Cora Herbert bestand darauf, dass Honey Elmer Maxteds Sachen mitnahm.
»Es geht einfach nicht, dass mir das Zeug meinen Gepäckraum blockiert«, sagte Cora entrüstet, während ihr eine nicht angezündete Zigarette im Mundwinkel klebte.
Honey verzog das Gesicht, als sie an das dunkle, staubige Kabuff unter der Treppe dachte. Das als Gepäckraum zu bezeichnen, war hart an der Grenze. Es sprach jedoch nichts dagegen, dass sie Coras Wunsch nachkam. In ihrem Hotel gab es einen kleinen Raum hinter dem Empfang, in dem Gäste ihr Gepäck abstellen konnten. Auf ein, zwei Reisetaschen mehr oder weniger kam es nicht an.
Nachdem sie die Sachen dort verstaut hatte, konnte sie nicht umhin, noch einmal einen kleinen Blick hineinzuwerfen. Sobald sie sich versichert hatte, dass wirklich niemand am Empfang wartete, schloss sie die Tür hinter sich. Obwohl sie alles schon einmal durchgeschaut hatte, als sie unter Cora Herberts Treppe eingesperrt war, hatte sie sich damals sehr beeilt. Jetzt konnte sie sich Zeit nehmen. Und wer weiß, was sie alles finden würde.
Den Pass und die anderen Papiere des vermissten Mannes wollte sie in ihrem privaten Safe im Büro aufbewahren. Als sie das Flugticket genauer musterte, stellte sie fest, dass das Rückreisedatum bereits in zwei Tagen war. Seltsam. Nur noch zwei Tage bis zum Rückflug? Da sollte er jetzt Pläne schmieden, Bahn- und Busfahrpläne wälzen oder sich darum kümmern, wo er den Mietwagen abstellen konnte – falls er je einen gehabt hatte.
Und da war noch etwas. Wenn Elmer seine Ahnen suchte, |58|warum fand sie keine Geburts-, Heirats- oder Sterbeurkunden, nicht einmal einen unvollständigen Stammbaum? Kalte Schauer liefen ihr über den Rücken. Ihre erste instinktive Reaktion war, dass Elmer Maxted tot war – ermordet. Aber wie und von wem? Und warum?
Im Hotelfach arbeitet man sechzehn Stunden am Tag und sieben Tage in der Woche. Feiertage wie etwa Weihnachten oder Ostern und der Hochsommer waren die turbulentesten Zeiten. Selbst an ganz gewöhnlichen Tagen stand Honey im Morgengrauen auf und fiel erst in den frühen Morgenstunden des nächsten Tages erschöpft ins Bett. Wer müde war, dem riss leicht mal der Geduldsfaden. War bei Cora oder Mervyn eine Sicherung durchgebrannt, und sie hatten eine Dummheit begangen? Sie dachte nach. Cora? Nein. Die Frau war nicht gerade die Gastfreundlichkeit in Person, aber die einzigen Untaten, die in ihrer Pension begangen wurden, bestanden wahrscheinlich im täglichen Verkokeln der Frühstückswürstchen.
Die Tür zum Büro hatte gut geölte Scharniere. Honey hörte nicht, wie Lindsey ins Zimmer trat.
»Mutter! Was machst du denn da?«
Beinahe wäre Honey aus der Haut gefahren. »Du willst mich wohl zu Tode erschrecken?«
Lindsey trug ihre Sportsachen, hatte den marineblau-weißen Matchsack locker über die Schulter geschwungen. Sie grinste. »Nur wenn du mir in deinem Testament ein Vermögen vermacht hast. Dann wär’s einen Versuch wert.«
»Ich schlage vor, du unterhältst dich zu diesem Thema mal mit deiner Großmutter.«
Gloria Cross hatte drei Ehemänner verschlissen. Alle waren Millionäre gewesen, auch Honeys Vater. Er hatte sich mit einer schicken jungen Frau nach Connecticut abgesetzt. Unbeirrt hatte ihre Mutter ihn auf Unterhaltszahlungen verklagt, den Prozess gewonnen, sich einen neuen Millionär geangelt und ein Glas auf ihren Exmann getrunken, nachdem der in den Flitterwochen im Bett sein Leben ausgehaucht hatte.
|59|»Ein sehr passendes Ende für einen Mann, der die Frauen geliebt hat«, war der Kommentar ihrer Mutter gewesen. In jener Nacht hatte sie zwei Flaschen Krug-Champagner geleert und einen ganzen Zitronen-Baiser-Kuchen verzehrt. Das war ihr Lieblingskuchen. Bis heute.
Lindsey schaute Honey über die Schulter. Sie roch frisch geduscht. »Was machst du da?«
Honey seufzte und stopfte Pass, Papiere und Flugticket wieder in die Plastikhülle, um sie in den Safe zu legen. Ehe sie den Schlüssel im Schloss herumdrehte, fiel ihr Blick noch einmal auf das Datum.
»Da stimmt was nicht mit der Reservierung, die er im ›Ferny Down Guest House‹ gemacht hat, und dem Datum seines Rückflugs von Heathrow. Wo wollte er in der Zwischenzeit hin?«
Lindsey zuckte die Achseln. »Vielleicht hatte er vor, noch ein paar Tage länger in der ›Maison Cora‹ wohnen zu bleiben.«
Honey dachte darüber nach, schüttelte dann aber den Kopf. »Es ist sowieso schon ungewöhnlich, dass sich jemand in einem Bed & Breakfast für eine ganze Woche einquartiert. Meistens machen Touristen nicht im Voraus so genaue Pläne – ganz bestimmt nicht in einem Etablissement wie dem ›Ferny Down‹ – das ist eher was für den unteren Marktsektor.«
»Höre ich da einen Hauch Snobismus heraus?«
»Realismus.«
Lindsey nickte. »Klar.« Sie wusste ebensogut wie ihre Mutter, dass Touristen, die in bestimmten Unterkünften übernachteten, sehr genaue Reisepläne hatten. Je nach Geldbeutel reichten ein, zwei Tage an jedem Ort, den sie besuchen wollten. »Aber es gibt ja immer Ausnahmen.«
Honey wedelte mit dem Flugticket. »In zwei Tagen ist sein Rückflug. Da hatte er nicht viel Zeit, noch woanders hinzufahren – höchstens einen Tag. Den letzten Tag müsste er für die Anreise zum Flughafen reservieren.«
|60|Lindsey, von der Honey manchmal vergaß, dass sie erst achtzehn war, meinte nur: »Die meisten Leute fahren schon am Vorabend nach London.«
Honey tippte sich mit dem Flugticket nachdenklich an die Lippen, während sie alles noch einmal überdachte. Sie sah Lindsey in die Augen, die dunkel waren wie ihre eigenen. »Das heißt, er wäre morgen in Richtung Flughafen aufgebrochen.«
»Was sonst noch?«
Honey schaute zu Seite. »Er hat Ahnenforschung betrieben. Trotzdem finde ich keine Geburts-, Heirats- oder Sterbeurkunden in seinem Gepäck. Das ist doch komisch.«
Lindsey seufzte und blickte auf die Uhr. »Jemand hat ihn umgebracht.«
»Glaubst du das wirklich?« Honeys Augen weiteten sich, und eine Mischung aus Furcht und Erregung wallte in ihrem ansehnlichen Busen auf. Die Möglichkeit war ihr auch schon in den Sinn gekommen, aber Beweise hatte sie dafür keine. War Lindsey etwas aufgefallen, das ihr entgangen war?
Doch Lindsey grinste nur und sagte: »Das hab ich doch nur so dahingesagt – weil ich im Augenblick einfach keine Zeit habe, mir groß Gedanken zu machen.« Sie schaute noch einmal auf die Uhr. »O je! Jetzt muss ich mich aber schleunigst umziehen. Ich habe da noch eine Bar zu betreuen.«
»Wo nimmst du bloß die Energie her!«
Lindsey drückte ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange. »Von meiner Mutter geerbt, genau wie mein Superaussehen.«
»Wirklich?«
Honey musterte ihr Spiegelbild in der Glasfront einer Vitrine.
Lindsey legte ihr liebevoll den Arm um die Schulter. »Schau nur«, sagte sie und schmiegte ihren Kopf an den ihrer Mutter. »Wir sehen eher wie Schwestern aus als wie Mutter und Tochter. Schnell, sag mir noch, ob du einen superattraktiven Polizisten kennengelernt hast?«
|61|Honey hatte gerade den Mund aufgemacht und wollte dies verneinen. Da fiel ihr Doherty ein.
Lindsey war ein schlaues Mädchen. Viel zu schlau für ihr Alter, überlegte Honey.
»Mutter, du wirst rot.«
»Nein, nein, nein, nein, nein. Das sind nur die üblichen Hitzewellen.«
Mit einem amüsierten Blick blieb Lindsey mit ihren langen, braungebrannten Beinen noch einmal bei der Tür stehen, ein freches Blitzen in den Augen. »Du magst ja meine Mutter sein, aber du bist auch eine Frau. Ich glaube, es wird langsam Zeit, dass du nicht nur für mich lebst. Gönn dir ein bisschen Romantik, Mutter. Das hast du dir verdient.«
Honey schnappte nach Luft. Als Geoff damals bei dem Bootsunfall umgekommen war, hatte sich Honey geschworen, immer und überall Lindsey an die erste Stelle zu setzen. Deswegen war sie längeren Beziehungen weiträumig aus dem Weg gegangen. Sie hatte vorhergesehen, was für Probleme ihrer kleinen Familie daraus hätten entstehen können. Sie hatte diesen Vorsatz nie laut ausgesprochen und war also einigermaßen überrascht, dass Lindsey wusste, welche Opfer ihre Mutter gebracht hatte. Und was jetzt?
Doherty kam ihr schon wieder in den Kopf – wie eine Sahneschnitte mit einer dicken Schicht Zuckerguss. Honey lächelte vor sich hin. Sündhaft, aber lecker.
Lindsey zwinkerte ihr zu. »So gut ist der, he?«
Als Honey endlich allein war, zwang sie sich, wieder nur noch an den Fall des vermissten Touristen zu denken. Sie schmiegte das Kinn in die Hand und starrte auf die kahle Wand hinter dem kleinen Fenster. Wenn ihn jemand umgebracht hatte, wo hätte er ihn dann vergraben?
Resolut verbannte sie diesen Gedanken, zog die Reißverschlüsse der Reisetaschen wieder zu und schob die Taschen in die hinterste Ecke. Er hat einfach eine kleine Rundreise gemacht. Vielleicht hat er bei seinen Nachforschungen irgendeinen verschollenen Verwandten aufgestöbert und |62|holt mit ihm alles nach, was er in der Vergangenheit versäumt hat.
Sie zog die Tür hinter sich zu und machte sich daran, ein reizendes Ehepaar aus Ontario einzuchecken. Da schoss ihr ein anderer Gedanke durch den Kopf. Würde denn ein Mann, der ernsthaft an seinem Stammbaum forschte, seine Papiere in der Pension zurücklassen? Vielleicht hatte sie deswegen in seinem Gepäck nichts dergleichen gefunden. Aber warum hatte er dann seinen Pass und die anderen Dokumente nicht auch mitgenommen? Sie schüttelte den Kopf. Ihr Hirn arbeitete auf Hochtouren.
Geduldig warteten die Kanadier darauf, dass sie sich endlich wieder ihnen zuwandte.
»Wir hatten unter dem Namen Whittaker ein Zimmer reserviert«, sagte der freundliche Herr mittleren Alters.
Honey zwang sich ein routiniertes Hotellächeln auf die Lippen, trug die Namen der beiden im Computersystem ein, überprüfte ihre Pässe und reichte ihnen die Zimmerschlüssel, Speisekarten und einen Stadtplan.
»In Ihrem Zimmer finden Sie noch eine Mappe mit weiteren Informationen«, fügte sie hinzu, »aber wenden Sie sich jederzeit an uns, wenn Sie noch etwas brauchen.«
Sie dankten ihr und machten sich auf den Weg zum Zimmer. Daniel – Portier, Kofferträger, Hausmeister und geborener Kroate – half ihnen mit dem Gepäck.
Das Telefon klingelte. Honey erkannte die Stimme sofort. Doherty. Blaue Augen, dunkler Dreitagebart. »Hallo! Ich habe mir überlegt …«
»Ich auch. Wenn Mr. oder Mrs. Herbert ihren Gast Elmer Weinstock, Maxted oder wie er auch immer hieß ermordet hätten, wo hätten sie ihn dann vergraben?«
»Das wollte ich Sie aber nicht fragen.« Enttäuschung schwang in seiner Stimme mit.
Honey plapperte weiter, als hätte sie nichts gehört. Sie hatte seine Stimmung wohl bemerkt, aber seit sie diesen Auftrag übernommen hatte, war alles merkwürdiger und immer merkwürdiger |63|geworden, genau wie bei Alice im Wunderland. Außerdem war sie sich nicht sicher, wie sie auf Doherty reagieren sollte – noch nicht, erst einmal musste sie sich überhaupt an den Gedanken gewöhnen.
»Ich denke, wenn man eine Leiche sucht, dann würde man erst mal im Garten graben, oder nicht?«
Steve Doherty bildete sich einiges auf seine Erfolge bei den Damen ein. Seinem weltmännischen Aussehen und seinem kecken Charme konnte einfach keine widerstehen. Warum hörte diese Frau ihm nicht zu? Gerade wollte er ihr antworten, das könnte sie alles getrost vergessen, als ihm eine Idee kam: Schmier ihr Brei ums Maul, tu so, als könnte sich das wirklich zu einem ernsthaften Fall entwickeln.
Er räusperte sich. »Ich habe mir in dieser Sache ein paar Möglichkeiten noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Könnten wir das vielleicht bei einem Abendessen besprechen – Sie wissen schon, damit wir nicht dauernd unterbrochen werden?«
»Sie glauben also doch, dass man ihn umgebracht hat!«
Doherty spürte, wie die Wellen ihrer Begeisterung über ihn hinwegschwappten. Mehr, bitte mehr! Viel mehr! Jetzt durfte er ihr auf keinen Fall widersprechen. Also schwieg er. Er lächelte geheimnisvoll, wie er das vor dem Spiegel einstudiert hatte – so ähnlich wie Bogart das immer gemacht hatte. Linker Mundwinkel hochgezogen, rechter nach unten. »Sagen wir mal, ich habe da so eine Ahnung.«
Honey war ganz Ohr. Genau das wollte sie hören. In eine Morduntersuchung verwickelt zu sein, das war doch allemal besser als Geschirrspülen. »Im ›Zodiac‹?«
Steve klopfte sich in Gedanken anerkennend auf die Schulter. Was er doch für ein schlaues Kerlchen war! »Prima. Wann?«
»Irgendwann nach Mitternacht, sagen wir halb eins?«
Steve deckte die Sprechmuschel mit der Hand ab und fluchte. Dieser Schuss war gehörig nach hinten losgegangen. Das »Zodiac« war ein Restaurant unterhalb der North |64|Parade. Der Eingang befand sich an der Straßenseite. Über schmale Stufen gelangte man hinunter in einen Keller mit Tonnengewölbe, der unter der ganzen Straße entlangführte. Am anderen Ende hatte man durch einen verglasten Bogengang einen schönen Blick auf die North Parade Gardens. Dieser Park war im achtzehnten Jahrhundert angelegt worden und lag unterhalb der Straße. Ein wunderschönes Fleckchen Erde, am Tag voller Touristen, die auf den Bänken hockten, sich die nackten Füße massierten und schworen, nie wieder einen Gespensterspaziergang, einen Austen-Spaziergang oder einen Rundgang durch die Römischen Bäder zu machen.
Das »Zodiac« öffnete nicht vor neun Uhr abends und schloss erst gegen drei Uhr morgens. Deswegen trafen sich hier die Hoteliers und Kneipenwirte der Stadt, die nur zwischen Mitternacht und der Morgendämmerung frei hatten. Wie Vampire, dachte Steve Doherty, sie kommen nur nachts raus.
Steve ging im Geist seinen Dienstplan durch. Heute Abend bis zehn, und dann morgen wieder um sechs Uhr früh …
»Okay«, sagte er, »ich komme.« Er verzog das Gesicht, als ihm noch etwas einfiel. Heute Abend hatte er mit Sian Williams Dienst, und ein Spatz in der Hand …
Honey machte es ihm leicht. »Heute nicht. Eigentlich geht es diese Woche überhaupt nicht mehr. Wie wäre es mit Freitag in einer Woche?«
Sein ganzer Körper entspannte sich. An dem Tag änderte sich der Dienstplan. Da könnte er am nächsten Morgen wenigstens ausschlafen. Und Sian Williams würde dann in einer anderen Schicht arbeiten. Es war doch besser, wenn man die Frauen ordentlich getrennt hielt. Da verloren sie das Interesse nicht so schnell.
»Passt mir prächtig.«
Am Empfang war niemand außer Mrs. Spear, die den Staubsauger hin und her schob. Sie sang irgendwas mit, das sie auf ihrem Walkman hörte.
|65|Honey winkte ihr zu. Sie bemerkte es nicht.
An den Empfangsbereich schloss sich ein Wintergarten in völlig rahmenloser Bauweise an, ein extravagantes Extra, das sie nie bereut hatte. Durch die makellos sauberen Glasscheiben konnte sie die Abteikirche, die Mansardendächer und die hohen Schornsteine sehen, die wie riesige Arme über den grünen Hügeln aufragten, von denen die Stadt umgeben war. Wegen dieser Aussicht kamen die Touristen hierher. Weshalb hatte also Elmer Maxted in einer billigen Pension gewohnt, in der sonst nur Leute mit sehr schmalem Geldbeutel abstiegen? Sein Gepäck sah teuer aus, und wenn auch im Fernsehen die Privatdetektive immer als bettelarm dargestellt wurden, musste das ja nicht unbedingt stimmen.
Ihr Gedankengang wurde rüde unterbrochen. »Honey! Honey, Schätzchen!«
Sie erkannte die Stimme von Mary Jane Jefferies, die seit Jahren Stammgast im »Green River« war.
Die hochaufgeschossene Frau im quietschrosa Kaftan über gleichfalls quietschrosa Hosen kam herangeschwebt und schwenkte einen Busfahrplan für Bath. »Ich habe ein Problem«, verkündete sie, packte Honey bei der Schulter und schob sie vor sich her in den Salon. »Vielmehr glaube ich, dass Sie ein Problem haben«, fügte sie beinahe im Flüsterton hinzu. »Setzen Sie sich.«
Honey gehorchte. So war das eben mit Mary Jane. Auch das Gespräch, das sie nun führen würden, war für Honey nichts Neues mehr. Mary Jane war Doktor der Parapsychologie, eine Göttin der Gespenster, wie sie Honey bei ihrem ersten Treffen erklärt hatte.
Damals war Honey sprachlos vor Staunen gewesen. Ja sicher, sie wusste, dass das Haus alt war und nachts ununterbrochen ächzte und stöhnte, aber war das nicht bei allen alten Gebäuden so? Und verglichen mit Stonehenge oder den Römischen Bädern war es eigentlich doch noch recht jung. Die Fassade war eindrucksvoll und versprach einigen Komfort. Die großen, länglichen Fenster leuchteten nachts bernsteinfarben |66|und blitzten bei Tag im Sonnenlicht. Das Dekor war frisch und passte zum Alter des Hauses. Honey hatte keine Probleme damit, in diesem ächzenden Gemäuer zu schlafen. Zweihundert Jahre, was war das schon?
An amerikanischen Standards gemessen sei das eine lange Zeit, hatte Mary Jane erklärt, und dabei war es geblieben. Vielleicht lag es daran, dass Honey im Hotel, verglichen mit Mary Jane, noch ein Neuankömmling war, aber manchmal hatte es den Anschein, als gehörte das Haus der großen, schlaksigen Frau.
Während Mary Jane fröhlich weiterplapperte, spazierte ein emeritierter Universitätsprofessor am Fenster vorüber, begleitet von Honeys Mutter.
Hoffentlich brennen die zwei zusammen durch, dachte Honey.
Die Stimme ihrer Mutter drang durchs Fenster. »Früher haben Familien zusammengehalten, und Ehen wurden fürs ganze Leben geschlossen …«
Und das von einer dreimal verheirateten Frau. Honey hätte sich fast verschluckt.
»Was dieses Problem betrifft«, sagte Mary Jane gerade.
»Mehr als nur ein Problem, würde ich meinen«, murmelte Honey und folgte dem Professor und ihrer Mutter mit mürrischem Blick, bis sie aus ihrem Gesichtsfeld verschwunden waren.
Ihre Mutter machte für ihr Leben gern die Bekanntschaft von Hotelgästen oder half irgendwo im Haus aus. Sie hielt sich für die offizielle Gesellschaftsdame des »Green River Hotels«, etwa so wie es sie auf Kreuzfahrtschiffen gab.
Zumindest tauchte sie dann nicht in der Küche auf. Gloria Cross hatte aus erster Hand erfahren, dass Smudger durchaus in der Lage war, nach dem großen Fleischermesser zu langen, wenn sie sich in seinen Verantwortungsbereich einmischte. Honey war da ganz auf seiner Seite. Gute Chefköche waren schwer zu finden, ständig störende Mütter dagegen im Dutzend billiger.
|67|Mary Jane unterbrach ihren Gedankenflug. »Ich habe ihr gesagt, dass sie sich irrt. Er kommt nie von dieser Seite des Hauses. Er erscheint immer aus Nummer fünf und geht dann den Treppenabsatz entlang. Mrs. Goulding behauptet allen Ernstes, dass er aus dem Wandschrank kommt und sie durchs Zimmer verfolgt. Na ja! Alles Unsinn. Da ist wohl der Wunsch der Vater des Gedanken, und der Rest ist Einbildung.«
Honey starrte die große, hagere Frau an, die neben ihr saß, und versuchte, den Sinn dieses Gesprächs zu erfassen. »Ein Mann verfolgt sie durchs Zimmer?«
»Sir Cedric! Sie glaubt, er kommt aus ihrem Wandschrank, und dabei wissen Sie und ich doch genau, dass er im Schrank in Nummer zwölf lebt – beziehungsweise sich dort materialisiert.«
»Ach so. Unser Hausgespenst.«
Es klang völlig abgedreht, aber Honey hatte sich inzwischen daran gewöhnt. Mary Jane war in den Siebzigern und behauptete, alles zu wissen, was es über das Jenseits und die dort ansässigen Geister zu wissen gab. Deswegen kam sie ja immer wieder ins »Green River« zurück, das ihrer Meinung nach besonders gern von den Geistern der Verblichenen heimgesucht wurde. Insbesondere hatte es ihr der Gentleman aus dem achtzehnten Jahrhundert angetan, der im Schrank in Zimmer zwölf residierte – in dem Zimmer, das Mary Jane immer lange im Voraus reservierte. Sir Cedric war ihr ganz spezieller Liebling.
Honey hörte geduldig zu. »Haben Sie Sir Cedric in letzter Zeit gesehen?«
Mary Jane schaute gekränkt. »Nein. Aber das soll nicht heißen, dass er mich verlassen hat. Schließlich bin ich seine Groß-groß-groß-groß-groß-Nichte.«
Und das war der Haken, überlegte Honey. Um nichts in der Welt hätte sie ihre alte Freundin verärgern wollen, aber sicherlich konnte man doch nicht behaupten, einen Geist tatsächlich zu besitzen, selbst wenn man mit ihm verwandt war. |68|Aber es war zwecklos, Mary Jane das begreiflich machen zu wollen. Sie hatte schon vor langer Zeit mit Bestimmtheit erklärt, es gebe auch für die Verblichenen feste Normen. So wie es aussah, hatte sie persönlich das Regelbuch dazu geschrieben.
»Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte Honey und tätschelte der Amerikanerin die Hand mit den Leberflecken. »Ich bin sicher, dass sie sich das alles nur einbildet. Und wie Sie selbst wissen, würde Sir Cedric Sie doch nicht verlassen und sich mit einer wildfremden Frau abgeben.«
Mary Janes Kummerfalten glätteten sich. »Nein! Natürlich nicht! Schließlich steht hier die Familienehre auf dem Spiel. Das habe ich ihr auch erklärt, aber sie hat wahrhaftig die Frechheit besessen, anzuzweifeln, dass Sir Cedric wirklich einer meiner Vorfahren war. Unverschämtheit! Ich habe ihr ins Gesicht gesagt, dass ich den Stammbaum höchstpersönlich erforscht habe.«
Bei der Erwähnung des Wortes Stammbaum horchte Honey auf. »Mary Jane«, setzte sie an, »es stimmt doch, dass man Geburtsurkunden und so was braucht, wenn man einen Stammbaum aufstellen will?«
»Das wäre am besten. Aber wenn es da Lücken gibt, findet man immer Spezialisten, die einem dabei helfen können.«
»Wirklich?«
»Natürlich. Mit wenigen Informationen – ein bisschen Familienklatsch und ein paar Gerüchten – kann man ganz schön weit kommen.«
»Wo würde man denn am besten anfangen, seinen Stammbaum zu erforschen, wenn man zufällig Amerikaner ist?«
Mary Janes strahlend blaue Augen funkelten noch ein bisschen mehr. »Das kommt drauf an. Ich kann Ihnen sagen, wo ich begonnen habe. Wollen Sie sich mit Ihren Ahnen beschäftigen?«
Honey schüttelte den Kopf, denn aus dem Empfangsbereich hörte sie die Stimme und die Schritte ihrer Mutter. »Darüber will ich lieber nichts Genaueres wissen.«
|69|Mary Jane schien die Störung nicht bemerkt zu haben. Ihre Augen bekamen einen glasigen Ausdruck, als hätte sich die jenseitige Welt, an die sie so fest glaubte, vor die Wirklichkeit geschoben.
»Kirchenbücher sind nützlich. Und natürlich das örtliche Standesamt. Aber zunächst würde ich mit meinen Verwandten sprechen.«
Honey konnte nur mit Mühe ihre Gedanken von den Geräuschen aus dem Empfangsbereich abwenden. »Würden Sie so etwas für mich übernehmen? Ich könnte Ihnen ein paar grundlegende Informationen geben. Der Name ist Maxted.« Sie runzelte die Stirn. »Das klingt nicht gerade nach Bath, nicht mal nach North Somerset.« Sie zuckte die Achseln. »Mehr habe ich nicht. Ich würde wirklich gern wissen, ob sich ein Amerikaner namens Elmer Maxted in den letzten paar Wochen mit jemandem in Verbindung gesetzt hat, um mehr über seine Familie zu erfahren.«
Mary Jane nickte. Ihr Gesicht strahlte vor Begeisterung. »Ich fange gleich damit an. Also« – sie wühlte in ihrer Handtasche nach einem Kugelschreiber –, »in Ihrem Fall spreche ich am besten zuerst einmal mit Ihrer Mutter …« Sie nahm Honey wohl nicht ab, dass es nicht um ihre Familie ging.
»Nein, das haben Sie falsch verstanden. Ich habe Ihnen doch erklärt, dass es nicht um mich geht.«
Sie bemerkte Überraschung, sogar Enttäuschung auf Mary Janes Gesicht.
»Oh!«
Honey senkte die Stimme zu einem Flüstern und lehnte sich ganz nah zu ihr herüber. »Dieser Mr. Elmer Weinstock alias Maxted, den ich erwähnt habe, wird vermisst. Er hat hier Ahnenforschung betrieben.«
Mary Janes Glubschaugen, mit denen sie ohnehin leider schon gestraft war, drohten ihr nun beinahe aus dem Kopf zu fallen. »Was Sie nicht sagen!«
»Glauben Sie, Sie könnten dabei helfen?«
|70|Mary Janes Reaktion war alles andere als der unterkühlte Philip-Marlowe-Ansatz. Eher glich sie einer kleinen Feuerwerksrakete, die jeden Augenblick explodieren würde.
»Ja gewisssss«, zischte sie, verlängerte das Wort im vergeblichen Bemühen, ihr Entzücken zu zügeln. Ihr Gesicht glühte, und ihre Augen funkelten. »Ich weiß genau, was er da gemacht hat. Zuerst hat er bestimmt mit Bob the Job gesprochen.«
Sie bemerkte Honeys verwirrten Gesichtsausdruck.
Mary Jane erklärte: »Der ist die erste Station, wenn man in dieser Stadt seine Ahnenreihe erforschen möchte.«
Honey ließ ihre Augen zum Empfang wandern und machte Mary Jane mit einer leichten Kopfbewegung darauf aufmerksam, dass ihre Mutter nahte. »Ich muss jetzt weg, aber ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie Nachforschungen anstellen würden.«
Mary Jane kritzelte Elmers Namen auf die Rückseite des Busfahrplans. »Wenn er ernsthaft auf der Suche war, dann weiß Bob sicher alles über den Mann.«
»Meine Tochter würde ganz bestimmt nur zu gern etwas über Ihre Forschungen zum Pilgerpfad hören.«
Die Stimme ihrer Mutter näherte sich bedrohlich, und Honey setzte zum Sprint in Richtung Verandatür an.
»Nun, ich glaube nicht, dass ich im Augenblick die Zeit …« Eine Männerstimme. Der Professor versuchte, ihre Mutter abzuwimmeln – Gott sei Dank!
»Überlassen Sie das nur mir«, meinte Mary Jane, während Honey durch die Glastür in den Garten flüchtete.
Die Seiten der Zeitschriften auf dem Tisch bei der Tür flatterten im Luftzug. Mary Jane stand auf und schloss die Tür. Sie sagte etwas, das Honey nicht hören konnte. An der Bewegung ihrer Lippen konnte sie ablesen, dass sie ihr noch einen schönen Tag wünschte.
»Den mach ich mir bestimmt«, rief Honey zurück, winkte und flitzte davon.
Irgendwo in der Stadt gab es ein Taxi, das Maxted durch |71|die Gegend gefahren hatte, ehe er verschwunden war. Cora hatte von einem schwarzen Ford berichtet, auf dessen Tür in leuchtend roten Buchstaben der Firmenname »Busy Bee Taxi Cab Company« prangte. Damit konnte sie doch einmal anfangen.