleibt zum Abendessen, er ist so nett. Stellen Sie sich nur vor, wenn er nicht vorbeigekommen wäre …«

Ich weiß, dann würden sich jetzt die Kaulquappen an mir gütlich tun.

»Ich habe einen Fleischeintopf mit Ravioli gemacht. Ich denke, die Ravioli können Sie auch essen.«

Das Problem bei meiner Ernährung besteht darin, daß ich Schwierigkeiten habe, die Bewegungen meines Kiefers zu koordinieren, und das ist nun mal zum Kauen unerläßlich.

Darum werde ich vorwiegend mit Brei, Püree und flüssigen Nahrungsmitteln ernährt, die man leicht schlucken kann. Aber ich esse gerne Fleisch, schönes rotes Fleisch, Nudeln und Pizza. Und Chorizo. Ein Scheibchen Chorizo, grüne Oliven und ein gut gekühltes Bier …

Yvette ist schon wieder in der Küche, ich höre sie geschäftig hantieren. Monsieur Guillaume kommt näher.

»Na, geht es Ihnen besser?«

Zeigefinger.

»Das müssen wir feiern. Ich gehe Champagner kaufen.«

»Aber nein, das ist doch nicht nötig!« protestiert Yvette.

»O doch, o doch. Man springt ja schließlich nicht jeden Tag dem Tod von der Schippe,«

Na ja, was mich betrifft ist es immerhin nicht das erste Mal. Das erste Mal war in Belfast. Benoît … Ich spüre, wie mich Schwermut überkommt. Ich will nicht an Benoît denken. Aber der Gedanke daran hält mich gefangen. Eine Flut von Bildern taucht vor mir auf; ich sehe, wie Benoît und ich die Reise vorbereiten, wir liegen in seiner Wohnung im Bett, die Prospekte auf den zerknitterten Laken ausgebreitet … Irgendwie bin ich froh, daß Benoîts Mutter die Wohnung nicht verkauft hat. So gibt es noch einen Ort auf der Welt, an dem Benoît greifbare Spuren hinterlassen hat. Yvette hat mir gesagt, daß dort noch alles unverändert ist. Seine Mutter hat nur die Fensterläden schließen lassen. Sie ist alt und krank und lebt in einem Altersheim in Bourges; der Tod ihres einzigen Sohnes hat ihr die letzte Lebenslust genommen. Und mir den Sinn des Lebens. Stimmt nicht, Elise, denn er ist tot und du nicht, und du hast auch nicht vor, dich umzubringen.

Die Haustür fällt ins Schloß. Yvette deckt den Tisch, ich höre wie sie schnell und geübt ihre Arbeit erledigt.

»Wirklich ein sehr netter Mann.«

Von wem redet sie denn? Ach ja, von Monsieur Guillaume!

»Und so höflich. Heutzutage sind die Menschen so schlecht erzogen, da ist es eine Wohltat, einen Mann zu treffen, der weiß, was sich gehört. Und er sieht auch nicht schlecht aus. Nicht sehr groß, aber kräftig. Er hat mir seine Bauchmuskeln gezeigt, hart wie Beton.«

Na sag mal Yvette, wie ich sehe, amüsierst du dich ja prächtig. In meiner Küche die Bauchmuskeln eines Fremden abzutasten, ist das etwa kein Angriff auf das Schamgefühl? Offensichtlich sind in diesem August wirklich alle durchgedreht.

»Was wollte denn der Kommissar schon wieder von Ihnen?« fährt sie fort. »Den hat die Natur ja nun wirklich stiefmütterlich behandelt! Und arrogant ist er! Der soll mal lieber den Kindermörder finden, anstatt hier herumzuschnüffeln.«

Ich bin ja ganz deiner Meinung, Yvette, aber ich habe das ungute Gefühl, daß es zwischen dem Kindermörder und mir eine Verbindung gibt.

Das Abendessen verläuft sehr angenehm. Yvette füttert mich zuerst und schiebt dann, als sie essen, meinen Rollstuhl an den Tisch. Monsieur Guillaume erzählt Witze, er ist ein guter Erzähler. Yvette lacht schallend, und mir wird plötzlich bewußt, daß ich sie nur selten habe lachen hören. Er erzählt ihr von seiner Frau. Sie hat ihn vor fünf Jahren wegen seines besten Freundes, einem Dreher bei Renault, verlassen. Yvette spricht von ihrem Mann, der vor zehn Jahren gestorben ist, nachdem er dreißig Jahre lang treu der französischen Eisenbahn gedient hatte. Ein Pole namens Holzinski, dem sie drei Kinder geschenkt hat. Sie berichtet von ihren Söhnen, der eine lebt in Montreal, der andere in Paris und der dritte in der Ardèche. Guillaume hat keine Kinder, seine Frau konnte keine bekommen. Ich höre zu, doch meine Gedanken sind ganz woanders, bei dem, was mir zugestoßen ist und die Routine meines Krankenalltags durcheinandergebracht, das Leichentuch der Langeweile, unter dem ich zu ersticken drohte, zerrissen hat.

Das Telefon klingelt.

»Ah, dieses Telefon! Man hat auch nie seine Ruhe!« brummt Yvette, während sie sich erhebt. »Hallo? Ja … Es ist für Sie, Elise.«

Für mich? Das ist das erste Mal seit zehn Monaten, daß mich jemand anruft. Yvette schiebt mich zum Telefon und hält mir den Hörer ans Ohr.

»Hallo Elise?«

»Sie können reden, sie hört Sie«, ruft Yvette über meinen Kopf hinweg.

»Elise, hier ist Stéphane.«

Ich weiß nicht warum, aber mein Herz macht einen kleinen Satz. Seine Stimme klingt schüchtern, nicht so aufschneiderisch wie sonst.

»Elise, ich wollte mich für das entschuldigen, was Ihnen geschehen ist. Ich weiß nicht, wie das passiert ist, ich ging durch den Wald und plötzlich bumm … Ich habe nur noch Sternchen gesehen, wirklich! Und dann nichts mehr, absolute Funkstille. Als man mir erzählt hat, was Ihnen zugestoßen ist …«

Im Hintergrund hört man Schritte, dann eine weinerliche Frauenstimme:

»Steph, wo bleibst du denn? Das Essen wird kalt!«

Er fährt eilig fort:

»Ich hoffe, daß Sie sich erholt haben. Ich werde Sie morgen besuchen. Also, bis dann.«

Er legt auf. Yvette legt den Hörer wieder auf die Gabel.

»Alles in Ordnung?«

Zeigefinger.

»Der arme Kerl. Er ist so nett. Nur schade, daß seine Frau eine solche Meckerziege ist. Ich spreche gerade von dem Mann, der heute morgen bei Elise war. Stéphane Migoin.«

Ich begreife, daß sie sich an Jean Guillaume wendet und kehre wieder zu meinen alten Gedanken zurück. Möchte ich Stéphane morgen sehen? Und Paul und Hélène? Warum haben sie nicht angerufen? Sie könnten sich ruhig nach meinem Befinden erkundigen. So grübele ich bis zum Dessert weiter, immer wieder gehe ich die Ereignisse der letzten Zeit durch, bis Jean Guillaume die Champagnerflasche entkorkt. Yvette kichert, man hört das Prickeln des Champagners in den Gläsern. Ich bekomme auch eins, mmh, schmeckt der Champagner schön frisch. Es läutet.

Yvette öffnet die Tür.

So eine Überraschung! Es ist die ganze Familie Fansten. Virginie läuft durchs Zimmer und küßt mich auf beide Wangen. Yvette stellt Jean Guillaume vor, Glückwünsche, was darf ich Ihnen zu trinken anbieten, ah, Paul hat auch eine Flasche Champagner mitgebracht. Langsam verstehe auch ich, daß die Sache geplant war. Sie haben mit Yvette ausgemacht, daß sie zum Dessert kommen, und Yvette hat mir nichts gesagt, es sollte eine Überraschung sein. Hélène umarmt mich und fragt, ob alles in Ordnung ist. Paul umarmt mich nicht, aber auch er fragt mich, ob alles in Ordnung ist. Gott sei Dank reicht ihnen Jean Guillaume die Champagnergläser, und alle schweigen und trinken, nachdem sie auf meine Gesundheit angestoßen haben.

Es ist angenehm, wenn man sozusagen aus dem Reich der Toten zurückgekehrt ist, wie einem von allen Seiten plötzlich Interesse entgegengebracht wird.

Die beiden Flaschen sind leer, Yvette bringt den Kaffee. Paul hat sich zu mir gesetzt.

»Ich war vorhin bei Steph. Er hat einen Verband um den Kopf, sieht ganz komisch aus. Der Ärmste fragt sich immer noch, wie das passieren konnte.«

Hélène mischt sich ein.

»Ich verstehe nicht, wie ein Typ, der so kräftig ist wie Steph, sich einfach niederschlagen lassen kann! Ohne etwas zu hören, ohne etwas zu sehen! Ich hätte nie gedacht, daß man so einen Kleiderschrank von Mann angreifen würde.«

Ich auch nicht.

»Und Sie, Monsieur Guillaume, haben Sie nichts Verdächtiges bemerkt?«

»Wie ich schon der Polizei gesagt habe, dem Inspektor Dingsbums, regnete es in Strömen. Ich hatte meine Kapuze ins Gesicht gezogen und lief mit gesenktem Kopf … Selbst wenn mir jemand begegnet wäre, bei dem feuchten Gras, das jedes Geräusch verschluckt … Das einzige, was ich gesehen habe, war der umgekippte Rollstuhl und Mademoiselle Andrioli, deren Kopf unter Wasser lag. Man sah nur noch ihre Füße und Luftblasen. Ich bin hingelaufen und habe sie am Knöchel gepackt. Zum Glück ist sie nicht schwer!«

»Sie haben den Täter offenbar nur knapp verfehlt«, bemerkt Paul.

»Er konnte sich hinter den Büschen verstecken, um abzuwarten, bis ich wieder weg war, und dann in aller Ruhe verschwinden.«

»Und wenn wir über etwas anderes sprechen würden?« schlägt Hélène vor. »Elise hat vielleicht überhaupt keine Lust, die ganze Geschichte noch einmal zu hören! Alle haben mich gefragt, wie es Ihnen geht, Elise. Ich habe sie, so gut ich konnte, beruhigt. Claude will Sie morgen besuchen.«

»Wer möchte Obstsalat?« fragte Yvette.

Eine kleine Hand legt sich auf die meine, und in dem allgemeinen Stimmengewirr, das auf Yvettes Bemerkung folgt, flüstert mir ein zartes Stimmchen ins Ohr:

»Ich habe dir ja gesagt, du sollst aufpassen. Die Bestie hat dich bemerkt, und sie ist böse auf dich. Und weißt du, ich glaube, daß bald ein anderes Kind bestraft wird.«

Bestraft?

»Mathieu Golbert. Er ist in der zweiten Klasse und macht immer großes Theater um nichts. Die Bestie findet ihn hübsch. Das ist ein schlechtes Zeichen. Wenn sie mir sagt, daß ich hübsch bin, verstecke ich mich, denn ich weiß, was das heißt. Ich warte, bis es vorbei ist, verstehst du …? Ich will auch Obstsalat!«

Nein, warte, Virginie, warte. Wie war der Name? Mathieu. Mathieu Golbert. Ja, ich kenne ihn, seine Mutter hat einen Friseursalon, sie waren oft im Kino, ein hübscher, kleiner Junge mit großen blauen Augen. Was soll ich tun? Ich muß Yssart verständigen. Und wenn Virginie nun die Wahrheit sagt …

Oh, ich weiß nicht mehr, was ich denken soll, dieses Kind ist so eigenartig!

Eine Hand auf meiner Schulter, ich zucke innerlich zusammen. Eine große, feste Hand. Paul. Er sagt nichts. Er drückt nur meine Schulter und streicht mit dem Daumen leicht über meinen Nacken. Es dauert nur wenige Sekunden, dann zieht er die Hand zurück. Ich habe den Eindruck zu erröten. Also war er es in jener Nacht. In jener Nacht. Es kommt mir vor, als würde sie schon Wochen zurückliegen. In den letzten vierundzwanzig Stunden habe ich mehr erlebt als in den zehn Monaten davor.

Alle sind gegangen, und ich liege in meinem Bett. Ich spüre, daß ich gleich einschlafen werde. Bilder jagen durch meinen Kopf. Virginie, Paul, Stéphane, Hélène, Yssart, Jean Guillaume … Alles Menschen, die ich mir nur in Gedanken vorstellen kann, farbige Phantombilder. Sollte ich eines Tages wieder sehen können, werde ich sicherlich erstaunt sein, wie sie in Wirklichkeit aussehen. Mathieu Golbert. Ich muß etwas unternehmen …