Es hört nicht auf zu regnen. Ein typischer Sommerregen: kraftvoll, ausgelassen und stürmisch wie ein junger Hund. Normalerweise mag Yvette es nicht, wenn es regnet, doch momentan ist sie sehr beschäftigt. Sie überlegt, was sie für Jean Guillaume kochen soll, den sie für morgen abend wieder eingeladen hat. Nach dem gestrigen Gewaltausbruch ist wieder Ruhe eingekehrt. Eine heimtückische, beängstigende Ruhe. Ich habe das Gefühl, im Auge eines Zyklons zu sitzen. Als ich aufwachte, galt mein erster Gedanke Mathieu Golbert. Und während Yvette mich wusch und ankleidete, habe ich die ganze Zeit krampfhaft überlegt, was ich tun könnte, doch ohne Ergebnis. Es klingelt an der Haustür. Ich habe das Gefühl, in einer Boulevardkomödie mitzuspielen: Ununterbrochen treten Personen auf oder verlassen die Bühne. Ich höre, wie Yvette ruft:
»Oh, mein Gott! Wie sehen Sie denn aus! Tut es sehr weh?«
Stéphane: »Nein, nein, es geht … ist Elise zu Hause?«
Nein, sie ist zum Ballettunterricht gegangen, sage ich im stillen.
»Es ist Monsieur Migoin, Mademoiselle.«
Er kommt schweren Schrittes auf mich zu. Ich trage einen Morgenmantel und die Sonnenbrille. Er bleibt stehen. Ich höre ihn atmen. Yvette ist hinausgegangen. Wir sind allein, nur der Regen ist zu hören.
»Elise …«
Seine Stimme klingt merkwürdig, ein wenig heiser, kindlich.
»Es tut mir entsetzlich leid. Wenn ich den Kerl nur kommen gehört hätte … Sie müssen große Angst gehabt haben …«
Er nimmt meine Hand und drückt sie mit seinen großen Pranken, die ich mir rot und behaart vorstelle. Mein Magen krampft sich zusammen, als ich daran denke, daß es möglicherweise diese Hände sind, die vier Kinder getötet haben.
»Sie müssen denken, ich sei ein bißchen verrückt …«
Zeigefinger.
»Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Ich … seit ich Ihnen begegnet bin, denke ich nur noch an Sie.«
Er kennt mich doch überhaupt nicht, weiß weder, wie meine Stimme klingt, noch, was für Ansichten ich habe. Ist er in eine Puppe verliebt oder was?
»Sie wirken so sanft.«
Ich? Ich bin eine Giftnudel. Gehässig, jähzornig, eine keifende Xanthippe. Benoît pflegte immer zu sagen, ich wäre der schwierigste Mensch der gesamten nördlichen Hemisphäre.
»Ich liebe Ihr Gesicht, Elise, Ihre Lippen, Ihren Hals, Ihre Schultern … Ich bin unglücklich, ich habe das Gefühl, in einem Alptraum zu leben, ich verstehe nicht, was in mich gefahren ist.«
Er holt tief Luft.
»Ich kann nur hoffen, daß Sie meine Gefühle erwidern …«
Kein Zeigefinger. Er redet Unsinn, kein Zeigefinger.
»… aber ich möchte, daß Sie wissen, daß ich Ihr Freund bin. Wirklich Ihr Freund. Ich werde es nicht zulassen, daß man Ihnen etwas antut.«
Nur Gerede … Und gestern …
»Catherine ist da!« unterbricht Yvette prosaisch.
Stéphane steht hastig auf.
»Bis bald, Elise. Vergessen Sie nicht, was ich Ihnen gesagt habe. Oh, guten Tag, Cathy!«
»Hallo, Steph! Oh … Sie sehen ganz schön mitgenommen aus …«
»Nein, halb so wild, es geht schon.«
»Nehmen Sie Sonntag trotzdem am Turnier teil?«
»Bestimmt. Ich muß los, ich bin schon spät dran, auf Wiedersehen.«
Turnier? Ach ja: Er spielt Tennis. Ich wußte nicht, daß Catherine die Große und er sich kennen. Sie stellt meinen Rollstuhl nach hinten und fängt an, meine Knie zu massieren.
»Ich wußte gar nicht, daß Migoin ein Freund von Elise ist«, ruft sie in Richtung Küche.
»Wir haben ihn durch Paul und Hélène Fansten kennengelernt. Wirklich ein netter Kerl.«
»Was ist ihm denn passiert?«
»Wie? Haben Sie etwa nicht davon gehört?«
Getuschel: Catherine wird über die gestrigen Ereignisse in Kenntnis gesetzt. Daraufhin vergißt sie meine Kniescheiben, und ich kann in Ruhe nachdenken.
Wie kommt es zum Beispiel, daß, wenn Virginie nicht da ist, auch nichts passiert? Nein, nein, ich will der Kleinen keine dämonischen Kräfte zuschreiben, aber in welcher Verbindung steht sie mit der ›Bestie der Wälder‹? Hätte ein Kind die Kraft, ein anderes Kind umzubringen? Stop. Ich denke schon wieder in die falsche Richtung. Ich habe noch von keinem siebenjährigen Kind gehört, das ein ›Serienmörder‹ sein soll. Also, was stimmt nicht mit Virginie? Denn ich spüre ganz deutlich, daß da was nicht stimmt. Irgend etwas ist faul. Sie ist zu steif, zu artig, ihre Stimme zu ruhig. Man könnte jetzt einwenden, kein Wunder bei dem, was die Kleine mitansehen mußte … oder gar nicht mitangesehen hat, ich weiß überhaupt nichts mehr. Aua, Catherine die Große ist dabei, mir die linke Schulter auszukugeln. Ich muß unbedingt Yvettes Aufmerksamkeit erregen und ihr begreiflich machen, daß ich dringend Yssart sprechen muß. Sobald Catherine gegangen ist, werde ich es versuchen.
Catherine ist gegangen, aber Yvette kümmert sich offensichtlich nicht um mich: Für Monsieur Guillaume bringt sie das Haus auf Hochglanz. Man könnte meinen, der französische Präsident höchstpersönlich statte uns einen Besuch ab. Von Zeit zu Zeit hebe ich den Zeigefinger, wenn ich höre, daß sie in meiner Nähe ist, doch vergeblich: Sie muß mit der Nase förmlich am Staub kleben. Doch was noch schlimmer ist, sie hat mir eine Literatur-Kassette eingelegt, die Hélène mir aus der Stadtbücherei – nein, Entschuldigung, der städtischen Mediathek – mitgebracht hat, und nun höre ich, wie jemand mit begeisterter Stimme Balzac vorträgt. Das mag zwar gut gemeint sein, aber erstens hasse ich es, wenn man mir vorliest, und zweitens kenne ich das Buch auswendig, weil ich es schon mehrmals gelesen habe. Aber was soll’s … ich kann mich ja nicht dauernd beklagen.
Ah! Die erste Seite der Kassette ist zu Ende. Yvette wird kommen und sie umdrehen. Ich höre Schritte, schnell, Zeigefinger, Zeigefinger, Zeigefinger.
»Ja, ja, ich komm ja schon.«
Nein, Yvette, nein, Zeigefinger, Zeigefinger, Zeigefinger.
»Also wirklich, einen Augenblick Geduld, wenn Sie ungeduldig sind, können Sie richtig unausstehlich sein!«
Mist!
Die Worte Balzacs dröhnen mir wieder aus dem Rekorder entgegen, ich könnte ihn mühelos verstehen, wenn ich in der hintersten Ecke im Garten säße. Und Yvette ist, vor sich hinmurmelnd, auch wieder gegangen. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als einen geeigneten Moment abzuwarten.
Ich wache erschreckt auf. Ich muß beim Klang der begeisterten Stimme eingenickt sein. Wo ist Yvette? Ich lausche, versuche herauszufinden, wo sie sich im Haus aufhält. Ah, sie ist draußen. Sie spricht mit jemandem. Ich erkenne Hélènes Stimme, die ›auf Wiedersehen‹ sagt. Yvette kommt herein.
»Sie haben Glück, Hélène hat Ihnen ein paar neue Kassetten vorbeigebracht.«
Super. Ich hoffe, es ist die Gesamtausgabe in dreihundertsiebzig Bänden.
»Wollen Sie weiterhören?«
Kein Zeigefinger.
»Gut, wie Sie möchten. Wollen Sie etwas anderes?«
Zeigefinger.
»Haben Sie Durst?«
Kein Zeigefinger.
»Hunger?«
Kein Zeigefinger.
»Müssen Sie mal?«
Kein Zeigefinger.
»Wollten Sie Hélène sehen?«
Kein Zeigefinger. Ich spüre, daß Yvette ungeduldig wird.
»Jemand anderen?«
Zeigefinger.
»Virginie?«
Kein Zeigefinger.
»Hat es etwas mit dem gestrigen Vorfall zu tun?«
Zeigefinger.
»Also die Polizei?«
Zeigefinger. Wunderbare Yvette. Sobald ich wieder gesund bin, werde ich dein Gehalt erhöhen, werde ich dir alles vererben, werde ich …
»Wollen Sie, daß ich diesen Wichtigtuer von Kommissar anrufe?«
Zeigefinger.
»Nun gut, wenn ich Ihnen damit eine Freude mache.«
Sie geht zum Telefon. Gut. Alles wird gut. Ich habe die Situation im Griff.
»Der Kommissar ist in Paris und wird vor Montag nicht zurückkommen? Oh, ich habe ganz vergessen, daß ich das Kaninchen auf dem Herd stehen habe!«
Sie hastet in die Küche. Bleibt nur zu hoffen, daß Yssart nicht zu spät kommt beziehungsweise daß Virginie mir keinen Unsinn erzählt hat.
Es klingelt. Ich werde ein Dienstmädchen einstellen, deren einzige Aufgabe es sein wird, die Haustür zu öffnen und zu melden, wer gekommen ist.
Diesmal ist es Claude Mondini. Sie küßt mich beiläufig auf beide Wangen, sie duftet nach Parfüm.
»Meine arme Elise! Glücklicherweise ist alles noch mal gutgegangen! Ich habe ja immer gesagt, daß der Wald gefährlich ist. Ich habe den Kindern verboten, dort zu spielen. Ich soll Sie auch von Jean-Mi ganz herzlich grüßen. Hmm, wie das hier duftet! Was kochen Sie denn Schönes, Yvette?«
»Kaninchen in Senfsauce.«
»Es riecht einfach köstlich! Nun, meine arme Elise, geht es Ihnen gut?«
Zeigefinger.
»Ich kann nicht lange bleiben, ich muß noch einiges für den Kanuausflug mit den Kindern aus La Tourbière am Sonntag organisieren. Ich weiß, Elise, daß Sie kein leichtes Leben haben, aber wenn Sie diese armen Kinder sehen könnten … sie stammen aus Verhältnissen, die alles andere als geordnet sind … Nun gut, ich muß wieder los … Yvette, wenn Sie irgend etwas brauchen sollten, rufen Sie uns einfach kurz an, nicht wahr?«
»Ja, und nochmals vielen Dank.«
»Auf Wiedersehen, Elise, bis bald!«
Nachdem sie gegangen ist, hinterläßt ihr Parfüm einen Hauch von Frühling im Raum. Ich bin etwas verwirrt: Ist sie drei oder vier Minuten geblieben? Doch ich bin trotzdem erleichtert, denn insgeheim hatte ich befürchtet, daß sie Yvette davon überzeugt, mich am Sonntag mit in die Messe zu nehmen, damit ich trotz der schlimmen Geschehnisse die Religion nicht vergesse.
Sonntagmorgens lagen Benoît und ich normalerweise gemütlich bis elf Uhr im Bett und quatschten …
Benoît, du fehlst mir.
Fünf Tage Ruhe. Es ist wunderbar. Niemand will mich piesacken, mir weh tun oder mich umbringen. Zwei Stunden Balzac täglich, wunderschönes Wetter, leckere Erdbeeren und Raybaud, der mich lobt. Es scheint so, daß man, seit ich den Zeigefinger bewege, spüren kann, wie meine linke Hand zittert. Oh, mein Gott, wenn es doch nur wahr wäre! Wenn ich sie doch nur wieder bewegen könnte, würde ich lernen, mit links zu schreiben, ich könnte auf Wiedersehen und guten Tag sagen, ich könnte viele Zeichen machen; das V für victory, den Daumen nach unten halten, um anzuzeigen, daß ich unzufrieden bin, den Daumen nach oben halten, wenn ich mit etwas einverstanden bin, den Stinkefinger zeigen, das Zeichen, wenn man Pech hatte, die Finger kreuzen, um Unglück abzuwenden, eben alles, was man mit einer Hand machen kann! Ich übe wie verrückt. Ich werde es schaffen, diese blöde Hand zu bewegen und nicht nur das, ich werde Stück für Stück die Kontrolle über meinen Körper zurückgewinnen, das schwöre ich, bis ich schließlich aufstehen und diesen verdammten Kassettenrecorder ausmachen kann!
Gott hat mein Flehen erhört, denn es tritt Stille ein. Ach ja, es ist 13 Uhr, Yvette will die Nachrichten hören. Blablabla Außenpolitik … Bekämpfung des Terrorismus … Streik der Bauern … Der Premierminister … Kriege hier und Kriege da … Hochwasser im Südosten, das Ende der Trockenperiode, eine Spur im Mordfall des kleinen Michael Massenet, die Polizei sucht einen Zeugen … Was!?
»Haben Sie das gehört, Elise?« ruft Yvette ganz aufgeregt.
Zeigefinger.
»Ich muß sofort Hélène anrufen. Vielleicht weiß sie etwas.«
Ich lausche angestrengt, aber ich kann nichts verstehen. Die Wettervorhersage: Das sonnige Wetter ist nicht von Dauer, der Herbst wird stürmisch und der Winter früh Einzug halten, Schluß mit der schönen Zeit, bald sind die Ferien vorbei. Yvette kommt zurück.
»Sie hat es auch gehört, aber sie weiß nichts. Sie wirkte ziemlich durcheinander. Na, der Kommissar wird ihr mehr dazu sagen, schließlich betrifft es sie ja auch … Jetzt, wo sie halbtags arbeitet, kann sie auch nicht mehr die ganze Zeit auf Virginie aufpassen.«
Eine Spur … Ich hasse es, Yssart zu begegnen. Arme Hélène! Sie ist so zurückhaltend, daß man oft vergißt, was sie und ihre Familie schon alles durchgemacht haben. Weder sie noch Paul sprechen jemals von Renaud, und Yvette hat mir erzählt, daß sie seine ganzen Sachen der katholischen Kirche gespendet haben. Anscheinend steht ein Foto von ihm in ihrem Eßzimmer. Ein hübscher kleiner Junge mit braunem Haar und blauen Augen, abstehenden Ohren (behauptet Yvette) und Sommersprossen. Er hat überhaupt keine Ähnlichkeit mit Virginie. Sie ist blond, trägt einen Pagenkopf und hat braune Augen. Yvette sagt, sie sei ein bezauberndes Mädchen, ›ein richtiges Püppchen‹, doch ich vermute, sie ist in diesem Fall voreingenommen.
Yvette räumt den Tisch ab, wobei sie ununterbrochen über die Morde, den Wetterumschwung, die Steuern, die Grausamkeiten des Lebens und die Gleichgültigkeit Gottes wettert. Als sie aus der Küche zurückkommt, meint sie, das Wetter sei viel zu schön, um im Haus zu bleiben. Sie hat Hélène angerufen und gesagt, sie wolle mit uns, mit Virginie und mir, spazierengehen. Hélène war einverstanden. Yvette hatte sogar den Eindruck, daß es ihr sehr recht sei, mal allein zu sein.
Virginie hüpft neben dem Rollstuhl her. Yvette hat einen Bogen um den Wald gemacht, und nun schlendern wir über den großen freien Platz gleich neben dem Einkaufszentrum. Ich erinnere mich, daß es dort Bänke und ein paar Sandwich-Stände gibt. Ich höre das Geräusch von Rollerskates und Skateboards. Kinder fahren mit Volldampf über den Platz. An einer anderen Stelle hört man das aufdringliche Geräusch eines Balls. Dann aufgeregt juchzende Kinder. Ich erinnere mich, daß sich in der Mitte des Platzes eine große, viereckige, gußeiserne Fontäne befindet, in die die Kleinen alles werfen, was mehr oder weniger gut im Wasser schwimmt.
Die Fontäne sprudelt gerade, ich höre das Rauschen des Wasserstrahls. Wir halten an. Yvette stößt einen Seufzer der Erleichterung aus, ich nehme an, sie hat sich hingesetzt.
»Virginie, bleib bitte in der Nähe!«
»Ja, ja, ich geh zum Brunnen, spielen.«
Einen Moment lang sagt Yvette nichts. Wir sitzen beide ruhig da, ich lausche dem lebhaften Stimmengewirr und Yvette hängt ihren Gedanken nach. Virginies zartes Stimmchen reißt mich aus meiner Versunkenheit.
»Dürfen wir uns etwas Süßes kaufen?«
»Von Schokolade bekommt man schlechte Zähne.«
»Das ist keine Schokolade, das sind Kaubonbons.«
»Das ist das gleiche. Und wie heißt du, mein Kleiner? Hat es dir die Sprache verschlagen?«
»Mama kauft mir immer etwas. Er heißt Mathieu.«
Das darf nicht wahr sein!
»Na gut, da hast du fünf Francs, aber verlier das Geld nicht. Und wo ist deine Mama, Mathieu?« erkundigt sich Yvette.
»Sie ist da vorne, in dem Salon.«
»Seine Mama hat einen Friseursalon. Er ist mit seinem großen Bruder hier«, erklärt Virginie.
»Ach so. Na, dann geht mal, kommt aber sofort zurück und sprecht mit niemandem!«
Das ist er, das ist Mathieu Golbert. Was hat Virginie mit ihm zu schaffen? Oh, mein Gott! Führt sie etwa … dem Mörder die Kinder zu? Nein, ich darf so etwas nicht denken. Hat Yvette ein Auge auf die beiden? Ist es normal, daß sie so lange brauchen? Ich höre das Rascheln von Papier und schließe daraus, daß Yvette in ihrer Zeitschrift liest. Du solltest jetzt wirklich nicht lesen, Yvette!
»Mir ist wirklich schleierhaft, warum ein so gutaussehender junger Mann wie Prinz Albert noch immer nicht verheiratet ist …«
Yvette! Laß Prinz Albert! Gib auf die Kinder acht!
»Es ist doch nicht zu fassen, Sport, nichts als Sport! Egal, welche Zeitschrift man aufschlägt, seitenweise Sportberichte …«
Yvette, liebste Yvette, hör auf, in dieser Zeitschrift zu blättern, und sieh bitte mal nach, was die Kinder treiben!
»Ich hab fünf gehabt!«
Virginie! Gott sei Dank!
»Paß bloß auf, wenn du dauernd Süßigkeiten ißt, bekommst du später schlechte Zähne.«
»Der Zahnarzt ist sehr nett.«
»Das ist kein Grund. Ein Besuch beim Zahnarzt kostet viel Geld. Und wo ist dein kleiner Freund?«
»Er ist zu seinem Bruder zurück. Er mußte nach Hause.«
»Ach so. Na, willst du dich zu mir setzen? Ich gebe dir die Seite mit den Comics, wenn du möchtest.«
»Au ja.«
Ich kann es nicht ändern, ich habe plötzlich ein ungutes Gefühl. Daß wir Mathieu getroffen haben, scheint mir ein merkwürdiger Zufall zu sein. Und seine plötzliche Abwesenheit beunruhigt mich ebenso.
»Ist der Platz noch frei?« erkundigt sich höflich die Stimme einer Dame mit nordfranzösischem Akzent.
»Aber natürlich. Setzen Sie sich, Rutsch ein bißchen, Virg’.«
Virginie sitzt nun ganz nah an meinem Rollstuhl. Yvette und die Dame kommen ins Gespräch.
»Elise, hörst du mich?« flüstert Virginie plötzlich.
Zeigefinger.
»Ich habe Angst um Mathieu.«
Ich auch.
»Ich glaube, er wird bald tot sein.«
O nein, nein! Wenn ich dieses Kind doch nur packen, es schütteln und ihm sein Geheimnis entlocken könnte …
»Ich habe sie gesehen, die Bestie. In der Nähe des Parkplatzes.«
Mich überkommt ein seltsames Gefühl, mir wird ganz schwer ums Herz. Und mein blödes Gesicht, das keine Miene verziehen, und mein blöder Mund, der nicht schreien kann! Ich muß merkwürdig ausgesehen haben, denn Yvette unterbricht ihre Unterhaltung:
»Ist etwas nicht in Ordnung?«
Zeigefinger. Ja, so ist es.
»Wollen Sie nach Hause zurück?«
Kein Zeigefinger.
»Wollen Sie noch etwas spazierengefahren werden?«
Ja, das ist eine gute Idee. Gehen wir spazieren, vielleicht taucht Mathieu ja wieder auf. Ich hebe den Zeigefinger.
»Nun gut«, seufzt Yvette resigniert. »Gehen wir. Auf Wiedersehen«, meint sie zu der Dame aus Nordfrankreich, die mich sicher anstarrt.
Wir setzen uns in Bewegung. Virginie trällert vor sich hin. Erst nach einer Weile wird mir bewußt, was sie da singt. Es war einmal ein kleines Schiff. Sie ist gerade bei der Stelle, wo die Gischt das Boot verschlingt. Ein böses Omen.
Eine Weile gehen wir so dahin; an der lieblosen, ruppigen Art, mit der Yvette den Rollstuhl schiebt, merke ich, daß sie schlecht gelaunt ist. Ein paar Kinder kommen angelaufen und sprechen mit Virginie. Wir müssen ganz in der Nähe des Springbrunnens sein, denn das Rauschen des Wassers ist deutlich zu hören. Ich glaube, ich habe bloß eine blühende Phantasie. Plötzlich ruft Yvette:
»Virginie! Komm mal her!«
»Was ist?«
»Wer ist der Junge, mit dem du gerade gesprochen hast? Der große mit der roten Mütze?«
»Welchen meinst du denn?«
»He, Sie, junger Mann!« ruft Yvette. »Ja, Sie meine ich! Sie mit der roten Mütze!«
Sie beugt sich zu mir herab und sagt mir ins Ohr:
»Man kann nie wissen, ob er nicht einer dieser Dealer ist …«
Unter anderen Umständen hätte ich sicher gelacht.
»Ja?«
»Was wollten Sie von Virginie?«
»Ich wollte nur wissen, ob sie Mathieu gesehen hat, meinen kleinen Bruder …«
Ich spüre, wie das Unglück über uns hereinbricht.
»Aber ich dachte, er sei bei Ihnen!« wundert sich Yvette.
»Nein, er wollte mit Virg’ Süßigkeiten kaufen gehen, und das dauerte und dauerte. Ich weiß nicht, wo sich der Blödmann rumtreibt, aber …«
»Hören Sie, ich will Sie ja nicht unnötig aufregen, aber er hat Virginie gesagt, daß er zu Ihnen zurückgeht.«
»Hat er das gesagt, Virg’?«
»Ja, er wollte keinen Ärger kriegen.«
»Mist … wenn ich den zu fassen kriege …«
»Da vorne ist ein Polizist«, meint Yvette nervös, »den können wir ja mal fragen.«
»Nicht nötig, der hat doch sicher Besseres zu tun!«
»Was ist los?« fragt eine Stimme mit unüberhörbarem Pariser Akzent. Das muß der Polizist sein.
Ein entsetzter Aufschrei. Direkt hinter uns. Mir platzt fast das Trommelfell.
»Was ist passiert?« schreit Yvette außer sich.
Mein Herz rast. Ein zweiter Aufschrei. Es ist eine Frau. Der durchdringende Ton einer Trillerpfeife, hastige Schritte.
»Virginie, bleib hier!«
Die Leute laufen zusammen, erstaunte Rufe werden laut.
»Nein, du bleibst jetzt hier und gibst mir deine Hand!« wettert Yvette.
Um uns herum herrscht ein Stimmengewirr; ich habe das Gefühl, in einen Orkan aus Stimmen geraten, in einem Ozean aus Geräuschen gekentert zu sein. Pfiffe einer Trillerpfeife, Sirenengeheul eines Krankenwagens, Polizeisirenen, mein Herz pulsiert in meinen Schläfen.
»Gehen Sie weiter, machen Sie doch bitte Platz …«
»Was ist passiert?«
»Ich weiß auch nicht mehr als Sie. Treten Sie zur Seite.«
Man murmelt sich Entsetzliches zu:
»Sie haben anscheinend einen Toten gefunden.«
»Drüben auf dem Parkplatz.«
»Eine Frau hat ihn entdeckt.«
»Es ist ein Kind.«
»Entschuldigen Sie, Monsieur, können Sie mir sagen, was passiert ist«, erkundigt sich Yvette aufgeregt.
»Man hat die Leiche eines Kindes auf dem Parkplatz gefunden.«
»O mein Gott! Wissen Sie … weiß man, wer es ist?«
»Nein, ich glaub nicht.«
Ein gellender Schrei ertönt. Alle verstummen. Die Stimme eines entsetzten Jugendlichen:
»Mathieu! Nein! Mathieu! Nein, verfluchter Mist!«
Ich höre ein leises Schniefen. Virginie weint.
»Ach, wein nicht, mein Liebling! O mein Gott, es ist so schrecklich! Oh, Elise, haben Sie das gehört?«
Zeigefinger. Ich habe es so gut verstanden, daß ich das Gefühl habe, mich gleich übergeben zu müssen. Das kann doch nicht wahr sein, das ist bestimmt ein Traum, eine Halluzination. Mathieu kann nicht tot sein.
»Die Polizei nimmt Mathieus Bruder mit«, meint Yvette zu mir. »Der arme Junge, der arme Junge …«
Eine aufgebrachte Männerstimme brüllt:
»Los, gehen Sie weiter, hier gibt es nichts zu sehen! Machen Sie Platz!«
Dem Geräuschpegel und den vielen Menschen nach zu schließen könnte man meinen, man sei auf einem Volksfest. Ich stelle mir einen kleinen, leblosen Körper vor, der auf einer Bahre liegt, einen kleinen, massakrierten Körper … Virginie weint noch immer leise vor sich hin.
»Wir müssen sagen, was wir wissen«, beschließt Yvette.
Wir setzen uns in Bewegung. Unterwegs rempeln wir Leute an, Yvette entschuldigt sich fortlaufend, Virginie schluchzt. Yvette bahnt sich mit dem Rollstuhl unnachgiebig ihren Weg durch die Menge. Sie zieht die weinende Virginie hinter sich her und läßt sich auch durch Beschimpfungen und spöttische Bemerkungen nicht aufhalten.
»Hallo, Sie, Herr Polizist!«
»Ja? Ich bin beschäftigt.«
»Die Kleine hat kurz vorher noch mit ihm gespielt.«
»Wen meinen Sie?«
»Nun ja, das … ähm, das Opfer.«
»Woher wissen Sie, wer das Opfer ist?«
»Das habe ich doch schon gesagt, wir kannten ihn. Er heißt Mathieu. Sein großer Bruder sitzt da vorne im Polizeiwagen.«
»Kommen Sie mit. Herrschaften, machen Sie Platz, lassen Sie die Dame passieren. Nein, Monsieur, nein, das geht sehr wohl, treten Sie sofort zurück …«
Wir kommen durch.
»Diese Dame sagt, daß die Kleine und das Opfer kurz zuvor noch zusammen gespielt haben.«
Eine junge, männliche Stimme:
»Ah so? Warten Sie, kommen Sie hier entlang. Also, meine Kleine, wie heißt du denn?«
»Vir … gi … nie.«
»Und warum weinst du?«
Sie stammelt:
»Mama …«
»Ich glaube, das ist der Schock«, schaltet sich Yvette ein.
»Du hast also noch vor kurzem mit Mathieu gespielt?«
»Sie sind zusammen Bonbons kaufen gegangen, und sie ist allein zurückgekommen. Und weder sein Bruder noch wir hatten ihn seitdem gesehen«, antwortet Yvette an Virginies Stelle.
»Ihr habt also Bonbons gekauft?«
»Ja …«, schluchzt Virginie.
»Und Mathieu, wo ist er danach hingegangen? Hat er mit jemandem gesprochen?«
»Ich weiß nicht. Er hat gesagt, daß er zu seinem großen Bruder geht.«
»Du hast nicht gesehen, ob er mit jemandem gesprochen hat? Ich meine, mit einem Erwachsenen?«
»Nein.«
Kleine, elende Lügnerin. Du hast den Mörder gesehen, du hast mir gesagt, daß du ihn gesehen hast, aber du sagst nichts. Warum, warum?!
»Gut, hör mal … Wenn dir noch etwas einfällt, sagst du es deiner Oma.«
»Das ist nicht meine Oma, das ist Elises Dienstmädchen.«
»Ich bin Mademoiselle Andriolis Gesellschafterin«, korrigiert Yvette gekränkt.
»Mademoiselle Andrioli, das sind wohl Sie?« fragt mich der Inspektor.
»Sie kann Ihnen nicht antworten, sie hatte einen sehr schweren Unfall.«
»Aha. Entschuldigen Sie. Gut. Ich muß Ihre Personalien aufnehmen.«
»Yvette Holzinski, Chemin des Carmes 2 in Boissy. Mademoiselle Elise Andrioli, gleiche Adresse. Die Kleine heißt Virginie Fansten, Avenue Charles-de-Gaulle 14, Stadtteil Les Merisiers.«
»O.k. Hier haben Sie meine Karte. Ich bin Inspektor Gassin. Florent Gassin. Sie müssen vorbeikommen, damit wir Ihre Aussage zu Protokoll nehmen können.«
»Wir kennen bereits Kommissar Yssart.«
»Ach? Der ist in Paris. Entschuldigen Sie, ich muß gehen. Also, hast du verstanden, Virginie? Wenn dir noch etwas einfällt, rufst du mich an. Es ist sehr wichtig …«
Virginie zieht wortlos die Nase hoch. Inspektor Gassin verabschiedet sich. Yvette macht sich wieder mit mir auf den Weg, wobei sie mir zuflüstert: »Sie haben den Leichnam auf einer Bahre abtransportiert. Er steckte in einem Plastiksack, genau wie man das im Fernsehen immer sieht. Es war schrecklich. Hoffentlich hat Virginie das nicht mitbekommen.«
Auf dem Rückweg sind wir alle traurig gestimmt. Keiner sagt ein Wort. Ich bin traurig, schrecklich traurig und wie benommen. Wenn ich mir vorstelle, daß man Mathieu vielleicht hätte retten können, wenn Virginie nur rechtzeitig etwas gesagt hätte … Wie sie geweint hat! Das arme Kind ist völlig fassungslos. Vorhin war ich unheimlich wütend auf sie. Jetzt weiß ich nicht, was ich denken soll. Ich mache mir Sorgen um sie. Mathieu ist ermordet worden. Wie sie es mir gesagt hat. Und wenn sie ganz einfach die Gabe hat, Dinge vorherzusehen?
Es ist kalt im Wohnzimmer. Am Abend hat es sich stark abgekühlt. Yvette hat Virginie nach Hause gebracht und anschließend angefangen zu bügeln. Dabei unterhält sie mich.
»Die armen Fanstens, das war vielleicht ein Schock für sie! Sie denken vermutlich, daß Renauds Mörder ganz in ihrer Nähe ist. Und Virginie konnte gar nicht mehr aufhören zu weinen! Es war schrecklich. Mir wäre es lieber gewesen, wenn Paul zu Hause gewesen wäre, aber er war noch bei einem Kunden oder was weiß ich. Auf dem Heimweg habe ich Stéphane Migoin getroffen. Den Verband hat man ihm schon wieder abgenommen. Ich soll Sie von ihm grüßen. Er hatte es eilig, er mußte auf eine Baustelle.«
Stimmt, er ist ja im Baugewerbe beschäftigt. Wenn ich mich recht erinnere, hat er Paul über die Bank kennengelernt. Ja, so war es, er ist Kunde bei der Bank, für die Paul arbeitet, und als stellvertretender Filialleiter kümmert er sich persönlich um Stéphanes Bankgeschäfte. Sie haben festgestellt, daß sie beide begeisterte Jogger sind und träumen davon, einmal beim New-York-Marathon mitzulaufen. Sie trainieren wie die Verrückten. Laufen, das hat mir nie sonderlich viel Spaß gemacht, vor allem nicht auf Asphalt. Ah! Die Nachrichten … Immer das gleiche … Ah, da kommt es:
»Grausamer Mord im Großraum Paris. Mathieu Golbert, ein neun Jahre alter Junge, wurde heute nachmittag auf dem Parkplatz eines Einkaufszentrums ermordet aufgefunden. Dieses abscheuliche Verbrechen wurde vermutlich von dem gleichen Täter begangen, der in dieser Gegend vor zwei Monaten den kleinen achtjährigen Michael Massenet umgebracht hat. Seit heute herrschen Angst und Schrecken in Boissy-les-Colombes. Unser Sonderberichterstatter Michel Falcon befindet sich vor Ort. Nun, Michel …«
»Guten Abend. Hier spricht Michel Falcon. In Boissy-les-Colombes, wo in weniger als zwei Monaten zwei Kinder ermordet wurden, ist man zutiefst betroffen. Heute scheint sich nun der Verdacht erhärtet zu haben, daß es eine Verbindung zwischen diesem Verbrechen und anderen ungelösten Mordfällen gibt, die bis zu fünf Jahren zurückliegen. Eine Hypothese, die nicht gerade dazu führt, die friedlichen Bürger dieser Gemeinde zu beruhigen. Heute Abend herrscht in Boissy-les-Colombes panische Angst, und schon werden die ersten Stimmen laut, eine Bürgerwehr einzurichten. Kommissar Yssart, der die Untersuchung leitet, möchte noch keine Stellungnahme abgeben, aber – das hat er uns bestätigt – es gibt eine heiße Spur.«
Nun werden die anderen Morde kurz zusammengefaßt, sicher zeigen sie auch Fotos der Kinder. Interview mit einem Rentner, einer Hausfrau und einem Kraftfahrzeugmechaniker. Schreie, Tränen, eine Tür, die zugeschlagen wird, ein Mann, der ruft: »Lassen Sie uns gefälligst in Ruhe.« Das ist die Familie von Mathieu, »die, scheinbar unter dem Schock der Ereignisse, nicht in der Verfassung war, mit unserem Kamerateam zu sprechen.«
Das Telefon läutet. Yvette steht mürrisch auf. Der Sprecher berichtet nun über eine Segelregatta entlang der Mittelmeerküste.
»Hallo? Ach, Sie sind es, Jean. Guten Abend … Ja, es ist schrecklich, nicht wahr? Wir sind ganz bestürzt. Nein, Sie stören nicht. Das ist freundlich, danke … Morgen, ja, jederzeit. Das Schlimme ist, wir waren da, im Einkaufszentrum … Ja, Virginie hat mit dem Jungen noch gespielt, kurz bevor er verschwunden ist, stellen Sie sich das mal vor …! Wie Sie selbst sagen …«
Es ist schwierig, gleichzeitig Yvettes Unterhaltung mit Jean Guillaume und die Nachrichten zu verfolgen. Es läutet wieder, diesmal aber an der Haustür. Es geht zu wie in einem Taubenschlag. Yvette entschuldigt sich, hängt ein und läuft zur Tür.
»Ist Mademoiselle Andrioli zu Hause?«
Yssart! Na, der muß ja aus Paris geradezu hierher geflogen sein.
»Hier entlang. Wir essen gerade.«
»Tut mir leid, daß ich störe. Guten Appetit. Guten Abend, Mademoiselle.«
Zeigefinger.
»Als ich erfuhr, was geschehen war, bin ich sofort hergefahren. Wenn Sie gestatten, würde ich gerne mit Mademoiselle Andrioli allein sprechen.«
Und hopp, schon rollt er mich rasant in den Flur – ich rieche das Bohnerwachs, das Yvette heute morgen aufgetragen hat.
»Merkwürdiger Zufall, nicht wahr, daß Sie und die kleine Virginie mit schöner Regelmäßigkeit am Tatort auftauchen? Wissen Sie, daß mir diese Reihe von Zufällen außerordentlich mißfällt? Im Fall von Mathieu Golbert hat der Mörder dem Kind den Brustkorb aufgeschnitten und das Herz entfernt. Natürlich erst, nachdem er tot war.«
Natürlich. Ich glaube, ich muß mich übergeben!
»Der Leichnam lag zwischen zwei Autos. Es war ausgesprochen leichtsinnig vom Mörder, seine Tat am hellichten Tag auf einem vielbefahrenen Parkplatz zu begehen. Doch andererseits, wenn man zwischen den Fahrzeugen kniet, ist man für die Überwachungskameras unsichtbar, das habe ich überprüft … Ich kann mir nur schwer vorstellen, daß der Mörder mit dem Herz seines Opfers in der Tasche geflüchtet ist. Wissen Sie, was ich eher glaube? Daß er mit dem Auto gekommen und anschließend wieder weggefahren ist. Das Problem bei diesen Parkplätzen mit Münzautomaten ist, daß der Angestellte im allgemeinen nicht auf die Fahrzeuge achtet, aber man kann nie wissen. Sie sehen, ich spiele bei Ihnen mit offenen Karten. Weiß Virginie irgend etwas?«
Dieser Kerl macht mich ganz fertig. Er spricht wahnsinnig schnell und knallt mir fünfzig verschiedene Informationen gleichzeitig vor die Füße. Ob Virginie irgend etwas weiß? Darüber weiß ich nicht Bescheid. Ich hebe den Zeigefinger aufs Geratewohl.
»Hat sie Mathieu mit jemandem weggehen sehen?«
Halber Zeigefinger. Das heißt, ich hebe den Zeigefinger, winkle ihn aber ab.
»Hat sie jemanden gesehen, den sie kennt?«
Zeigefinger.
»Wen? Wissen Sie das?«
Kein Zeigefinger. Er seufzt.
»Jeder Mörder hat ein Motiv. Vorsicht, das heißt nicht, daß das Motiv für uns immer einsichtig ist. Nein, ein Motiv ist stets sehr persönlich. Ein Mörder kann zum Beispiel beschließen, daß er Ohren sammeln will. Oder jeden umzubringen, der größer ist als 1,82 und gelbe Mokassins trägt. Oder nehmen wir zum Beispiel diesen englischen Mörder, der seine Geliebten im Schlaf erwürgte und die Leichen im Haus behielt, um mit ihnen gemeinsam fernzusehen. Sie verstehen, was ich meine? Wenn man versucht, einen Verrückten zu schnappen, indem man sich ein ›vernünftiges‹ Motiv überlegt, ist man rasch auf dem Holzweg. Doch wenn man glaubt, der Täter gehe planlos vor, töte aus Spaß am Töten, liegt man auch falsch. Wenn er irrational vorgehen würde, wären seine Opfer ganz unterschiedlich. Doch das kommt selten vor. In 99% der Fälle sucht sich ein Psychopath immer wieder ähnliche Opfer aus. Er verfolgt hartnäckig ein Ziel und findet nur dann Befriedigung, wenn er bestimmte Leute auf bestimmte Art und Weise umbringt. Aber ich langweile Sie mit meinem Vortrag. Ich war auf dem Weg zu den Fanstens und bin rein zufällig hier vorbeigekommen. Es ist immer ein Vergnügen, sich mit Ihnen zu unterhalten. Nun, ich muß jetzt gehen, meine Liebe. Und überanstrengen Sie sich nicht. In Ihrem Leben scheint es zur Zeit ja ganz schön turbulent zuzugehen.«
Gemeiner Kerl! Er fährt mich zurück ins Wohnzimmer, und bevor ihm Yvette überhaupt auf Wiedersehen sagen kann, ist er auch schon verschwunden. Dieser Typ ist unmöglich. Ein Mörder läuft frei herum, und unterdessen hält mir ein Kommissar mit einem Clownsgesicht Vorträge über das Seelenleben von Mördern. Vor sich hin schimpfend deckt Yvette den Tisch ab.
Ich muß wieder an Mathieu denken. Der arme kleine Junge. Ich bekomme eine Gänsehaut. Als ich im Krankenhaus war und begriffen hatte, daß Benoît tot war, wollte ich wie eine Wölfin losheulen. Und es vergingen viele Tage, an denen ich nicht glauben konnte, daß er niemals wieder mit mir sprechen, niemals wieder bei mir sein und mich niemals wieder zum Lachen bringen würde. Heute Abend hatte Mathieus Mutter sicher das Bedürfnis, wie eine Wölfin zu heulen. Und Hélène, die ruhige und freundliche Hélène, wie groß wird ihre Angst um Virginie sein? Obwohl Virginie ein Mädchen ist. Denn, wenn ich so darüber nachdenke, sind alle Opfer männlich. Der Mörder fühlt sich möglicherweise von kleinen Jungen angezogen. »Immer wieder ähnliche Opfer«, hat Bonzo, der Clown gesagt. Ich möchte das alles aus meinen Gedanken verbannen. Aber ich kann nicht, ich kann nicht einfach sagen: »Hör auf, darüber nachzudenken«. Wenn ich doch bloß nicht Mathieus Stimme gehört hätte, wenn es doch nur ein mir unbekannter Name wäre, den ich aus dem Fernsehen hätte. Ich hatte mich so darüber gefreut, die Fanstens kennenzulernen, und jetzt dieser ganze Schlamassel …