|123|Kapitel 15

Sie dachte nicht an Säcke. Sie dachte nicht einmal an Mord, als sie die Abkürzung zur Guildhall nahm. Zum ersten Mal, seit sie sich als Amateurdetektivin betätigte, waren ihre Schultern nicht verspannt. Sie ging ihre Aufgabe lockerer an. Ihre Gedanken waren für alle Möglichkeiten offen. Sie waren wie eines von diesen großen weißen Blättern Papier, auf denen man Probleme mit grünem Filzstift einzeln festhielt, ringsum von allen Einflussfaktoren umgeben.

Der Guildhall-Markt war ein phantastischer Ort, wo Stände mit Antiquitäten Seite an Seite mit denen zu finden waren, die eine große Auswahl von Käse, Knoblauchwurst und Trockenblumengestecken anboten. Sie schnupperte, genoss die Mischung der vielen verschiedenen Aromen, die ihr einen klaren Kopf bescherte. Und plötzlich war er da – der unverwechselbare Duft orientalischer Gewürze. Sie sah sich um, in der Hoffnung, die Quelle dieses Geruchs und vielleicht gleich einen Verdächtigen zu finden. Eigentlich blöd. Höchstwahrscheinlich würde ja kein Schild da stehen, auf dem stand: »Hier bekommen Sie kleine Säcke: hervorragend geeignet, um Köpfe von Mordopfern zu verhüllen.«

Als sie sah, woher der Geruch kam, und den Standbesitzer erkannte, musste sie lächeln. Jeremiah Poughton – derselbe, der auf Caspers Befehl den Dienst an ihrer Rezeption übernommen hatte. An seinem Gesichtsausdruck ließ sich unschwer ablesen, dass er das Hotelgewerbe nicht vermisste.

Der Duft von Nelken, Zimt, Lorbeerblättern, Kurkuma und eine Unmenge anderer Aromen stürmten auf sie ein und fegten in ihrem Kopf alle Exzesse des Vorabends weg. Sie war eingehüllt in ein exotisches Klischee: ein Hauch von Orient, |124|persische Märkte, die Alhambra und ein üppiges Fest für alle Sinne. All das stand zum Verkauf, wurde unter einem Schild angeboten, auf dem in grellroten Buchstaben auf apfelgrünem Grund marktschreierisch HERBS AND SPICE AND ALL THINGS NICE verkündet wurde.

Es war Jeremiahs Stand. Er winkte ihr, ehe er einer Kundin ein strahlendes Lächeln zuwarf. Die machte ihm gerade das Leben schwer.

»Und was ist das da?« Die Stimme der Frau war etwa so liebenswert wie Eisenspäne.

»Kurkuma, Süße.« Jeremiah stemmte eine Hand in die schlanke Hüfte. Seine Beine waren in hautenge rehbraune Wildlederhosen gehüllt. Er trug eine dazu passende Weste, die vorn mit Blumengirlanden bestickt war, und ein Hemd im Bauernstil.

»Und das?« Die Frau stubste mit dem Finger an einen anderen kleinen Sack und schnupperte.

»Paprika, Darling.« Er grüßte Honey mit einem Nicken. »Auf der Suche nach ein wenig Exotik, um Ihr Leben aufzupeppen, was?«

Die Frau schien nicht zu merken, dass er mit jemand anderem sprach. Sie deutete mit ihrem Wurstfinger auf den Sack.

»Hübsche Farbe. Schmeckt es auch nach was?«

»Jede Menge Aroma, Schätzchen.«

Die Frau runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht recht. Normalerweise kaufe ich so was nur, wenn es von Menschenhand unberührt ist. Am liebsten in Plastiktütchen und von einem Regal im Supermarkt. Sind Sie sicher, dass Ihre Hände wirklich sauber sind?«, fragte sie, und die kleinen Augen waren nur noch Schlitze in ihrem Puddinggesicht.

Jeremiah warf ihr einen entrüsteten Blick zu. »Wenn Sie was in Plastik haben möchten, dann nichts wie weg zum nächsten Supermarkt.«

Jeremiah engagierte sich für alles Grüne, für fairen Handel |125|und freie Liebe und alles, was nicht verpackt und überteuert war. Sein Ton war entschlossen und duldete keine Widerrede.

Die Frau war empört, zog sich den Schaffellmantel ein wenig enger um den Leib und schlurfte weiter zum nächsten Stand.

Jeremiah erholte sich rasch. »Man kann nicht immer gewinnen! Na ja, sonst ist jede Menge Nachfrage für die Sachen, die ich verkaufe.«

Jeremiah Poughtons Stand war nicht schlecht. Er war ziemlich vollgestopft – auf den Holzregalen im Hintergrund drängten sich unzählige Säcke mit Pulvern in leuchtenden Farben, Bohnen, Nüssen und anderen Dingen, die sie nicht kannte. Kräutersträuße, Thymian, Petersilie, Fenchel und Salbei hingen von Stangen herunter, dazwischen einige ziemlich fragwürdig aussehende Bündel.

»Jeremy, darf ich Sie mal was fragen?«

Seine Lider zuckten nervös. »Wenn es um eine Verabredung geht, ich bin nicht Ihr Typ.«

Sie lächelte. »Nein, und ich nicht Ihrer.« Sie schaute seinen Stand an, blickte zum Schild hinauf, und auf ihrem Gesicht spiegelte sich Amüsement. »Netter kleiner Standplatz, Jeremiah. Herbs and Spice and All Things Nice.«

Plötzlich strahlte Jeremiah und wedelte aufgeregt mit den Händen. »Gewürze geben dem Kochen ein wenig Farbe – Sie sollten es mal versuchen.« Die Worte kamen rasend schnell. »Der Stand gehört mir und Ade.« Er nickte zu seinem Partner hin, der ein grünes T-Shirt, ein farblich passendes Seidentuch und Hosen trug, die zu eng waren, um noch als anständig durchzugehen. Wie eine unreife Banane, dachte Honey.

Er lächelte kurz, packte dann ein halbes Pfund getrocknete Bohnen in eine Tüte. Sie waren für einen Penner gedacht, der drei Ringe in der Nase hatte und sonst die übliche Uniform trug – zerlumpter Parka, halb rasierter Kopf und halb verhungerter Hund.

»Mach ich. Aber heute nicht.« Honey hakte die Daumen in den Bund ihrer Jeans.

|126|Er reichte ihr eine kleine braune Tüte. »Geht auf Kosten des Hauses.«

Honey grinste. »Kann ich das meiner Mutter ins Curry mischen?«

»Was Sie mit Ihrer Mutter machen, ist Ihre Sache. Es ist eine kostenlose Probe – die geben wir auch unseren anderen Kunden.«

Sie sah ihn fragend an. »Wie scharf ist das Zeug?«

Honey ließ die Papiertüte in ihrer Tasche verschwinden.

»Also, nun heraus damit«, sagte er. »Was wollen Sie wissen?«

Sie fragte ihn nicht, woran er das erraten hatte. Einem geschenkten Gaul und so weiter.

»Es geht um diese Säcke …«

Die Säcke mit den Gewürzen waren geöffnet und teilweise aufgerollt, sodass man den farbenfrohen Inhalt sehen konnte. Honey prüfte den Stoff nachdenklich mit den Fingern.

»Das sind einfach Säcke«, antwortete Jeremiah mit einem lässigen Schulterzucken. Sie bemerkte, wie er seinem Partner einen unruhigen Blick zuwarf.

»Einen solchen Sack hat man kürzlich gefunden. Er war über den Kopf des Mannes gestülpt, den sie neulich am Wehr aus dem Fluss gefischt haben.«

Jeremiah zuckte und richtete sich auf. Er lächelte nicht mehr. »Ermordet?«

»Ja.«

»Wie schrecklich! Der arme Mann! Mit Gewürzen erstickt und dann mit einem stumpfen Gegenstand erschlagen.«

An seinem Gesichtsausdruck und seiner Stimme konnte sie nicht ausmachen, ob er Witze machte oder seltsam fasziniert war. Dazu kannte sie ihn nicht gut genug. Aber diesen Zahn musste sie ihm ziehen.

»Sie wissen doch, dass ich die Verbindungsperson des Hotelfachverbandes zur Kriminalpolizei bin?«

Einen solchen förmlichen Titel hatte man ihr nicht gegeben, aber die Bezeichnung kam der Wahrheit schon ziemlich nah.

|127|Er schaute sie verdutzt an.

Sie hatte ihn auf dem falschen Fuß erwischt und nutzte das aus. »Er ist vor drei Tagen ermordet worden. Irgendwann am Samstagabend.«

»Furchtbar.«

»Wo waren Sie letzten Samstag?«

Einen Augenblick lang erstarrten seine Gesichtszüge. Dann lachte er nervös. »Das ist doch wohl ein Witz! Solche Fragen dürfen Sie mir nicht stellen. Sie sind keine Polizistin, Liebling.«

Sie zog eine Augenbraue in die Höhe. »Ein Sack, der nach Gewürzen riecht? Davon haben Sie hier jede Menge.« Sie breitete die Arme aus, deutete auf die Reihen kleiner Säcke. »Ein Freund von mir, der wirklich Kriminalbeamter ist, würde sich sehr dafür interessieren.«

»Das würden Sie doch nicht machen!«

Sie nickte. »Doch.«

Er schaute nervös zu seinem Partner, dann wieder zu Honey zurück. Seine Lider flatterten. Er lehnte sich näher zu ihr, und sein Parfüm übertönte noch die Gewürze. »Ich war aus, habe meinen Freund ein bisschen hintergangen«, sagte er leise. »Sie verraten doch nichts, oder?«

Honey starrte auf Jeremiahs Partner, der immer noch bediente. »Bei wem waren Sie?«

Er fuhr sich mit der Zunge über die Unterlippe. »Das kann ich Ihnen wirklich nicht …«

»Vielleicht sollte ich Ihren Freund fragen.« Sie machte einen Schritt zur Seite. Jeremiah folgte ihr wie ein Spiegelbild.

»Nein! Das ist nicht nötig.« Er blickte über die Schulter.

Ade unterhielt sich gerade mit dem jungen Mann vom Kaffeestand.

»Andrew Charlborough – bei dem war ich.« Der Name wurde blitzschnell hervorgezischt.

Honey zog die Stirn kraus. Eigentlich überraschte sie kaum noch etwas, was Menschen mit Status und Geld in ihrer Freizeit trieben. Sie hatte Andrew Charlborough auf einer Reihe |128|von Auktionen gesehen. Er hatte auf sie immer wie die Sorte Mensch gewirkt, der hübsch bürgerlich um elf mit einem guten Buch und einer treuen, langjährigen Ehegattin im Bett lag.

»Sie meinen den, der sich so für Antiquitäten interessiert?«

Jeremiah nickte. »Und ehe Sie falsche Schlüsse über den Mann ziehen: Er hatte mich eingeladen, weil ich ihm ein Angebot für ein paar Pflanzen machen sollte, die er haben will. Ein Typ, der für ihn arbeitet und manchmal unsere Sachen ausfährt, hat uns gesagt, dass er sich für tropische Pflanzen interessiert.«

»Und weswegen soll Ihr Partner nichts davon erfahren?«

Jeremiah kaute auf der Unterlippe. »Ich habe den Deal für mich behalten. Und das Geld auch. Natürlich.«

Honeys Gedanken flitzten bereits in eine andere Richtung. »Was passiert denn mit den Säcken, wenn sie leer sind?«

Jeremiah zuckte die Achseln. »Meistens verschenken wir die. Oder werfen sie weg. Manche Leute kaufen auch einen ganzen Sack – die Großkunden.«

Sie schaute ihn prüfend an.

Er brauchte nicht lang, um ihren Blick zu deuten.

»Ich habe keine einzige Killerzelle in meinem ganzen Körper!«

Sie schüttelte den Kopf. Man konnte einen Mörder nicht nur am Aussehen erkennen. Dass er leugnete, hatte auch nichts zu bedeuten. Sie würde sich hier noch nicht festlegen.

»Können Sie mir eine Liste Ihrer Stammkunden geben – der Großabnehmer?«

Jeremiah zuckte mit den mageren Schultern. »Das sind nur wenige. Wir verschicken keine riesigen Mengen, das ist nicht unser Stil. Ein halbes Pfund hier, ein Pfund da. Das nenne ich schon Großeinkauf, Honey.«

Honey hielt den Blick starr auf Jeremiahs Gesicht gerichtet. »Bitte. Es wäre mir eine große Hilfe.«

Jeremiah begriff, dass er ihr hier entgegenkommen musste, seufzte und nickte. »Ich will mal sehen, was ich machen kann.«