Ein Tag, ganze vierundzwanzig Stunden waren verstrichen, und Elmer Maxted war immer noch nicht wieder aufgetaucht.
»Casper sagt, Sie müssen jetzt mit der Polizei Kontakt aufnehmen«, tönte Nevilles Stimme durchs Telefon.
»Das habe ich mir auch schon gedacht. Ob ich will oder nicht, ich muss ihnen alles sagen, was ich weiß.«
Schweigen. Neville hatte die Hand über die Sprechmuschel gelegt. Casper erteilte Befehle.
Da war er wieder. »Casper sagt, Sie sollten versuchen, so wenig wie möglich zu verraten.«
»Und ihnen gleichzeitig bei der Ermittlung helfen?«
Erneutes Schweigen.
»Korrekt«, erwiderte Neville für Casper.
»Ich kann aber höchstens eine Stunde hier weg. Meine Empfangsdame hat sich krank gemeldet.«
Wieder ließ die Antwort auf sich warten.
»Wir schicken jemanden.«
»Danke. Das weiß ich zu schätzen. Wieso geht Casper nicht ans Telefon?«
Diese Antwort kam rasch, im Ton schockierter Überraschung.
»Das tut er nie, wenn er in der Badewanne liegt.«
Es war zwar Sonntagmorgen, aber Honey konnte ohne Probleme einen kleinen Spaziergang zur Wache in der Manvers Street machen, sobald die versprochene Hilfe auftauchte. Im Gegenteil, es würde eine willkommene Abwechslung sein.
Das Auschecken der Gäste nahm nicht viel Zeit in Anspruch. Eine Stunde später bürstete Honey sich das Haar, zupfte ihre |43|weiße Baumwollbluse glatt und überprüfte die Nähte ihrer Strümpfe. Ja, Strümpfe! Sonntags trug sie immer einen Rock. Die Strümpfe taten ihr Übriges dafür, dass Honey ihre beinahe abhanden gekommene Weiblichkeit wieder verspürte.
Heute war es endlich wieder richtig spannend geworden. Nichts und niemand konnte ihr die gute Laune verderben – mit Ausnahme ihrer Mutter.
»Ich mache im Sommer eine Kreuzfahrt.« Sie lehnte sich zu Honey herüber. »Mit einem Verehrer. Er heißt Christopher Jordan und ist ein wirklich bezaubernder Mann.«
Ihre Mutter wuselte hinter ihr her wie ein ganz besonders hartnäckiger Jack Russell-Terrier. »Männer sind eine so angenehme Gesellschaft. Du solltest dir auch einen zulegen.«
Honey bog rasch links hinter die Rezeption ein.
Unbeirrt beugte sich ihre Mutter über den Tresen. »Ich glaube, ich habe dir schon von meinem Zahnarzt erzählt …«
»Dachte ich mir’s doch«, sagte Honey und konnte ihre Ungeduld kaum noch verbergen. Sie betätigte die »Escape«-Taste ihres Computers. Das würde sie am liebsten auch machen – fliehen. Aus der Rezeption und vor ihrer Mutter. Aber Susan, die heute am Empfang Dienst tun sollte, hatte angerufen und sich krank gemeldet. Das hatte Honey nicht anders erwartet. Liebeskrank! – das war sie. Ein attraktiver junger Mann aus Ungarn, der in einem anderen Hotel in der Nähe arbeitete, war einen Stock unter Susan in ein möbliertes Zimmer eingezogen. Das musste einfach zu internationaler Zusammenarbeit führen – und dazu war es auch gekommen. Und wenn die beiden nicht gleichzeitig frei hatten, meldeten sie sich krank. Heute hatte der junge Mann seinen freien Tag – Susan aber nicht. Also wurde sie krank, und das bedeutete, dass Honey jetzt an der Rezeption zu tun hatte und in der Falle saß. Ihre Mutter hatte erbarmungslos zugeschlagen.
Mit ihrer blonden Turmfrisur, mit teurem Schmuck behängt und in einen seidenen Hosenanzug gehüllt lehnte ihre Mutter am Tresen. Der aprikotfarbene Lippenstift passte zum Outfit.
|44|Honey atmete flach, um nicht von der Wolke sündhaft teuren Parfüms betäubt zu werden, die sich über sie herabsenkte.
»Ich habe es arrangiert, dass du dich heute Abend mit ihm in der ›Römischen Bar‹ im ›Francis‹ triffst. Um sieben.«
»Ich kann nicht.«
»Warum nicht?«
»Ich arbeite.«
»Dann eben zum Lunch. Ich disponiere auf 12 Uhr um.«
»Mutter!«
»Schrei mich nicht an!«
»Ich habe nicht geschrien. Ich habe nur protestiert.«
Genau in diesem Augenblick kam ein Ehepaar aus Sydney zur Tür herein und wollte einchecken. Mit drei Koffern.
Honey ließ sich viel Zeit, registrierte die beiden, gab ihnen die Schlüssel, Merkblätter und Sonderangebote für die Sehenswürdigkeiten. Sie hoffte, ihre Mutter würde schließlich die Geduld verlieren und verschwinden. Weit gefehlt.
»Sieh mal, Mutter …«
Just in diesem Moment fegte Jeremiah Poughton, ein enger Freund von Casper, schwungvoll durch die Doppeltür. Prüfend strichen seine Finger über die Messinggriffe, als wollte er sie auf Fingerabdrücke untersuchen.
»Casper schickt mich. Ich habe gehört, Sie haben ein kleines Personalproblem, Schätzchen. Da wäre ich also – eigentlich bin ich nicht mehr im Gastgewerbe tätig, aber ich weiß noch, welche Knöpfe man drücken muss.«
»Was machen Sie denn heute so?«, fragte Honey und wandte ihrer Mutter absichtlich den Rücken zu.
»Ich habe einen Stand auf dem Guildhall Market. Er heißt ›Herbs and Spice and All Things Nice‹«.
»Toll!« Honey schaute ihn beeindruckt an.
Leider ihre Mutter auch. Gloria klatschte begeistert in die Hände. »Na also! Nun kannst du doch deine Verabredung wahrnehmen und dich ein bisschen amüsieren.«
»Nein. Er ist nur für heute Morgen hier, weil ich zur Polizei muss. Heute Abend arbeite ich.«
|45|Honey stand so abrupt auf, dass der ergonomisch gebaute – und höllisch unbequeme – Stuhl am Empfang davonrollte.
»Casper hat der Polizei per Boten schon alle Einzelheiten geschickt.« Jeremiah schwang sich mit seinen langen Beinen auf den Stuhl und rollte ihn wieder an den Tresen zurück.
»Wenn das so ist, dann verstehe ich nicht, warum er nicht auch selbst hingegangen ist.«
»Er steht nicht auf Männer in Uniform«, erwiderte Jeremiah. »Erinnert ihn an die schlimmen alten Zeiten. Also«, sagte er und lehnte sich bedrohlich nah an den Computermonitor, »Sie brauchen mir das System nicht zu erklären. Wenn man eins benutzt hat, kennt man sie alle.«
Honey schnappte sich ihre viel zu große Handtasche und warf sie sich über die Schulter.
»Warum musst du zur Polizei?«, bohrte ihre Mutter weiter.
Honey ging davon aus, dass in ihrer Abwesenheit hier alles problemlos laufen würde. Sie ignorierte die Frage. Statt dessen wandte sie sich an Jeremiah: »Um zwölf kommt eine größere Gruppe zum Lunch.«
Da Gloria von ihrer Tochter keine Antwort bekam, richtete sie die Frage nun an Jeremiah. »Warum geht sie zur Polizei?«
Jeremiah nahm jedoch Honeys knapp erteilte Anweisungen entgegen.
Entnervt schlug Gloria Cross mit der flachen Hand krachend auf den Tresen. »Warum muss meine Tochter zur Polizei? Was hat sie verbrochen?«
Die Gäste, die auf den bequemen Sesseln und Sofas in der Nähe des Empfangs saßen und auf Taxis, Tee oder ihre Abschlussrechnung warteten, verstummten erwartungsvoll. Neugierige Blicke wandten sich Honey zu.
Die spielte für die Menge. »Sie behaupten, ich hätte vor, meine Mutter im Patio zu begraben. Ich habe ihnen natürlich gesagt, dass sei nicht wahr, denn ich würde dich viel lieber in Malvasier ertränken, aber das haben sie mir nicht geglaubt. |46|Die haben gemeint, nur eine Wahnsinnige würde guten Wein so verschwenden.«
»Du bist wahnsinnig!«, erwiderte ihre Mutter und sah sehr wütend aus.
Die Gäste grinsten, lachten leise und tauschten wissende Blicke. Offensichtlich hatten sie auch Mütter – und kannten diese irren Augenblicke nackter Verzweiflung.
Honey warf Jeremiah ein rasches Dankeschön zu. Der nickte nur und räumte weiter das Online-Reservierungs-System und die um ihn herum verstreuten Papiere auf. Für das Blumenarrangement hatte er nur einen vorwurfsvollen Blick übrig. Wie Neville konnte er sehr gut Blumen arrangieren. Ihr Gesteck war wohl nicht nach seinem Geschmack.
Zur Tür zu gelangen war relativ einfach. Die Tür zu durchschreiten war schon schwieriger. So leicht würde ihre Mutter sich nicht abwimmeln lassen!
»Gut. Also, du hast in offizieller Hotelangelegenheit bei der Polizei zu tun. Das sollte nicht allzu lange dauern. Von da aus kannst du dann gleich zur Kirche gehen.«
»Mutter! Ich gehe nicht in die Kirche!«
Zu spät. Gloria tippte bereits eine Telefonnummer in ihr Handy, reckte wild entschlossen das Kinn vor und hatte ihren »Komm-mir-bloß-nicht-mit-diesen-Ausreden«-Blick aufgesetzt. »Gut. Pfarrer Trevor erwartet dich.«
»Ich bin nicht katholisch.«
»Nun, ich glaube, das solltest du aber werden.«
»Mein Vater war nicht katholisch.«
Ihre Mutter bekreuzigte sich. Sie war erst spät im Leben Katholikin geworden – nachdem sie alle ihre Scheidungen hinter sich hatte.
»Der Gottesdienst ist um zwölf zu Ende. Du musst danach nicht gleich wieder hierher zurück. Die nette Schwuchtel am Empfang kümmert sich schon um alles, bis du wieder da bist.«
»Mutter!« Es hatte keinen Sinn. Honey schüttelte den Kopf. Ihre Mutter hätte nicht einmal gewusst, wie man »politisch |47|korrekt« buchstabiert, geschweige denn, wie man sich so verhielt. Sie war von der alten Schule und mit dem neuen höflichen Vokabular nicht auf dem neuesten Stand. Sie benutzte immer noch die Wörter, die in ihrer Jugendzeit geläufig gewesen waren.
Als sie sich der North Parade näherte und in Richtung Manvers Street ging, begann Honey Zweifel an Caspers Großzügigkeit zu hegen, der ihr diese Aushilfe geschickt hatte. Casper konnte sehr nett sein, wenn er wollte. Andererseits war er aber auch völlig skrupellos.
Honey zog ihr Handy aus der Tasche und suchte im Telefonverzeichnis seine Nummer. Casper meldete sich beinahe sofort.
»Danke, dass Sie mir Jeremiah geschickt haben.«
»Oh! Da ist er also!«
Honey runzelte die Stirn. »Sie haben ihn nicht geschickt?«
»Ich habe ihn gebeten, mal bei Ihnen reinzuschauen und Ihnen unter die Arme zu greifen. Er war gar nicht begeistert und hat was von Lückenbüßer gemurmelt. Ich habe ihm geantwortet, er soll sich zum Teufel scheren. Seine Interpretation dieser Aussage ist ein wenig überraschend, muss ich sagen.«
»Wird aber sehr geschätzt.«
»Zweifellos.«
Auf der Wache war an diesem Sonntagmorgen viel Betrieb. Honey schlug der kreidige Geruch von ausgetrockneter Wandfarbe und verschlissener Auslegeware entgegen. Und wenn die Toilettentüren zum Flur aufgingen, kam immer noch ein Wölkchen Chlorbleiche hinzu.
Sobald der Sergeant am Empfang ihren Namen eingetragen hatte, bat er sie, Platz zu nehmen und zu warten. Als sie erklärte, sie sei auf Geheiß und im Namen aller Hoteliers der Stadt hier und hätte nur wenig Zeit, beeindruckte ihn das nicht sonderlich. Also setzte sie sich hin und betrachtete die anderen Wartenden. Es war ein bunt zusammengewürfelter |48|Haufen, daher ziemlich interessant: Ein zorniger Autofahrer, dem ein hirnloser Idiot sein Fahrzeug entwendet hatte, der drüben am Brassknocker Hill sein Glück als Grand Prix-Fahrer versuchen wollte. Großer Preis? Wohl eher Großer Scheiß, denn der Wagen war inzwischen nur noch ein verbeulter Blechhaufen in irgendeinem Straßengraben.
Ein Penner mit verfilzten Dreadlocks, stinkend und mit räudigem Hund, verlangte, man solle ihm unverzüglich seinen fahrbaren Untersatz wiedergeben, ohne Steuer, ohne Versicherung und kaum verkehrstüchtig.
Ein amerikanischer Tourist mit karierter Schottenmütze und farblich abgestimmten Bermuda-Shorts wartete, während der Sergeant seine Personalien aufnahm.
»Ich verstehe einfach nicht, woran die uns als Touristen erkannt haben«, quengelte er im schleppenden amerikanischen Tonfall.
Eine Frau, wahrscheinlich seine Ehefrau, saß zusammengesackt auf dem Stuhl neben Honey. Sie verdrehte die Augen und flüsterte: »Ich habe ihm gesagt, er soll sich nicht so auffällig benehmen. Aber glauben Sie, der hört auf mich? Meinen Stil ändere ich für nichts und niemanden, sagt er.« Sie schüttelte traurig den Kopf. »Von Stil kann ja wohl nicht die Rede sein.«
Honey lächelte. »Schönheit beruht auf dem, was man im Spiegel sieht. Wir Frauen sehen, dass die Jahre ihren Tribut fordern, und die Männer erblicken immer noch Steve McQueen. Typisch.«
»Genau!«
Plötzlich ging eine Tür mit dem Schild »Privat« auf, und ein Mann in einem schwarzen T-Shirt und verwaschenen Jeans tauchte auf. Ein Typ in Zivil, recht attraktiv und auf der Suche nach Honey.
Sein Blick schweifte durch das Wartezimmer.
Sie schaute ihn an.
Er war durchschnittlich groß. Die lässige Kleidung und der Dreitagebart ließen vermuten, dass er auf »ungeschliffener |49|Diamant« machte. Wenn man keine 1,80 groß war, musste man den harten Burschen mimen, um ein wenig Autorität auszustrahlen. Es funktionierte, denn der Kerl hatte Riesenpranken.
Hinter ihm stand im Schatten eine Polizistin, als müsste sie ihm den Rücken freihalten. Sie sah ihm über die Schulter. Honey erwiderte ihren Blick, worauf sich der Blick der Polizistin verhärtete. Honey erkannte glasklar lauernde Rivalität.
Die stechend blauen Augen strichen noch einmal über die versammelte Gesellschaft und blieben an ihr hängen. »Hannah Driver?«
»Das bin ich.«
Ein Wartezimmer voller neugieriger Gesichter beobachtete, wie sie zu ihm hinging. Es war, als befände sie sich auf einer Bühne. Nur war das hier alles Wirklichkeit. Alle ihre Sinne waren geschärft. Sie trat nah genug an ihn heran, um noch Spuren seines Rasierwassers zu erschnuppern. Seit etwa drei Tagen hatte er sich nicht rasiert, aber der Gestank war noch nicht verflogen.
»Ich bin Detective Sergeant Steve Doherty.« Er musterte sie von Kopf bis Fuß. »Und Sie sind also die Miss Marple von Bath.«
Auch noch sarkastisch!
»Nicht ganz. Ich stricke nicht, löse keine Kreuzworträtsel und besuche auch keine Teegesellschaften im Pfarrhaus.«
Die Rolle des Verbindungsoffiziers war ihm offensichtlich nicht auf den Leib geschrieben. Verachtung blitzte in seinen Augen auf. Sie passte ihm hier nicht in den Kram. Seine Verdrießlichkeit schlug sich in der Stimme nieder. »Das ist eine herbe Enttäuschung. Aber na ja – Amateurschnüffler gibt es wohl in allen Formen und Größen.«
»Bullen ebenso. Ich hätte auch erwartet, dass Sie größer wären.« Sie richtete sich auf ihren 10-cm-Absätzen zu voller Größe auf, obwohl die Schuhe ihre Zehen zwickten.
Für Sekundenbruchteile fiel sein Blick auf ihre BH-Körbchen |50|Größe 80 C. Er grinste. Sie wusste, was jetzt kommen würde.
»Es hat seine Vorteile, nur mittelgroß zu sein.«
Volltreffer! Wenn Blicke töten könnten, hätte sie ihm jetzt sauber den Kopf abgetrennt, aber dazu ließ er ihr gar keine Zeit.
»Bitte hier entlang.« Er deutete mit dem Daumen auf den uniformierten weiblichen Schatten und den Flur dahinter.
Das Vernehmungszimmer war genau, wie sie es erwartet hatte: schmucklose Wände, Schreibtisch, die notwendige Anzahl von Stühlen und natürlich ein Tonbandgerät. Irgendjemand hatte sich kürzlich hier mit einem süßlich riechenden Raumspray ausgetobt – Alpenblumen, nach der stinkenden Restwolke zu urteilen.
Doherty schaltete den Kassettenrecorder ein. Es sprach die üblichen Informationen auf. Zunächst Datum und Ort, dann Angaben zur Person: »Detective Sergeant Doherty. Befragt wird Miss Hannah Driver …«
»Mrs.«
Doherty warf ihr einen ungeduldigen Blick zu. »Mrs. Hannah Driver. Ebenfalls anwesend ist Detective Constable Sian Williams. Okay«, sagte er und setzte sich in seinem Stuhl zurück. »Jetzt erzählen Sie mir, was Sie mit der Sache zu tun haben.«
»Ich mag es lieber, wenn man mich Honey nennt.«
»Wie in Honey Bee?«
Diesen Kommentar strafte sie mit ihrer ureigenen Spielart von Verachtung. Sie ignorierte ihn einfach. »Nun«, begann sie und hatte ein bisschen das Gefühl, eine Verdächtige in einer der billigen Krimiserien im Fernsehen zu sein. »Der Hotelfachverband von Bath hat mich eingestellt, damit ich mit der Polizei Verbindung aufnehme, sobald ein Verbrechen etwas mit dem Tourismus zu tun haben könnte …«
»Ja, das hatte ich bereits verstanden«, erklärte Doherty. Er nestelte mit der rechten Hand an dem Kugelschreiber herum, der auf dem Schreibtisch lag.
|51|Der erste Eindruck, den sie von ihm hatte, war noch sehr lebendig. Was er jetzt sagte, bestätigte ihn nur. »Das da draußen« – er deutete mit dem Kopf in Richtung Wartezimmer jenseits der Wand –, »Überfälle, Diebstähle und Betrügereien beim Geldwechseln, all das bringt die Tourismus-Industrie in Rage. Unser Image muss um jeden Preis blütenweiß bleiben, wie? Sonst kommen die Amis nicht mehr an diese geheiligten Strände …«
Honey sprang auf. »Seien sie nicht so verdammt herablassend!«
Er erhob sich ebenfalls. »Das hier ist eine Polizeiwache und kein gottverdammtes Teehaus.«
Sie standen stocksteif da und starrten einander über den Schreibtisch hinweg an.
Honey schlug mit den Händen auf die Schreibtischplatte, dass die Tassen klirrten und der Kuli fortrollte.
Das Tonbandgerät geriet ins Stottern. Sie fauchte: »Ich bin ebenfalls sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen. Jetzt hören Sie mir mal zu. Ich habe einen Chefkoch, der durchaus in der Lage wäre, dem Metzger die Eingeweide rauszuschneiden, nur weil er mit der Qualität der Steaks nicht zufrieden ist. Und ich habe eine Mutter, die Gefahr läuft, ganz bald in eine Pastete eingebacken zu werden, wenn sie nicht aufhört, mir Rendezvous mit schlappohrigen Scheidungsopfern und schlappschwänzigen Junggesellen zu verpassen. Könnten wir das hier schnell hinter uns bringen und dann beide wieder an unsere eigentliche Arbeit gehen?«
Doherty blinzelte und rutschte auf seinem Stuhl hin und her. Sie merkte, dass sich das Gleichgewicht ein wenig verschoben hatte.
»Setzen Sie sich.« Jetzt klang seine Stimme ernst. Und doch: so ernst meinst du es nicht, überlegte Honey. Trotzdem setzte sie sich hin.
Doherty ließ sich seitlich auf seinem Stuhl nieder und schaute sie aus den Augenwinkeln an.
Sie ahmte seine Körperhaltung nach. Falls er ihren Spott |52|mitbekommen hatte, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken.
»Dass dieser Mann verschwunden ist – das gefällt mir nicht. Das gefällt mir gar nicht.«
Das hätte sie nun nicht von ihm erwartet. Das wurde ja noch richtig spannend. Sie lehnte sich vor, die Augen wären ihr beinahe aus dem Kopf getreten. »Glauben Sie, man hat ihn ermordet?«
Er lehnte sich ebenfalls vor, stützte die Unterarme auf den Schreibtisch, die Hände wenige Zentimeter vor ihrer Nase gefaltet. »Ich habe keine Ahnung. Auch Privatdetektive unternehmen ja mal geheimnisvolle Touren.«
Honey runzelte die Stirn. »Was ist passiert? Was gefällt Ihnen nicht daran?«
Doherty verzog das Gesicht. »Man hat mir die Aufgabe übertragen, Ihr offizieller Kontaktmann bei der Polizei zu sein – Befehl vom Chief Constable. Ich tu meine Pflicht, aber es gefällt mir nicht. Ich dachte, das sollten Sie wissen.«
Honey war unglaublich ernüchtert und sackte auf ihren Stuhl zurück.
Aus der Richtung von Detective Constable Sian Williams war ein unterdrücktes Kichern zu vernehmen.
Doherty schaute finster. »Ruhe.«
Die rosa Lippen der Polizistin bebten noch ein wenig, ehe sie sich wieder im Griff hatte.
Irgendwas stimmte hier nicht. Honey kniff die Augen zusammen und warf Doherty einen durchdringenden Blick zu. Er schaute überrascht, entweder, weil er eine solche Reaktion nicht erwartet hatte oder weil er diese Art Blick mochte.
»Und warum zum Teufel haben Sie das Ding da eingeschaltet?«
Sie verzog wütend das Gesicht und spürte, wie sich alle Falten vertieften, während sie auf das Tonbandgerät deutete.
Er zuckte mit den Achseln. »Funktioniert gar nicht. Ich schalte das nur so zum Spaß an. Ich habe Sie damit doch nicht |53|etwa aus der Fassung gebracht, oder?« Ein Mundwinkel hob sich leicht zu einem schiefen Grinsen.
»Sie verarschen mich!« Honey sprang auf. »Sie können mich mal, Doherty! Sie mögen ja vielleicht Zeit für solche Spielchen haben, ich nicht! Ich habe ein Hotel zu führen, und das ist vom Tourismus abhängig, der, wenn ich das mal hinzufügen darf, auch Ihr Gehalt zahlt.«
Bis jetzt hatte sie auf seinen Zügen hauptsächlich Arroganz wahrgenommen. Nun blitzten die blauen Augen fröhlich, und aus dem Grinsen wurde ein entschuldigendes Lächeln. Er streckte wie zur Kapitulation die Hände aus. »Okay, es tut mir leid.«
»Sie nehmen diese Sache nicht ernst.«
Er bedeutete der Polizistin mit einer Kopfbewegung, sie solle gehen. Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss.
Doherty registrierte Honeys braune Augen, das dunkle Haar, das einen schönen Kontrast zu der adretten weißen Bluse bildete, die rehbraune Weste und den eleganten Rock. Außerdem trug sie Strümpfe – da war er sich sicher – und keine Strumpfhose. Strümpfe schmiegten sich einfach enger an die Haut an. Er hielt sich in derlei Dingen für einen Kenner. Hannah Driver war nicht, was er erwartet hatte. Auf den ersten Blick sah sie nach noblem Dämchen aus, aber er spürte, dass es unter dieser kühlen Oberfläche brodelte.
Honey verschränkte ihre Arme so, dass sie ihren Busen verdeckten. »Ich hätte diese Aufgabe niemals übernehmen sollen«, murmelte sie.
Überraschung trat auf Dohertys Gesicht. »Sie möchten keine langfristige Beziehung zu einem Verbrecher bekämpfenden Mitglied der örtlichen Polizeitruppe aufbauen?«
Sie zog eine Augenbraue hoch. »Bilden Sie sich bloß keine Schwachheiten ein.«
»Ich hatte ja auch nicht gerade die freie Wahl!«
Sie erklärte ihm nicht in allen Einzelheiten, warum sie diese Aufgabe übernommen hatte. Was wusste so ein unrasierter, abgebrühter Bulle schon über das Geschäftsleben?
|54|Plötzlich hörte es sich wieder so an, als wolle er sich entschuldigen. »Könnten wir noch mal von vorn anfangen?«
Sie überlegte, ob sie ihm erwidern sollte, er könne sich verpissen, aber ihre innere Stimme bremste sie gerade noch. Casper hatte ihr weitere Belohnungen versprochen. Es war keineswegs ausgeschlossen, dass schon bald alle Zimmer belegt sein und im Restaurant sämtliche Tische drei Gänge und den besten Wein bestellen würden.
Sie setzte sich wieder hin. »Also! Was ist nun mit diesem Elmer Weinstock oder Maxted oder wie auch immer?«
Doherty legte die Hände flach auf den Schreibtisch und musterte seine Fingernägel.
»Also! Er war Privatdetektiv«, erwiderte er nachdenklich.
»War er möglicherweise geschäftlich hier? Haben Sie das überprüft?«
»Ja, das haben wir, und nein, er war nicht geschäftlich hier. Sein Büro hat uns gesagt, dass er hier Urlaub machen wollte. Um seinen Stammbaum zu erforschen, haben sie mir erklärt.«
Honey runzelte die Stirn. Warum hatte er dann einen falschen Namen benutzt?
Doherty beantwortete die unausgesprochene Frage auf seine eigene Art, und seine Stimme war eine ziemlich gute Imitation von Humphrey Bogarts Tonfall. »Diese Privatschnüffler haben eine Vorliebe fürs Dramatische. Die haben alle zu viele Krimis im Fernsehen angeschaut.«
Honey warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. »Sie haben nicht die geringste Absicht, in dieser Sache zu ermitteln, oder?«
»Nein. Und soll ich Ihnen sagen, warum?«
»Nicht nötig, aber Sie tun es wahrscheinlich sowieso.«
»Ich glaube, er hat hier eine flotte Biene aufgerissen und lässt es sich gutgehen. Was macht es da schon, wenn er seinen Rückflug verpasst?« Er lehnte sich mit hinter dem Kopf gefalteten Händen im Stuhl zurück, und es lag ein träumerischer Ausdruck in seinen Augen. »Jawohl. Das ist meine |55|Theorie. Eine kleine Kostprobe vom süßen Leben – das hat er hier gefunden.«
»Sehr poetisch, aber ich glaube, da irren Sie sich.«
Er breitete die Arme aus und zwinkerte ihr zu. »Das wäre alles, meine Süße.«
Blaue Augen und dunkle Haare. So was gehörte einfach verboten. Entwickelte sie da etwa eine klammheimliche Schwäche für ihr Gegenüber? Unwillkürlich verzogen sich Honeys Lippen. Es gelang ihr gerade noch, sich zu bremsen, ehe das Lächeln voll aufgeblüht war.
»Ich werde Sie nicht ermutigen, weitere Untersuchungen anzustellen.« Honey stand auf.
»Und was haben Sie jetzt vor, meine Süße?«, erkundigte sich Doherty.
Sie blieb an der Tür stehen, stützte eine Hand in die Hüfte und blinzelte. »Ich glaube, ich statte jetzt dem Haus der tausend Aschenbecher einen weiteren Besuch ab.«
Er grinste. »Cora Herbert.«
»Genau.«
»Reine Zeitverschwendung.«
Honey neigte den Kopf zur Seite. »Sie wollten von Anfang an nicht mit mir zusammenarbeiten, und daran hat sich nichts geändert, stimmt’s?«
Sein Miene verdüsterte sich. »Es ist nichts Persönliches.«
»Nein«, antwortete sie, »und das wird es auch nie werden.«
Sian kam zurück, nachdem Honey gegangen war. Ihre Strümpfe knisterten leise, als sie die Beine übereinanderschlug. Sie verschränkte die Arme vor der uniformierten Brust und grinste ihn an.
»Das hat dir viel mehr Spaß gemacht, als du erwartet hättest.«
Er reckte die Arme hinter dem Kopf und ließ die Muskeln spielen. »Und jetzt hör auf zu grinsen.«
»Sie ist eine attraktive Frau.«
Er drehte sich zu ihr herum und deutete anklagend mit dem Finger auf sie. »Kein Wort mehr, Williams. Ich halte diesen |56|Hotelunsinn immer noch für komplette Zeitverschwendung.«
Sie zog fragend eine Augenbraue hoch. »Aber ihretwegen könntest du ein bisschen Geschmack an der Sache finden?«
Doherty lächelte, und eine dunkle Haarlocke fiel ihm in die Stirn.
Sian Williams bekam weiche Knie. Die meisten Frauen, sie eingeschlossen, konnten sich seinem schurkenhaften Charme einfach nicht entziehen.
Ein Lächeln reichte schon, und sie gierte nach mehr. So ging es ihr immer. Gestern Nacht war seine Stimme süß wie dunkler, sämiger Zuckersirup an ihr Ohr gedrungen. Sie hatte ihn abgeschleppt, aber sie wusste um Dohertys Ruf: Sie war sicherlich nicht die Einzige.
Steve Doherty lächelte vor sich hin, und was immer er dachte, behielt er für sich. Als er dann sprach, war ihr klar, dass er eigentlich nicht mit ihr redete. Er gab sich selbst gute Ratschläge, erklärte seinem inneren Ich, was wohl als Nächstes zu erwarten wäre. »Lass das mal meine Sorge sein. Ein bisschen guter alter Doherty-Charme, dann vergisst sie, dass sie hier die verdammte Miss Marple spielen wollte. Garantiert.«