13

Die Krankenschwester kämmt mich. Es ziept ein bißchen. Sie sieht nach, ob ich sauber aussehe und meine Jacke ordentlich zugeknöpft ist. Ein nettes Mädchen. Sie heißt Yasmina, das hat sie mir erzählt, als sie meinen Verband wechselte. Ich weiß, daß ihr Vater aus Algerien stammt und ihre Mutter aus dem Pas-de-Calais. Daß sie ihr Abitur wegen familiärer Schwierigkeiten – ihre Mutter war Alkoholikerin – nicht bestanden hat. So beschloß sie, Krankenschwester zu werden, weil sie sich um andere Menschen kümmern, ihnen helfen wollte, aber hier wird sie schlecht bezahlt, die Gewerkschaft müßte mehr tun. Sie hat dunkle, lange Locken, ihr Freund heißt Ludovic und ist ebenfalls Krankenpfleger. Ich weiß nicht, warum die Leute, sobald sie mit mir allein sind, mir ihr Leben erzählen. Wahrscheinlich haben sie das Gefühl, sie vertrauten sich – wie damals, als sie klein waren – ihrer Puppe an …

»So, Sie sind wirklich bildhübsch«, sagt sie, während sie mich in meinen Rollstuhl setzt. »Es ist zehn Uhr, sie werden bald kommen. Ich hoffe, daß wir Sie hier so bald nicht Wiedersehen!«

Das hoffe ich auch. Dabei war dieser kurze Aufenthalt gar nicht mal so unangenehm … Trotz all der Fragen, die mich quälen, habe ich mich ausgeruht, und die Tatsache, daß vor meiner Tür ein Polizist postiert war, hat mich doch sehr beruhigt. Apropos, sie stopfen mich hier ohne Unterlaß mit Beruhigungsmitteln voll, eine widerliche Angewohnheit, ich schlafe fast die ganze Zeit!

Schritte auf dem Gang, die Tür öffnet sich.

»Sie sehen aber gut aus!« ruft Yvette und umarmt mich. »Paul wartet unten. Auf Wiedersehen, Schwester, und vielen Dank!«

»Gern geschehen. Auf Wiedersehen, Elise!«

Ich hebe freundlich die Hand und winkle dreimal hintereinander die Finger an, was ›Ciao‹ bedeuten könnte.

Yvette schiebt den Rollstuhl zum Aufzug und erzählt mir die letzten Neuigkeiten. Ich komme mir vor wie ein Rennfahrer, der sich nach einem kurzen Boxenstop wieder ins Rennen stürzt.

»Sie ahnen ja nicht, was alles passiert ist! Zunächst hat Inspektor Gassin herausgefunden, daß Kommissar Yssart gar kein richtiger Kommissar war, stellen Sie sich das mal vor! Wir hatten es mit einem Hochstapler zu tun! Jean hat alle Schlösser ausgewechselt, und ich habe am Badezimmerfenster einen Riegel anbringen lassen. Heutzutage ist man nirgendwo mehr sicher; ein falscher Kommissar! Man vermutet sogar, daß er Sie überfallen und die armen Kinder umgebracht hat! Inspektor Gassin hat mir gesagt, er habe eine heiße Spur, denn es sieht so aus, als habe er einen Fingerabdruck auf der Kassette hinterlassen … Sie wissen schon, die Literaturkassette, die Jean Ihnen geschenkt hat.«

Der Aufzug hält mit einem kleinen Ruck, und Yvette schiebt mich in die Halle; wir befinden uns nun in einem Meer von Menschen, es riecht nach Krankenhaus, die verschiedenen Telefonapparate klingeln unaufhörlich.

Ein Fingerabdruck. Der falsche Yssart soll einen Fingerabdruck auf der Kassette hinterlassen haben … War er so durcheinander? Oder handelt es sich um einen falschen Abdruck, den irgend jemand absichtlich hinterlassen hat, um ihn zu belasten? Möglich ist alles. Auf alle Fälle scheint mit der Kassette alles in Ordnung zu sein, sonst hätte es Gassin bemerkt.

»Guten Tag, Lise! Sie sehen ja blendend aus!«

Paul. Ich hebe die Hand. Man hievt mich in den Kombi, die Tür schlägt zu. Der Wagen fährt an.

Nach Hause.

Als ich in das Haus komme, ist mir nicht ganz wohl. Es scheint mir nicht mehr sicher und irgendwie besudelt zu sein. Ihm haftet der Geruch von Gefahr und Bosheit an. Yvette schiebt mich ins Wohnzimmer und geht ihrer Arbeit nach. Paul setzt sich neben mich auf die Couch.

»So, ich hoffe, nun wird alles gut.«

Er senkt die Stimme und beugt sich zu mir herüber:

»Wir wissen nicht, was wir tun sollen. Sollen wir der Polizei von Virginies leiblichem Vater erzählen? Hélène hat Ihnen doch gesagt, daß ich nicht der Vater bin, nicht wahr?«

Ich hebe die Hand. Plötzlich wünsche ich mir, er würde gehen, ich weiß nicht warum, aber mit seiner honigsüßen Stimme widert er mich ein wenig an.

»Dieser Typ ist ein richtiges Schwein, und vor allem, und das wissen Sie vielleicht nicht, hat mir Hélène gestanden …«

»Möchten Sie etwas trinken, Paul?«

»Nein danke, das ist nett, Yvette, aber ich muß gehen, ich habe einen Termin. Bis später, Elise. Auf Wiedersehen.«

Es ist unglaublich, wie ungeniert sich die Leute mir gegenüber verhalten. Ungebeten knallen sie mir irgendeine Information hin, und ebenso plötzlich unterbrechen sie dann ihren Redeschwall, gerade so, als würden sie Selbstgespräche führen. Es gibt auch Leute, die ihrem Schoßhündchen gegenüber solche Monologe halten. Was könnte Hélène in Bezug auf Virginies Vater Paul gestanden haben? In Anbetracht seines Charakters wahrscheinlich nichts Gutes …

Kaum sitze ich eine Stunde im Wohnzimmer und versuche, ein kleines Nickerchen zu halten, läutet es an der Tür. Nun geht es also wieder los: Der Zirkus Andrioli ist Tag und Nacht für groß und klein geöffnet!

»Sie ist im Wohnzimmer!«

»Danke, ich möchte sie unter vier Augen sprechen.«

Entschlossene Schritte.

»Guten Tag. Ich muß mit Ihnen reden, es ist wichtig.«

Gassin. Na, der hat ja in den letzten beiden Tagen an Autorität gewonnen! Ich höre, wie er die Tür zum Flur schließt.

»Erinnern Sie sich an das Päckchen, das Sie im Krankenhaus bekommen haben?«

Um mich daran nicht zu erinnern, müßte ich wohl gehirnamputiert sein, lieber Inspektor. Ich hebe die Hand.

»Gut. Mein Kollege, Inspektor Mendoza, hat bei dem Express-Kurierdienst Erkundigungen eingezogen. Der Absender war ein großer, schlanker, dunkelhaariger Mann. Also derselbe, der den Krankenwagen gerufen hat. Er hat natürlich einen falschen Namen und eine falsche Adresse angegeben: Den Namen und die Adresse von Stéphane Migoin.«

Oha, das verstehe ich nicht. Was hat denn der arme Stéphane damit zu tun?

»Klar ist also, daß es sich um jemanden handelt, der bestens über die Ereignisse hier informiert ist, und damit ist auch klar, daß es sich bei dem, was Ihnen zugestoßen ist, nicht um einen einfachen Überfall handelte … Glücklicherweise war er ein wenig unvorsichtig: Er hat einen Fingerabdruck auf der Kassette hinterlassen, die neben Ihrer Stereoanlage lag, Bestie Mensch. Wir haben Nachforschungen in der Zentralkartei angestellt und sind fündig geworden! Wissen Sie, wer der Mann ist, der sich als Kommissar Yssart ausgegeben hat? Der Mann, der das Päckchen aufgegeben hat? Der Mann, der Sie höchstwahrscheinlich angegriffen hat, ehe er dann selbst den Krankenwagen rief?«

Er läßt mich ein oder zwei Sekunden schmoren, ehe er fortfährt:

»Antoine Mercier, genannt Tony, achtunddreißig Jahre alt, 1988 wegen Mordes verhaftet, für unzurechnungsfähig erklärt und in das psychiatrische Krankenhaus Saint-Charles in Marseille, Department Bouches-du-Rhône, eingewiesen worden.«

Tony! Yssart war Tony! Also das … Der Mann, der Hélène den Arm gebrochen hat, als Polizist verkleidet! Tony, der wegen Mordes verurteilt wurde!

»Warten Sie, das ist noch nicht alles«, fährt Gassin aufgeregt fort. »Raten Sie mal, wer Tony Mercier ist! Tony Mercier ist Virginies leiblicher Vater, das haben wir soeben erfahren. Er war von 1986 bis zu seiner Verhaftung mit Madame Fansten liiert. Und wissen Sie, warum er verhaftet wurde?«

Er beugt sich zu mir vor und ich rieche Menthol:

»Wegen Mordes an einem achtjährigen Kind! Er wurde in einem anonymen Brief beschuldigt. Meine Marseiller Kollegen haben eine Hausdurchsuchung bei ihm vorgenommen und einen ähnlichen Strick gefunden wie der, mit dem das Kind gefesselt worden war, sowie Wollfasern vom Pullover des Opfers.«

Ich spüre, wie mir flau wird. Gassin spricht hastig weiter:

»Tony Mercier war allgemein als sehr labil bekannt und hatte ein ellenlanges Vorstrafenregister: Autodiebstahl, Einbruch usw. Er war oft in Schlägereien verwickelt. Er stammt aus beklagenswerten familiären Verhältnissen. Den Eltern, die Alkoholiker waren, wurde das Sorgerecht entzogen, er wurde der Fürsorge übergeben, riß wiederholte Male aus, und den Rest erspare ich Ihnen lieber. Zumeist arbeitslos, hat er auf eigene Initiative hin mehrere erfolglose Entziehungskuren unternommen. Es war allgemein bekannt, daß er Hélène schlug und ihr einmal auch den Arm gebrochen hat. Kurz, selbst wenn er unschuldig gewesen wäre, war sein Schicksal besiegelt. Sein Anwalt hat auf nicht schuldig plädiert und darauf hingewiesen, daß irgend jemand anders das belastende Beweismaterial in Merciers Wohnung hätte bringen können, um ihm die Schuld zuzuschieben. Die Sachverständigen haben ihn für unzurechnungsfähig erklärt. Er wurde inhaftiert. Aber das ist noch nicht alles: Seit 1991 hatte Tony Mercier Freigang, und vor zwei Jahren ist er aus dem psychiatrischen Krankenhaus geflohen!«

Gassin ist so aufgeregt, daß er die letzten Worte heftig hervorgestoßen hat. Ich verstehe den Ärmsten ja: Es ist hart zu erfahren, daß ein mordverdächtiger Verrückter sich als sein Chef ausgibt, unbehelligt in der Stadt seine eigenen Ermittlungen durchführt, vor allem, wenn es sich um den Vater des Mädchens handelt, das einiges über die Morde zu wissen schient, die in der Umgebung eben dieser Stadt verübt wurden …

Natürlich, ein Typ, der seiner eigenen Frau den Arm bricht, kann mich ebensogut mit Nadeln piesacken oder mich mit einem Messer traktieren … Offensichtlich steht der Fall kurz vor der Aufklärung. Alles scheint auf Tony-Yssart als Schuldigen hinzudeuten. Das würde auch Virginies Schweigen erklären. Er hat ihr wahrscheinlich gesagt, daß er ihr Vater ist. Dann hat er Migoin getötet, um ihm die Schuld in die Schuhe zu schieben! Aber warum hat Hélène ihn nicht erkannt? Vermutlich weil nicht er, sondern der richtige Yssart bei ihr war! Und ich habe mir die Ausführungen dieses Hochstaplers angehört, der sich köstlich amüsiert und sich gefragt hat, wann er mich umbringen wird … Da bin ich ja gerade noch mal davongekommen …

Gassin ergreift meine beiden Hände:

»Meine Theorie ist, daß Tony Mercier der Kindermörder ist. Er hat sich in der Gegend herumgetrieben, um seine Tochter und diejenige, die er noch immer als seine Frau ansieht, aufzuspüren. Alle Zeugenaussagen belegen, daß er ausnehmend besitzergreifend ist und wiederholt seine Frau bedroht hat. Als er sich hier niedergelassen hatte, konnte er dem Drang zu töten nicht widerstehen. Er hat sich als Kommissar Yssart ausgegeben, um die Ereignisse aus nächster Nähe verfolgen zu können. Er ist ein gefährlicher Geisteskranker, und ich befürchte das Schlimmste für Ihre und Hélène Fanstens Sicherheit. Ich möchte nicht, daß Sie hierbleiben. Fahren Sie zu Ihrem Onkel! Ich habe schon mit Hélènes Mann gesprochen. Er wird alles Notwendige für seine Frau in die Wege leiten. Wie Sie sicher verstehen, habe ich im Augenblick noch keine Beweise. Ich habe ihn ja nicht einmal vernehmen können, aber ich bin mir ganz sicher, daß Sie in Gefahr sind.«

Er erhebt sich. Zu meinem Onkel? Warum eigentlich nicht? Dort bin ich weit weg von all diesen Geschichten. Ich muß nicht die Verhaftung des unglückseligen Tony miterleben, weder Virginies Weinen noch Hélènes wütende Schreie, und erspare mir alle bissigen Kommentare.

»Sind Sie einverstanden?«

Ich hebe die Hand.

»Gut, dann werde ich die Sache mit Madame Holzinski besprechen. Auf Wiedersehen.«

Er geht in die Küche und redet leise mit Yvette. Er hat sich noch immer nicht beruhigt. Die Sache mit dem falschen Kommissar hat ihn anscheinend zutiefst getroffen. Man muß allerdings zugeben, daß … Yvette schließt hinter ihm die Tür und schiebt den Riegel vor. Dann höre ich ihre Schritte hinter meinem Rücken. Ich bin sicher, sie sieht nach, ob das Badezimmerfenster auch richtig zu ist. Was macht sie jetzt? Ah, sie telefoniert. Ich wette zehn zu eins, sie ruft meinen Onkel an. Gewonnen. Blablabla, wir kommen morgen. Sie wählt noch einmal. Bestimmt die Nummer der Fanstens.

»Hallo, guten Abend, hier ist Yvette, entschuldigen Sie die Störung … Ja, gerade eben … Das ist entsetzlich, wer hätte das ahnen können …? Wie furchtbar für Sie, meine Ärmste! Und Virginie? Ich hoffe, sie weiß nichts … Ja, das ist besser … Zu ihrer Schwiegermutter …? Sie haben recht. Ich kann es nicht glauben … Nein, das wußte ich nicht … Ich verstehe, ja. Über solche Sachen spricht man nicht gern … Und Paul …? Ja, er ist ein zuverlässiger Mensch, Sie haben Glück … Ah ja, das ist gut … Wie bitte? Gut, ich rufe Sie morgen noch einmal an.«

Aufgelegt.

»Ich habe gerade mit Hélène gesprochen. Das ist ja eine furchtbare Sache … Virginies Vater, stellen Sie sich das nur vor! Ein Geisteskranker, der aus dem Irrenhaus ausgebrochen ist! Das ist nicht zu fassen! Man fragt sich doch wirklich, in was für eine Welt wir leben! Sie wollen Virginie zu ihrer Großmutter schicken. Hélène will nicht wegfahren, sie will bei Paul bleiben, nun, Sie wissen ja, wie nervös sie ist. Na ja, jetzt verstehe ich sie besser, wenn der Vater des eigenen Kindes ein Mörder ist, da kann man schon mal die Nerven verlieren …«

Das glaube ich auch. Es ist gut, daß sie Virginie wegschicken. Ich bin wirklich betroffen. Statt froh darüber zu sein, daß der Fall so gut wie aufgeklärt ist, denn Tony Merciers Verhaftung steht sicher unmittelbar bevor, bin ich ziemlich deprimiert. Eine häßliche Geschichte.

Wie spät ist es? Ich kann nicht schlafen. Wenn ich mich bewegen könnte, würde ich mich im Bett hin- und herwälzen. So begnüge ich mich damit, nervös die Hand zu öffnen und zu schließen. Yvette hat mich gegen 22 Uhr zu Bett gebracht. Doch ich habe den Eindruck, daß es mindestens 2 Uhr morgens ist. Ich kann kein Auge zutun.

Als Tony Mercier hierhergezogen ist, mußte er sich zunächst irgendeine Identität zulegen. Er ist schließlich nicht als Kommissar Yssart verkleidet angereist. Er hat sich vermutlich erst hier niedergelassen, schließlich angefangen zu morden und dann später beschlossen, sich als Yssart auszugeben.

Aber warum hat er Migoin getötet? Warum nicht Paul? Ich habe den Eindruck, wenn ich ein Geistesgestörter wäre, der unter krankhafter Eifersucht leidet, würde ich es so einfädeln, daß man den Mann meiner Ex-Frau des Mordes beschuldigt und nicht einen anständigen Kerl wie Stéphane …

Außer: 1. Stéphane würde mich verdächtigen, oder 2. Stéphane wäre der Liebhaber meiner Ex-Frau gewesen – das heißt Hélènes Liebhaber …

Das eröffnet ganz neue Perspektiven. Man könnte sich sogar eine Kombination beider Hypothesen vorstellen.

Wenn ich bedenke, daß ich sogar so weit gegangen bin, den Ehemann meiner besten Freundin und den Verlobten meiner hingebungsvollen Pflegerin zu verdächtigen! Paul Fansten und Jean Guillaume.

Und Sophie? Was hat Sophies Leiche mit alldem zu tun? Also doch ein richtiger Selbstmord? Einfach wegen des Ehebruchs? Ein Streit mit Manu? Oder hat Tony auch Sophie getötet, um den gegen Stéphane bestehenden Verdacht zu erhärten? Kann ein entlaufener Irrer so skrupellos sein? Antwort: Ja! Sonst wäre er ja nicht darauf gekommen, sich als Kommissar auszugeben.

Andererseits hätte er, wie Gassin ganz richtig bemerkt hat, selbst wenn er unschuldig gewesen wäre, bei seiner Vorgeschichte nicht die geringste Chance gehabt.

Und wenn er nun den Mord in Marseille nicht begangen hat? Warum sollte er dann hierherkommen? Warum sollte er sich als Kommissar ausgeben? Nein, er muß es zwangsläufig gewesen sein, es gibt keine andere logische Erklärung: Ich darf nicht anfangen, völlig unwahrscheinliche Hypothesen aufzustellen.

Aber trotzdem: Warum hat man ihn nicht von Anfang an verdächtigt? Wenn man weiß, daß die Stiefmutter eines der Opfer mit einem Mörder zusammengelebt hat … Nein, bin ich dumm: Sie wußten es ja nicht. Hélène hat niemandem etwas von Tony erzählt, außerdem konnte sie ja nicht ahnen, daß er aus dem Krankenhaus geflohen war, sie glaubte ihn hinter Schloß und Riegel, also gab es keinen Grund, all den Schmutz wieder aufzuwühlen.

»Das Wetter ist wunderbar!« ruft Yvette und öffnet die Fensterläden. Ich kann mich nicht daran erinnern, eingeschlafen zu sein und habe das Gefühl, die ganze Nacht über gegrübelt zu haben.

Das Ankleide- und Frühstücksritual. Yvette ist heute nicht besonders gesprächig, macht nichts, ich bin sowieso schlecht gelaunt. Sie fährt mich ans Wohnzimmerfenster, damit ich hinter der Scheibe die Sonne genießen kann. Yvette ist sicher dabei, die Koffer für den Aufenthalt bei meinem Onkel zu packen. Ob sie Yssart wohl bald schnappen? Nachdem er sechs Monate unbehelligt gelebt hat, wird er sich jetzt vielleicht auch nicht so leicht in die Enge treiben lassen. Vor allem, da Gassin erst einmal seine Vorgesetzten und den Richter von seiner außergewöhnlichen Theorie überzeugen muß …

Telefon.

Nachdem sie aufgelegt hat, erzählt mir Yvette, daß Hélène und Virginie heute mittag vorbeikommen, um sich von mir zu verabschieden.

Wenn mich Yvette nicht an jenem Maitag in den Schatten eines Baumes auf dem Parkplatz vor dem Supermarkt gestellt hätte, hätte ich Virginie nie kennengelernt, und ich wüßte nicht mehr von der ganzen Geschichte als das, was man im Fernsehen hört. Statt dessen bin ich in den Strudel der Ereignisse, Gefühle und Ängste geraten … Wenn … wenn … Man kann die Zeit nicht zurückdrehen.

Yvette brummt vor sich hin. Aus Angst, etwas zu vergessen, kontrolliert sie die Koffer nun schon zum hundertsten Mal.

Es läutet. Begrüßungen. Zwei kleine Ärmchen schlingen sich um meinen Hals.

»Ich fahre zu Großmama!«

»Man sagt guten Tag, Virginie!«

»Guten Tag, ich fahre zu Großmama!«

Ich hebe die Hand und balle sie zur Faust. Virginie schiebt ihren Finger hinein.

»Super! Sieh mal, Mama, sie kann ihn schon festhalten!«

Wenn ich ihren Finger festhalten kann, warum nicht auch einen Stift? Virginie riecht nach Apfelshampoo, ich stelle mir vor, daß ihr blondes Haar ordentlich frisiert ist und seidig glänzt.

»Wenn Sie wollen, können wir Sie auf dem Weg zu Virginies Großmutter am Flughafen absetzen, das ist kein großer Umweg«, schlägt Hélène vor.

»Oh, wir wollen Ihnen keine Umstände machen«, protestiert Yvette.

»Das war Pauls Idee … Wir könnten Sie gegen fünf Uhr abholen.«

»Wirklich, ich weiß nicht …«

»Sie wollen doch wohl nicht extra ein Taxi nehmen. Das muß ja nicht sein.«

»Wirklich sehr nett von Ihnen. Virginie, möchtest du etwas Apfelkuchen?«

»Jaaa!«

»Ja bitte«, korrigiert Hélène sie müde.

Yvette geht, gefolgt von Hélène, in die Küche, wo ich die beiden flüstern höre. Geheimnisse?

»Jetzt, wo der Kommissar tot ist, werden sie die Bestie der Wälder nie fangen«, raunt mir Virginie zu. »Aber sie wird nicht bei meiner Großmama sein, ich freue mich, daß ich zu ihr fahre. Renaud auch. Er hat Großmama immer gern gehabt. Weißt du, daß es zwei Kommissare gab? Einen echten und einen falschen? Der junge Polizist hat es Mama erzählt. Er ist sehr nett. Er hat mir einen Erdbeerkaugummi geschenkt. Dann wollte er wissen, ob ich den falschen Kommissar kenne. Das war eine dumme Frage. Natürlich kenne ich ihn, er war ja der Kommissar. Er hat mich so viele Sachen über alle Leute gefragt, über meine Eltern, über dich, über Jean Guillaume, Yvette, Stéphane, Sophie und alle Kinder. Ich hatte die Nase voll von ihm. Ich hab’ überhaupt nicht verstanden, was er von mir wollte. Als würde ich es ihm sagen! Renaud stand die ganze Zeit hinter ihm und schnitt über seine Schulter hinweg Grimassen, da mußte ich lachen.«

Ich stelle mir den halbverwesten Renaud vor, wie er Grimassen schneidet. Sehr lustig.

»Zum Schluß habe ich dann gesagt, ich bin müde. Er ist böse geworden und hat gemeint, wenn ich etwas verberge, kann ich ins Gefängnis kommen, aber ich verberge nichts, ich habe ja nichts gestohlen. Und die Bestie der Wälder wird sich jetzt ruhig verhalten, da bin ich ganz sicher.«

»So, hier ist ein schönes, großes Stück Kuchen!«

Virginie läuft zu Yvette, die ihr Gedeck auf den Tisch stellt. Warum sollte sich die Bestie der Wälder (was für ein idiotischer Name!) jetzt in Sicherheit wiegen? Weil Tony Mercier demaskiert wurde und sein kleines Spielchen nicht fortsetzen kann. Ja, alles paßt zusammen.

»Nein danke, ich möchte keinen Kuchen«, sagte Hélène. Sie scheint nervös. Plötzlich legt sie mir die Hand auf den Arm und flüstert:

»Wenn ich daran denke, daß dieser Mistkerl die ganze Zeit hier war, ganz in der Nähe! Wenn ich daran denke, daß er uns drei beobachtet, Virginie nachspioniert hat … Das muß für ihn ein Hochgenuß gewesen sein. Ich hoffe, sie werden ihn bald fassen!«

Ihre Stimme klingt so haßerfüllt, daß ich erschaudere. Yvette schwatzt noch ein Weilchen mit den beiden, dann gehen sie. Also bis heute Abend, tschüs.

»Die arme Hélène ist wirklich leichenblaß!«

Das Wort ist nicht besonders glücklich gewählt, aber gut …

»Ich weiß, daß es unsinnig ist, aber bisweilen frage ich mich …«

Yvette zögert und fährt dann fort:

»Ich mag mich ja täuschen, aber manchmal habe ich den Eindruck, daß sie dem Bier ein wenig zu sehr zuspricht. Und diese große, schwarze Sonnenbrille … Der Sommer ist doch schon vorbei. Solche dunklen Brillen setzt man auf, um sein schlechtes Aussehen zu verbergen … Ich hatte eine Cousine, die den Alkohol schlecht vertrug, sie fiel immer auf der Treppe hin oder in der Dusche, und setzte dann eine solche Brille auf, damit man ihr blaues Auge nicht bemerkte …«

Der Alkohol oder Pauls lose Hand? Ich habe schon gehört, wie er sie geohrfeigt hat. Und ist es nicht so, daß Kinder, die geschlagen wurden, dasselbe Verhältnis zu ihrem Ehepartner aufbauen? Und ihr erster Mann Tony ist nicht nur ein Mörder, sondern auch ein gewalttätiger Alkoholiker, oder? Ein wahrer Roman von Zola!

O nein, nicht an Zola denken, nicht an seine Bestie Mensch oder irgendein Buch in der Art.

Das Warten wird mir unendlich lang. Es ist zugleich langweilig und anstrengend, nervenaufreibend. Vor, zurück, rechts, links, ich male mit meinem Rollstuhl Arabesken auf das Parkett und halte nur von Zeit zu Zeit inne, um den Arm zu heben und die Faust zu ballen. Ich muß aussehen wie eine Befreiungskämpferin im Rollstuhl. »Boissy-les-Colombes: Die hilflose Behinderte war eine gefährliche Terroristin!« Vor, zurück, auf zur Mazurka der Gelähmten.

Ich habe das Warten satt. Ich wünsche mir, daß die Zeit schneller vergeht. Daß Gassin läutet und sagt: ›So, wir haben ihn.‹

Es läutet.

»So! Wir haben ihn!«

Na, so was! Gassin!

»Ich habe einen Haftbefehl gegen Tony Mercier. Überall sind Straßensperren errichtet worden, alle Flughäfen und Bahnhöfe werden kontrolliert. Er kann uns nicht mehr entkommen!«

Das ist besser als nichts.

»Wissen Sie, ich habe Yssart, dem richtigen, meine ich, oft gesagt, er solle sich mehr um das Mädchen kümmern, um die kleine Virginie Fansten. Aber er wollte nicht auf mich hören. Er hielt das für Unsinn. Nun, heute bin ich sicher, daß er Unrecht hatte; sie hatte etwas mit der Geschichte zu tun, das habe ich immer gespürt, der Beweis ist, daß Mercier Virginies Vater ist. Mein Gott, wenn ich bedenke, daß wir diese Spur nach dem Tod des kleinen Renaud nicht weiter verfolgt haben! Wenn Hélène Fansten uns nur damals von Mercier erzählt hätte! Sie sagt, sie wollte einen Schlußstrich unter ihre Vergangenheit ziehen, sie habe gewußt, daß er inhaftiert war und habe geglaubt, auf ihr laste ein böser Fluch … Also wirklich, können Sie sich das vorstellen?«

Ich habe begriffen, daß die Dinge nie so einfach sind, wie man denkt. Er seufzt.

»Erholen Sie sich gut bei Ihrem Onkel. Wenn Sie zurückkommen, ist alles vorbei.«

Ganz schön optimistisch, der junge Mann. Ich frage mich, warum er gekommen ist, um mir das zu erzählen. Und wenn es ein falscher Gassin ist? Schließlich könnte das Spielchen unendlich lange so weitergehen. Und wenn ich eine falsche Elise wäre, und die richtige gerade über die Wiesen hüpft und Gänseblümchen pflückt …

Es hupt zweimal. Ah, das müssen Hélène und Paul sein.

»Wir kommen!« ruft Yvette aus dem Fenster. »Wo ist nur meine Brille? Und Ihr Wollschal? Ich bin sicher, daß ich ihn dort hingelegt habe.«

Yvette wirbelt um mich herum, läuft hinaus, eilt in die Küche und schiebt mich schließlich nach draußen.

»Entschuldigen Sie, ich bin etwas spät dran«, sagt Hélène, während sie mich auf den Vordersitz hebt. »Wir legen den Rollstuhl in den Kofferraum.«

»Ist Paul nicht da?«

»Er erwartet uns in der Bank.«

»Und Virginie?«

»Sie ist in der Schule, wir holen sie auf dem Weg ab«, erklärt Hélène. Yvette nimmt auf dem Rücksitz Platz, ich höre, wie sie tief seufzt und schwerfällig in die Polster sinkt. Hélène setzt sich ans Steuer, beugt sich zu mir herüber und befestigt meinen Sicherheitsgurt.

Sie fährt an. Der Kies knirscht unter den Rädern. Tiefes Schweigen. Hélène schaltet das Radio ein. Ein ohrenbetäubender Rap, ich verabscheue Rap, ich verstehe nie die Worte, außerdem bekomme ich Lust, mit dem Kodien wackeln wie ein Dromedar.

Wir halten. Hélène steigt aus. Ach ja, die Bank. Yvette ist recht schweigsam, ob sie eingeschlafen ist? Die hintere Tür öffnet sich:

»Guten Tag, Lise.« Pauls Stimme übertönt die Musik. Seine Tür schlägt zu, dann die Fahrertür.

»Also, los geht’s!« sagt Hélène und fährt an.

Die Fahrt dauert lang. Wo ist denn bloß diese merkwürdige Schule? Es ist sicherlich die neue, die an der D56 liegt. Keiner spricht ein Wort.

»Verdammt!« brüllt Hélène plötzlich.

Was ist los?

»Neiiin!«

Mein Herz klopft zum Zerspringen, scharfes Bremsen, der Wagen bricht aus, ich werde nach vorn geschleudert, etwas schlägt gegen meinen Kopf, und mir wird schwarz vor Augen.

Kopfschmerzen. Habe das Gefühl, mein Kopf hat sich ums Doppelte vergrößert. Fürchterlicher Durst. Mein Mund ist völlig ausgetrocknet. Wo bin ich? Anscheinend sitze ich. In meinem Rollstuhl, denn unter meinem Finger spürte ich einen Knopf. Ich höre das Tropfen eines Wasserhahns. Der Unfall. Es scheint nicht sehr schlimm gewesen zu sein, denn ich bin nicht im Krankenhaus, soviel ist sicher, sonst läge ich in einem Bett und es röche nach Desinfektionsmittel. Wo sind die anderen? Ich lausche. Nichts. Meine Kopfschmerzen werden von Sekunde zu Sekunde schlimmer, ich muß eine riesige Beule am Hinterkopf haben, dort, wo ich ein Pulsieren spüre. Wenn mir doch jemand zu trinken geben würde. Oder mit mir sprechen, mir erklären würde, was geschehen ist …

Es riecht nach Holz. Als befände ich mich in einem Holzhaus. In einem Landhäuschen? Aber was zum Teufel hätte ich in einem Landhäuschen verloren? Mein Onkel wohnt in einer modernen Villa. Außerdem würde ich bei ihm Lärm hören.

Gehen wir noch einmal alles durch: Wir waren auf dem Weg, um Virginie abzuholen. Dann hatten wir einen Unfall. Vielleicht haben uns Leute gefunden und mitgenommen. Sehr schweigsame Leute, Stumme zum Beispiel. Oder ich bin die einzige Überlebende. Mist. Das kann nicht sein.

Ich drücke auf den Knopf, der Rollstuhl bewegt sich langsam vorwärts. Das Geräusch kenne ich, ich fahre über Holzboden. Bums, eine Wand. Ich fahre drei Sekunden rückwärts, bums, eine andere Wand. Ein kleiner Raum. Wo man sich nur drei Sekunden lang mit dem Rollstuhl fortbewegen kann, ohne auf eine Wand zu stoßen. Offenbar gibt es hier keine Möbel. Stehe ich in einem Flur?

»Machen Sie sich keine Sorgen, es ist alles in Ordnung!«

Aah! Ein eisiger Schrecken durchzuckt mich, bis ich Yvettes Stimme erkenne.

»Hélène kommt gleich.«

Und Paul? Warum spricht sie nicht von Paul? Warum erklärt sie mir nichts?

Ich spüre etwas an meinen Lippen. Ein Glas. Wasser. Danke, meine gute Yvette. Ich trinke lange. Das Wasser schmeckt eklig, aber es tut mir dennoch gut. Ich bin so müde. Ich möchte, daß Yvette mir erklärt … Und diese Kopfschmerzen, mein Kopf wird immer größer … und größer …

Warum sehe ich nichts? Ich möchte die Augen öffnen. Meine Lider zittern. Die Augen sind offen, aber es ist dunkel. Durst, ich habe noch immer furchtbaren Durst. Habe den Eindruck, dick geschwollene Lippen zu haben. Yvette hat mir etwas zu trinken gegeben. Yvette. Der Unfall. Ich sehe nichts, weil ich blind bin. Für einen kurzen Augenblick hatte ich das vergessen, ich fühlte mich ein Jahr zurückversetzt, als ich noch unversehrt war. Ich hebe den Arm. Es scheint niemand da zu sein. Ich sitze noch immer in meinem Rollstuhl. Mein Nacken schmerzt, er ist ganz steif. Ich bin wahrscheinlich eingeschlafen. Wie gerne ich mich hinlegen würde. Ich habe Wasser getrunken und bin eingeschlafen. Und die anderen? Ich hebe noch einmal den Arm. Sie können doch nicht alle verschwunden sein!

»Alles ist gut.«

Schon wieder Yvette, aber ich habe sie gar nicht kommen hören. Will sie mich zu Tode erschrecken, oder was? Dabei hat sie doch sonst einen so lauten Gang!

»Ich werde uns einen schönen Kuchen backen.«

Aber ich will deinen blöden Kuchen nicht! Wo sind Paul und Hélène? Ich will wissen, was geschehen ist!

»Ich habe Ihrem Onkel Bescheid gegeben.«

Sehr gut, aber was hast du ihm gesagt? Und diese verfluchten Kopfschmerzen, je mehr ich mich aufrege, desto schlimmer werden sie, als hätte ich einen Kessel im Gehirn, den ein verrückter Heizer unbarmherzig vollschaufelt. Ein Unmensch, hopp, noch eine Schaufel voll Kohle, und hopp, der Schädel dampft und brodelt; wenn ich nur die Arme bewegen könnte, ich würde mir Yvette schnappen und sie schütteln, bis sie mir sagt, wo wir sind.

»Paul hat angerufen.«

Paul? Ist er denn nicht bei uns? Oder meint sie, daß er jemanden angerufen hat? Um Hilfe zu holen? Yvette! Ich hebe den Arm und balle mehrmals die Faust. Siehst du mein Signal nicht?!

»Paul hat angerufen.«

Ich weiß, ich bin ja nicht taub. Yvette, um Himmels willen, so streng dich doch etwas an. Mein Gott, sie ist vielleicht verletzt, liegt halbtot zu meinen Füßen am Boden …? Nein, ihre Stimme klingt unverändert, sie stöhnt nicht, es ist ihre ganz normale Stimme.

Normal, nicht einmal gereizt. Und wenn … nein, unmöglich, doch … wenn Yvette verrückt geworden wäre? Diese merkwürdige Art, ganz ruhig kurze Sätze zu sagen … Sie hat vielleicht einen schlimmen Schock erlitten. Eine grauenvolle Vorstellung: Hélène und Paul sind tot oder liegen im Sterben. Yvette hat mich in eine Hütte an der Straße gebracht, aber sie ist durchgedreht. Sie glaubt, wir wären zu Hause, geht ihrer Arbeit nach, und wir werden hier verrecken, ich in meinem Rollstuhl und sie, während sie so tut, als würde sie kochen …

Aber sie geht ihrer Arbeit nicht nach, sie bewegt sich nicht. Wenn sie sich bewegen würde, würde ich ihre Schritte auf dem Holzboden hören.

Frage: Wo ist Yvette?

Ich fahre vorwärts: Wand. Ich fahre rückwärts: Wand. Rechts eine Wand, links eine Wand. Ich fahre seitwärts: Wieder Wände.

Yvette? Ich habe sie nicht berührt, habe nicht gehört, daß sie sich bewegt hätte. Ich höre mein Herz, das zum Zerspringen klopft. Beweg dich, Yvette, bitte beweg dich.

»Paul hat angerufen.«

Ein eisiger Schauer rieselt mir über den Rücken. Sie ist verrückt, soviel ist sicher. Aber wo ist sie? Die Stimme kommt von rechts. Ich nähere mich der Stimme.

»Paul hat quiiiiiiick.«

Stille. Was soll dies Gekreische? Ich kenne Yvette jetzt seit dreißig Jahren, aber sie hat noch nie quiiiick gemacht. Herr des Himmels … das Schweigen, die kurzen Sätze, langsam begreife ich …

Es ist nicht Yvette, es ist ein Tonband.

Das bedeutet, daß ich bei ihm bin, bei der Bestie.

Er hat mich gekidnappt.

Er hat einen Unfall provoziert und mich gekidnappt. Und das heißt, daß Paul, Hélène und Yvette tot sind, sonst hätten sie schon die Polizei angerufen.

Ich fange an zu spinnen. Nein, ich spinne nicht … doch, ich spinne, wo sind sie denn alle, und warum wiederholt Yvette immer dieselben Worte wie eine verkratzte Schallplatte?

Mein Onkel wird sich Sorgen machen, wenn wir nicht kommen. Er wird überall herumtelefonieren, und man wird anfangen, uns zu suchen. Dann wird Hilfe kommen. Es ist nur eine Frage der Zeit. Wie in Blaubart.

Warum das Tonband? Warum will er mir vormachen, Yvette sei da? Damit ich ruhig bleibe? Und das Glas Wasser? Danach bin ich eingeschlafen, er hat irgend etwas in das Wasser getan, soviel ist sicher, aber warum? Warum hat er mich nicht gleich getötet? Wenn ich es mir recht überlege, habe ich gar keine Lust, die Antwort auf diese Fragen zu erfahren.

»Elise?«

Hélène! Ich habe mich so erschreckt, daß ich mit dem Arm gegen die Wand geschlagen habe, das tut gemein weh. Hélène!

Die richtige?

»Elise! Sie sind da! Oh, mein Gott, wenn Sie wüßten!«

Es ist die richtige, sie stürzt auf mich zu und umarmt mich.

»Paul … er …«

Sie weint so heftig, daß man es für ein Lachen halten könnte. Ich glaube, ich brauche keine weiteren Einzelheiten.

»Er ist tot.«

Ich versuche, die Hand zu heben.

»Er hat sich das Genick gebrochen«, fährt sie atemlos fort.

Und Yvette! Meine Yvette? Mein Herz rast wie wild.

»Yvette liegt im Koma! Als ich wieder zu mir kam, war alles voller Blut, und Tony zog Sie auf die Straße, er zerrte Sie mit sich, er hatte auch den Rollstuhl genommen, und er brachte Sie weg, ich wußte nicht, was ich tun sollte …«

Sie unterbricht sich, um wieder zu Atem zu kommen, sie soll weiterreden. Yvette im Koma …

»Ich habe gleich gemerkt, daß Paul tot ist … Ich habe ein Auto angehalten und die Insassen gebeten, Hilfe zu holen. Dann bin ich Ihnen nachgelaufen und habe Sie hier, in der Forsthütte, gefunden.«

In der Forsthütte? Aber die liegt doch nicht auf dem Weg zur Schule. Na, auch egal! Die Forsthütte, wo der kleine Michael getötet wurde?

»Eben hat er die Hütte verlassen, ist in einen weißen Renault 18 gestiegen und weggefahren. Ich habe die Gelegenheit genutzt, um hereinzukommen. Wir müssen sofort von hier verschwinden!«

Tony Mercier war hier? Er hat mich entführt? Plötzlich überkommt mich ein Unwohlsein, ich werde doch wohl jetzt nicht ohnmächtig werden! Ich möchte Hélène sagen, daß es ein großes Risiko war hierherzukommen, möchte ihr danken, aber ich kann nicht. Ich kann nur die Faust ballen. Ich verstehe nicht, wie sie sich von Paul hat losreißen und an mich denken können. Paul tot … Und Yvette …

Draußen höre ich ein Motorengeräusch.

Hélène. Wo ist Hélène? Sie ist sicher nachsehen gegangen …

Der Motor wird abgestellt.

Schritte.

Jemand betritt das Zimmer.

Kommt leise auf mich zu.

Mein Mund ist so trocken, daß mir die Zunge am Gaumen klebt.

Eine Hand legt sich auf meinen Arm:

»Keine Angst, ich bin da!«

Meine Nackenhaare sträuben sich, denn diese Stimme kenne ich: Es ist die von Yssart, dem falschen Yssart; es ist die Stimme von Tony Mercier, die Stimme des Mörders.

»Keine Bewegung!«

Hélènes Stimme, kräftig und doch leicht zitternd.

»Laß sie, Tony. Zurück!«

»Hélène …«

»Zurück, habe ich gesagt!«

Er gehorcht, das höre ich am Knarren des Holzbodens. Hélène muß bewaffnet sein.

»Warum hast du das getan, Tony? Warum bist du zurückgekommen?«

»Das weißt du genau. Ich mußte Virginie sehen.«

»Du bist vollkommen verrückt! Ich werde Ihnen eine Geschichte erzählen, Elise. Es war einmal ein junger Mann, der einen kleinen Sohn hatte. Im Alter von acht Jahren wurde dieser Junge von zwei völlig ausgeflippten Jugendlichen ermordet. Der Vater ist nicht darüber hinweggekommen und durchgedreht, hat seine Frau verlassen. Er konnte keine kleinen Jungen mehr sehen, die seinem ähnelten, ohne nicht den unwiderstehlichen Drang zu verspüren, sie zerstören zu wollen. Seine zweite Frau hat bemerkt, was los war, und wollte gehen. Er hat ihr den Arm gebrochen. Und dann hat er die Tat wirklich begangen. Er wurde verurteilt. Sie ist nach Paris geflohen, um ein neues Leben anzufangen. Aber ihm gelang die Flucht aus dem psychiatrischen Krankenhaus, und er folgte ihr, um seine Mission zu erfüllen: Töten, immer wieder, immer wieder.«

»Eine schöne Geschichte. Leider entspricht sie nicht der Wahrheit … Und, Elise, was sagst du dazu?« fragt Tony-Yssart mit müder Stimme.

»Elise? Was Sie nicht wissen, Elise, Sie sehen mir sehr ähnlich: Sie haben dieselbe Größe, dieselbe Figur, dieselbe Haarfarbe, sind derselbe Frauentyp. Er hat sich auf sie gestürzt, weil Sie mich in gewisser Weise verkörpern und weil Sie eine enge Bindung zu Virginie haben, und Virginie Bescheid weiß!«

»Du lügst! Sie weiß nichts!«

»Aber doch, natürlich, sie weiß alles. Was glaubst du denn?« Hélène lacht bitter. »Schließlich ist sie meine Tochter …«

»Hélène, leg die Waffe weg …«

»Nie! Ich werde dich verschwinden lassen, Tony, dich beseitigen wie ein gefährliches Tier, denn genau das bist du ja. Ich werde dich töten.«

Nein! Nein, Hélène, tu das nicht! Dazu haben wir kein Recht! Ich hebe den Arm und öffne und schließe frenetisch die Hand.

»Zu spät, Elise, es gibt keine andere Lösung.«

Doch. Wir müssen die Polizei holen. Selbst wenn Mercier verrückt ist, hat er ein Recht auf einen ordentlichen Prozeß. Ich spüre an ihrer Stimme, daß Hélène bereit ist abzudrücken. Was soll ich tun?

Ich höre, wie der Hahn gespannt wird. Ich möchte ›nein‹ schreien.

»Wenn du abdrückst, wirst du Virginie nie Wiedersehen«, ruft Tony.

»Was erzählst du da?«

»Hast du geglaubt, ich würde unvorbereitet hierherkommen? Virginie ist an einem Ort, wo sie nicht entkommen kann. Wenn du mich tötest, wird sie an Hunger, Kälte und Durst sterben. Denn niemand außer mir weiß, wo sie ist. Da sie geknebelt ist, kann sie nicht schreien.«

»Du lügst!« brüllt Hélène.

»Ich habe sie von der Schule abgeholt. Ich habe ihr gesagt, daß ich mit Paul arbeite, und sie hat mir geglaubt. Sie ist mitgegangen. Wenn du mich umbringst, wird sie sterben.«

»Du Schwein! Du wagst es, dein eigenes Kind zu knebeln und zu fesseln!«

»Drück doch ab!« meint Mercier provozierend.

»Wo ist sie?« schreit Hélène.

»An einem kalten Ort, wo sie Angst hat und ganz allein ist. Reicht dir das?«

»Schwein!«

»Wirf die Waffe weg!«

»Niemals!«

Gib nicht nach, Hélène, oder er wird uns beide töten. Und wenn ich mit meinem Rollstuhl auf ihn zufahren würde? Er würde vielleicht stürzen. Ich muß mich konzentrieren, um ihn genau zu lokalisieren.

»Ich werde dich trotzdem töten. Ich glaube, daß du bluffst«, entscheidet Hélène.

»Ruf doch in der Schule an, du wirst ja sehen.«

»Hier gibt es kein Telefon.«

»Da.«

Er wirft ihr etwas zu, vermutlich ein Handy, denn ich höre, wie sie eine Nummer wählt.

»Hallo, hier ist Hélène Fansten, ich werde etwas später kommen, um Virginie abzuholen … Was? Sie haben sie gehen lassen? Aber Sie sind ja total verrückt!«

Ein dumpfes Geräusch, vermutlich hat sie das Telefon zu Boden geworfen.

»Okay, du Schwein, wo ist sie?«

»Wirf die Waffe weg.«

»Ganz bestimmt nicht. Weißt du, was ich machen werde? Ich werde auf deine Beine zielen, dir ein Bein nach dem anderen zerschießen, dann die Arme …«

»Und dann reißt du mir die Augen aus?«

»Hör mir gut zu: Wenn du mir nicht sagst, wo Virginie ist, schieße ich auf Elise, hörst du?«

Was? Also nein, aber …

Ich höre Tony seufzen, dann sagt er müde:

»Bei Benoît Delmare.«

Mein Herz wird bleischwer. Benoît? Mein Benoît? Ich werde langsam wahnsinnig. Was hat Benoît mit der Sache zu tun?

Jemand ergreift meinen Rollstuhl.

»Danke Tony, und adieu …«

Ein ohrenbetäubender Knall. Ein Geräusch nach Sprengstoff und Pulver. Das dumpfe Geräusch eines Körpers, der zu Boden sinkt, ein schmerzerfülltes Stöhnen. Sie hat geschossen! Sie hat trotzdem geschossen!

Ich werde energisch zur Tür geschoben, eisiger Regen schlägt mir ins Gesicht, im Eiltempo geht es über einen holprigen Weg. Sie hat geschossen. Ist er tot? Und Benoît? Woher hatte Tony-Yssart die Schlüssel von Benoîts Wohnung?

Eine Autotür wird geöffnet. Aua, sie schmeißt mich auf den Boden. Klapp-klapp, der Rollstuhl, sie wirft ihn neben mich, er erdrückt mich halb. Sie fährt an wie eine Irre, offenbar hat sie Tonys Wagen genommen, und Yvette, mein Gott, hat denn irgend jemand einen Krankenwagen gerufen? Mercier, der auf dem Holzboden der Forsthütte verblutet, Yvette am Straßenrand und Paul blutüberströmt im Wagen, das ist zuviel für mich, ich fühle mich, als hätte man mir Adrenalin gespritzt, mir ist ganz schwindelig.

Und Benoît …

Vollbremsung. Die Tür wird aufgerissen, der Rollstuhl, klapp-klapp. Sie schnappt mich und wirft mich in den Rollstuhl, unglaublich, wieviel Kraft sie hat, ich liege völlig schief in meinem Stuhl, rutsche weg, doch sie bemerkt es nicht einmal. Sie schiebt mich heftig voran und murmelt ohne Unterlaß: »Du Schwein, alles Schweine, Diebe!« Ich klammere mich mit meiner gesunden Hand fest, wir erreichen einen Gang: Der Aufzug, heftiges, ungeduldiges Hämmern gegen die Kabinenwand. Ich mache mich ganz klein. Falls Virginie etwas zugestoßen ist, gibt es ein Drama … Aber kann es noch schlimmer werden, als es jetzt schon ist?

Das Geräusch des sich bewegenden Aufzugs. Ein Gang. Ich erkenne den Geruch des Gangs, der zu Benoîts Wohnung führt. Das hätte ich nie gedacht, daß man den Geruch eines Gangs wiedererkennt. Wie oft bin ich lachend über diesen Gang gelaufen? Ein dicker Kloß in meinem Hals, ich kann kaum mehr atmen. Stoß. Geräusche, die von einem Schlüsselbund kommen. Sie hat die Schlüssel zu Benoîts Wohnung. Aber wo, um Himmels willen, hat sie die her? Die Tür öffnet sich mit dumpfem Quietschen. Es ist kalt. Die Luft riecht muffig. »Virginie? Bist du da, mein Liebling?«

Keine Antwort. Sie läßt mich mitten im Wohnraum stehen und läuft durch alle Zimmer. Die Wohnung ist nicht groß: Ein Schlafzimmer, ein Wohnraum, eine Küche, ein Badezimmer. Ein Schlafzimmer mit einem großen Bett. Ich habe solche Magenschmerzen, daß ich mich übergeben möchte. Es riecht muffig, aber auch nach etwas anderem. Es stinkt. Ein Geruch der Verwesung. Nach verwestem Fleisch.

»Sie ist nicht da, er hat gelogen!«

Was stinkt hier so? Das grauenvolle Bild von Benoîts verwestem Körper auf dem Bett taucht vor meinen Augen auf. Nein, Benoît wurde beerdigt, das hat Yvette mir gesagt. Und wenn … nein, dieser Gedanke ist zu grauenvoll, ich will das nicht denken, aber trotzdem … die Kinder … die entnommenen Organe … wenn der Mörder sie hier versteckt hätte … in dieser leerstehenden Wohnung?

»Er hat gelogen!« brüllt Hélène und schleudert irgend etwas an die Wand.

Zersplitterndes Glas. Ist es das Foto, das Benoît in der Badeanstalt zeigt, wie er lachend aus dem Wasser steigt?

»Ich muß wieder zurück.«

Nein, du mußt die Polizei anrufen! Peng! Träume ich, oder ist die Tür ins Schloß gefallen? Das Geräusch von Absätzen auf dem Gang. Ich fahre vorwärts und stoße gegen etwas Hartes. Ich hebe den Arm, taste eine glatte Fläche ab: das Büffet? Hélène, du kannst mich doch nicht einfach hier stehenlassen, verdammt noch mal!

Totenstille. Sie ist weg. Ich bin allein in Benoîts Wohnung. Mit seinem Geist. Mit dem Geist unserer Liebe. Allein mit dem Geruch nach verwestem Fleisch. Sie wird zu der Forsthütte zurückkehren und diesem armen Irren den Garaus machen, und ich muß hier warten, im Dunkeln, im Staub, mit diesem verwesten, stinkenden Zeug. Dazu hast du kein Recht, Hélène, du hast kein Recht, das zu tun!

Ich kenne die Wohnung in- und auswendig. Warum sollte es mir nicht gelingen, die Tür zu öffnen? Wenn ich mich seitlich drehe und die Klinke herunterdrücken kann … Zuerst muß ich mich orientieren. Ich fahre vorwärts und stoße an den Couchtisch, rückwärts fahre ich gegen das Büffet. Gut, ich muß mich also nach rechts drehen. Da, jetzt fühle ich mit der Hand das Holz der Tür. Ungeschickt strecke ich den Arm aus, fahre blind über die glatte Fläche, ah, die Klinke, ich habe sie, umklammere sie fest mit der Hand. Nichts, ich versuche es noch einmal. Nichts. Das Miststück hat abgeschlossen! Was soll ich jetzt machen? Ich will nicht hierbleiben. Es ist, als hätte man mich in Benoîts eisiges Grab gestoßen.

Ich muß hier raus. Den Rollstuhl so drehen, daß ich die Tür vor mir habe. Ich drücke auf den Knopf und fahre gegen die Tür, immer wieder, immer wieder gegen diese verfluchte Tür, bis das ganze Haus zusammenläuft. Los, kommt alle raus! Bumm! Ich werde die Tür einschlagen.

Sie öffnet sich.

Mein Magen krampft sich zusammen.

Leise schließt sie sich wieder.

Hélène? Ein dumpfes Geräusch, als würde sich jemand hinsetzen. Bewegt sich zu meiner Linken etwas? Ich atme zu laut, so kann ich nichts hören.

Man will mich zum Wahnsinn treiben. Ich wende, fahre im Zimmer herum, wer versteckt sich in der Dunkelheit? Rumms, das war der Tisch. Ich fahre rückwärts, und dann spüre ich es. Beine. Beine in einer Hose. Auf dem Sofa sitzt jemand. Ich schreie innerlich, fahre noch weiter rückwärts. Noch ein Paar Beine, ohne Hose, Beine in Nylonstrümpfen. Das darf nicht wahr sein. Das kann nicht wahr sein. Ich fahre weiter am Sofa entlang zurück und spüre wieder Beine. Dünnere. Kürzere.

Sie sitzen alle drei auf dem Sofa. Und ich weiß sofort, wer es ist, o ja, ich weiß, es sind Paul, Yvette und Virginie. Ich stelle mir vor, wie sie dasitzen, ihre leeren Augen auf mich gerichtet, tote, offene Augen, die ins Nichts starren. Aber wie ist es möglich, daß Hélène sie nicht gesehen hat?

Atemgeräusche. Irgend jemand atmet. Ich nähere mich den Sitzenden. Es kostet mich übermenschliche Kraft, aber ich hebe den Arm und fasse sie an. Ich berühre sie. Taste über die leblosen Körper. Der erste regt sich nicht. Er ist kalt. Ein klebriges Hemd. Ich streiche über ein Krokodil auf der linken Seite. Paul. Es ist Paul, und er ist tot. Der zweite Körper bewegt sich auch nicht, ist aber noch warm. Ich spüre eine Wolljacke, Yvette. Ohnmächtig. Der dritte Körper ist auch warm. Ich strecke die Hand aus und berühre die Brust. Schallendes Gelächter:

»Bravo, Elise!«

Mir wird schwarz vor Augen.