Sie stand wie angewurzelt da, konnte ihre Augen kaum von dem Volvo-Kombi abwenden. Casper sollte ruhig weiter über seine Neuerwerbung salbadern. Sie würde sich jedenfalls schnurstracks auf den Weg zur Polizeiwache in der Manvers Street machen.
»Ist das Ihr Auto?«, fragte sie den Mann, der ihr als Simon Tye vorgestellt worden war.
Simon antwortete, ehe sich Casper einmischen und anmerken konnte, dass sie sich doch eigentlich nach Armbanduhren erkundigen wollte.
»Wie es der Zufall so will, gehört er einem Freund von mir.«
»Mervyn Herbert?«
Er grinste. »Ich weiß, ich weiß. Ich hätte ihn längst bei der Polente vorbeibringen sollen Aber ich war hinter dieser Uhr her, und meine eigene Karre streikt gerade wieder mal.«
Seine unverhohlene Ehrlichkeit schockierte sie.
»Ich wollte diese Uhr«, wiederholte er, als er ihren Gesichtsausdruck bemerkte. »Der Preis war in Ordnung, und momentan hatte ich noch eine Transportmöglichkeit. Okay?«
Das klang ziemlich einleuchtend. Aber hier häuften sich die Indizien. Er hatte Mervyn gekannt. Er hatte gewusst, dass der Armbanduhren sammelte. Er wusste auch, dass man inzwischen dessen Leiche gefunden hatte.
Er erwischte sie dabei, wie sie ihn voller Neugier anschaute. »Sagen Sie denen, ich bring das Ding vorbei.«
Seine Unverfrorenheit verblüffte sie. Eigentlich hatte sie Doherty von den Armbanduhren erzählen wollen. Jetzt |211|würde sie ihm zunächst berichten, dass sie Mervyns Auto gefunden hatte.
Der diensthabende Sergeant führte sie in ein Verhörzimmer. Außerdem brachte er ihr Tee und Kekse.
Honey lutschte an einem Vollkornkeks mit Schokoladenüberzug, den sie in ihren Tee getunkt hatte. Schokoladenmuffins und Schokoladenkekse, nicht gerade die gesündeste Ernährung, aber man musste nehmen, was man kriegen konnte. So zwischen Tür und Angel zählte es bestimmt auch in der Kalorienbilanz nicht!
Durch das Fenster konnte sie die georgianischen Gebäude am unteren Ende der Manvers Street sehen. Langsam wanderten ihre Augen über die Hinterhöfe, die von Unkraut überwuchert waren und wo seltsame Promenadenmischungen sich miteinander paarten und sich ineinander verbissen. Unter den Häusern befanden sich tiefe Keller. Manche gingen auch unter der Straße noch weiter, beherbergten hinter Eisengittern alle möglichen Werkstätten. Manche Keller waren finster und feucht. Andere hatte man zu sehr schönen Souterrainwohnungen oder zu Ateliers umgebaut. Die besten, unmittelbar an den Hauptstraßen, waren schicke Weinbars und noble Restaurants geworden.
Doherty kam hereingestürmt.
»Ich habe heute Morgen Mervyns Auto gesehen.«
Er erstarrte. »Wo?«
Sie erzählte es ihm. »Ein Typ namens Simon Tye hat mir gesagt, dass er sich den Wagen nur ausgeliehen hat und vorbeibringt, sobald er ihn nicht mehr braucht.«
»Machen Sie keine Witze!«
Sie schüttelte den Kopf. »Sie können ihn im Halteverbot vor seinem Geschäft erwischen, wo er gerade eine Uhr auslädt.«
Er erteilte sofort den Befehl, das Auto und Simon Tye dingfest zu machen.
»Aus Ihrer offensichtlichen Gelassenheit schließe ich, dass ihn die Sache mit dem Mord nicht gerade nervös gemacht hat.«
|212|Sie zuckte die Achseln. »Nein, nervös wirkte er nicht. Aber man kann ja nie wissen, oder?«
Er schüttelte den Kopf und erklärte ihr, die Gerichtsmedizin bestände darauf, dass die Zahl sechs, die sich in dem morschen Stück Holz eingeprägt hatte, etwas mit einem Haus am Fluss zu tun hatte. Aber mit welchem Haus? Und in welcher Straße? Es gab jede Menge Häuser und Straßen mit Zugang zum Fluss.
Unvermittelt blickte Honey auf. »Hat Simon Tye ein Haus in der Nähe des Flusses?«
»Ich glaube nicht, aber das können wir überprüfen.« Er musterte sie, als wäre er nicht ganz sicher, was er als Nächstes sagen sollte. »Ist der Tee in Ordnung?« Er schlürfte einen Schluck aus seiner Tasse.
»Mh«, murmelte sie. »Mir scheint, Sie wissen, wo er wohnt.«
»Er ist bei uns hinlänglich bekannt. Manchmal ist er ein bisschen zu clever.«
Jetzt schaute sie gedankenverloren drein und nippte an ihrem Tee. Sie war sich immer noch nicht ganz sicher.
Da überraschte Doherty sie. »Haben Sie vielleicht nächsten Mittwochabend Zeit? Wer weiß, vielleicht haben wir was zu feiern.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe eine Einladung zu einer Veranstaltung in einem Buchladen.«
Er sah ziemlich enttäuscht aus. »Wie Sie meinen.«
»Genau.«
Sie spürte, dass er sie fragen wollte, ob sie allein dorthin gehen würde, es sich aber gerade noch verkniffen hatte. Aber irgendwas war im Busch. Er zappelte herum, rieb sich die Hände und schaute sie starr an, ohne mit der Wimper zu zucken. Es kam ihr seltsam vor, dass er nicht sonderlich viel Begeisterung an den Tag legte und darauf drängte, die Spur von Simon Tye und dem Volvo-Kombi weiter zu verfolgen.
»Okay«, sagte sie und hatte das unbestimmte Gefühl, dass er gern gefragt würde, was eigentlich los sei. »Sie sehen aus, |213|als wären Sie gestern Abend bei einem Supermodel gelandet. Was ist?«
»Wir haben ihn!«, platzte es aus ihm heraus.
»Und das feiern Sie jetzt mit einer Tasse Tee?«
Sie erhob ihren Henkelbecher. Auf der einen Seite prangte der Spruch »Ich liebe Bath«. Diese Seite drehte sie zu ihm hin. »Schön, dass sich einmal ein Polizist für den Fremdenverkehr einsetzt, wenn auch auf seine eigene bescheidene Weise.«
»Ich meine das ernst. Robert Davies sitzt in Untersuchungshaft. Wir haben ihn auf einem Kanalboot bei Bathampton gefunden, wo er mit seiner Freundin lebt.«
»Ich meine es auch ziemlich ernst. Warum, glauben Sie, hat der Hotelfachverband sich in die Polizeiarbeit eingemischt? Nicht, weil wir nichts Besseres zu tun haben.«
Doherty schlürfte weiter Tee und seufzte zufrieden. Das konnte genauso mit dem Tee wie mit dem Fall zu tun haben, über den sie sprachen.
»Wir können noch nicht feiern«, erklärte er. »Nicht, ehe ich nicht ein volles Geständnis habe.«
Honey zog die Stirn kraus. »Sie haben nicht einmal Beweise.«
Er zuckte zusammen, als hätte sie ihm rechts und links eine Ohrfeige gegeben.
Zu ihrer großen Überraschung knallte er seinen Henkelbecher auf den Schreibtisch. »Das kann ich ja wohl am besten beurteilen«, sagte er und verschränkte die Arme noch fester als sonst, so dass sich seine Muskeln deutlich unter seinem Hemd abzeichneten. »Wir sind die Profis. Sie sind nur eine Kontaktperson.«
Ihre Augen weiteten sich. »Ich bin also eine Person, ja?«
»Eine Person.«
Jetzt war es an ihr, den Becher auf die Tischplatte zu knallen. Sie stand auf, stützte sich mit den Fingerknöcheln ab, so dass sie halb über dem Schreibtisch hing, der zwischen ihnen stand.
Doherty zuckte zusammen.
|214|Honeys Stimme war ohnehin rau. Jetzt knatterte sie wie eine Maschinengewehrsalve.
»Warum sollte Robert Davies einen Amerikaner umbringen, den er nicht einmal kannte?«
Doherty holte tief Luft. »Wir wissen nicht mit Bestimmtheit, dass er beide ermordet hat. Dazu werden wir ihn verhören: Mervyn Herbert und Elmer Maxted waren etwa gleich groß. Wir glauben, dass er sie miteinander verwechselt hat – ein Fall wie aus dem Lehrbuch.« Da war sie wieder, diese Selbstzufriedenheit.
Honey rümpfte die Nase. »Meiner Meinung nach ein bisschen zu dramatisch.«
»Schauen Sie mal«, sagte er und äffte ihre Haltung nach. Jetzt stützten sie sich beide auf ihre Fingerknöchel, und ihre Nasen waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. »Vertrauen Sie mir in dieser Sache. Davies hat beide Morde begangen. Das garantiere ich Ihnen.«
Seine Augen waren wie rauchblaue Seen und verrieten nur zu leicht, was er dachte. Sie hatte sich über seine Beurteilung der Lage lustig gemacht.
Honey richtete sich auf. »Lassen Sie uns die Sache doch einmal durchgehen. Was ist mit den Armbanduhren? Waren die gestohlen?«
»Wir haben keinerlei Angaben dazu.«
»Sie haben gar nicht nachgesehen.«
»Das ist auch nicht nötig!« Er spreizte die Hände und zuckte die Achseln. Hinter ihm leuchteten die Rückseiten der georgianischen Häuser wie Bienenwaben, eines sah ziemlich wie das andere aus, weil man damals so baute: wunderschöne, sanft geschwungene Häuserzeilen, Plätze und Terrassen, scheinbar völlig identisch und in angenehmster Symmetrie. Aber identisch waren sie beileibe nicht. Die Fronten ähnelten einander; in der Zwischenzeit waren aber einige Umbauten vorgenommen worden. Von hinten unterschied sich jedes Gebäude sehr deutlich von seinen Nachbarn.
»Steve, es passt einfach nicht zusammen. Wie hätte man |215|den einen so leicht für den anderen halten können? Ja, ja, ich weiß, dass sie etwa gleich groß und von ähnlicher Statur waren, aber ansonsten haben sie sich doch sehr unterschieden, zunächst mal hatten sie verschiedene Haarfarben.« Honey überlegte rasch. Sie hatte nur ein Passbild von Elmer Maxted gesehen, aber Mervyn Herbert kannte sie persönlich. Es gab mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten zwischen den beiden. Das sagte sie Steve Doherty auch.
Der ließ sich so leicht nicht von seiner Meinung abbringen.
»Durch Kleidung konnten sie einander ähneln.«
Sie schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. »Diesen Monat war es sehr heiß, und da wird keiner von beiden einen Mantel getragen haben. Wenn Leute für den Winter warm angezogen sind, können Sie sich ein bisschen vermummen, mit Schals und Mützen und dicken, wattierten Jacken, aber – falls Sie’s noch nicht gemerkt haben – jetzt ist Sommer.«
Sein Gesicht fiel zusammen, als wäre es aus Papier und sie hätte es gerade zusammengeknüllt. Der waidwunde Blick verwandelte sich schnell in ein männliches Schmollen. Und männliches Schmollen wird gern ein bisschen laut. »Das war’s!«, schrie Doherty. »Damit ist unsere Beziehung beendet. Es handelt sich hier um eine Morduntersuchung, und da muss ich Ihnen überhaupt nichts erzählen!«
Sie verschränkte die Arme. »Das lassen wir mal den Chief Constable entscheiden.«
»Der kann mich mal!«
»Seien Sie nicht so kindisch!«
»Bin ich nicht!«
»Sie denken nicht nach!«
»Also jetzt hören Sie mal zu. Als Polizist hat man ein Näschen für Ganoven wie diesen Davies. Glauben Sie mir, der war’s. Beim ersten Opfer war es schlicht eine Verwechslung. Beim zweiten Mord – na ja, da kennen wir alle den Grund. Das musste ja so kommen.«
»Und das Stück Holz? Und die Gewürzsäcke? Das Holz ist doch von irgendwo hergekommen, von einem Haus am |216|Fluss. Und warum die Gewürzsäcke? Wer die beiden Männer umgebracht hat, konnte irgendwie an solche Säcke herankommen. Denn warum hätte er sonst nicht Kohlensäcke, Heusäcke oder sogar Plastiktüten nehmen sollen?«
Sie sah es ihm an der Nasenspitze an, dass er diesen Aspekt lieber nicht weiter diskutieren wollte.
»Das lassen wir mal auf uns zukommen. Ich denke, Davies hat sie sich irgendwo besorgt. Ich würde Sie wirklich gern wiedersehen«, rief er ihr noch hinterher, als sie schon auf dem Weg zur Tür war.
Sie zögerte, wollte sich schon umdrehen und »in Ordnung« sagen. Ihr verletzter Stolz ließ sie jedoch weiter in Richtung Ausgang gehen. Er wollte Ergebnisse. Rasche Ergebnisse. Sie wollte die Wahrheit herausfinden, und wenn es noch so viel Zeit kosten würde. Das, überlegte sie, war wohl typisch Amateurin.