Erst setzte sie Casper zu Hause ab. Er hatte den Kopf in den Nacken geworfen und schallend gelacht, als sie ihm von dem Plastikkopf und den Kriegsspielen im Gewächshaus erzählte.
»Meine Liebe, so bleich habe ich Sie noch nie gesehen.«
»Kein Sterbenswörtchen«, sagte sie und wedelte mahnend mit dem Finger vor seiner Adlernase herum.
Er legte die Rechte aufs Herz und zog ein angemessen ernstes Gesicht, als er es ihr versprach. »Im Interesse andauernder Harmonie zwischen uns beiden«, fügte er noch hinzu.
Sie war überrascht, als sie im Hotel Doherty vorfand. Und auch zu dem kein Sterbenswörtchen!, murmelte sie vor sich hin.
Sie zwang sich ein Lächeln auf die Lippen und gesellte sich im kleinen Salon zu ihm, der sich unmittelbar an den Hauptaufenthaltsraum für die Gäste anschloss. Diesen Raum behielt sie sich für geschäftliche Besprechungen vor.
Vor ihm stand ein Tablett mit Kaffee, braunem Zucker und Sahne. An seinem Gesichtsausdruck konnte sie ablesen, dass es sich nicht nur um einen Privatbesuch handelte.
»Ich hätte lieber einen Whisky gehabt«, sagte er und deutete mit dem Kopf auf die unberührte Tasse.
»Sie hätten doch darum bitten können.«
»Habe ich. Aber Ihre Mutter hat mich abblitzen lassen.«
»Oh! Ich hole Ihnen einen.«
»Machen Sie sich keine Mühe.« Er stand auf und schickte sich zum Gehen an. »Ich habe keine Zeit, hier lange herumzuhängen.«
|172|»Ach wirklich«, sagte sie neckisch. »Wer ist denn nun schon wieder umgebracht worden?«
Falsche Antwort! An seinen Zügen sah sie, dass sie ins Schwarze getroffen hatte.
»Wer ist es?«, fragte sie und schämte sich für ihren Scherz.
»Ich habe dem Chief Constable gesagt, dass ich für das alles hier keine Zeit habe, aber er hat darauf bestanden, dass ich Sie informiere.«
Seine Offenheit schmerzte sie. Gerade, wo sie anfing, Spaß an der Sache zu haben.
Sie war genauso brutal. »Also los, dann informieren Sie mich.«
»Mervyn Herbert.«
»Wo haben Sie ihn gefunden. Auch im Fluss?«
Doherty schüttelte den Kopf. »Nein. In seinem eigenen Garten unter dem Steinhaufen. Sie hatten ein Gasleck, und das Gaswerk musste das ganze Grundstück umgraben. Und ehe Sie fragen: Man hat ihm den Schädel eingeschlagen, und er hatte einen Sack über dem Kopf. Einen Gewürzsack – wie gehabt.«
»Der arme Kerl.«
Sie hatte den Mann nur im Vorübergehen gesehen, und er war ihr nicht besonders sympathisch gewesen. Aber trotzdem, er war ein Mensch, und es hatte ihn ein ziemlich scheußliches Schicksal ereilt.
»Glauben Sie, dass es Mrs. Herbert war?«
»Diese Schlussfolgerung bietet sich an, aber die Jungs vom Labor sagen was anderes. Wir denken nicht, dass er dort ermordet wurde. Mrs. Herbert ist ziemlich durch den Wind. Dann wäre da noch der erste Ehemann in Erwägung zu ziehen.«
»O ja, Lorettas Vater.« Während des ganzen Rückwegs von Limpley Stoke hatte ihr ein Salat mit Räucherlachs vorgeschwebt. Dafür war jetzt keine Zeit. Sie nahm aus einer Schale an der Bar eine Handvoll Erdnüsse. »Ich denke, da gehe ich wohl besser mal zu ihr.«
|173|Doherty stand auf. »Bis wir die Sache gründlich untersucht haben, müssen wir sie als Verdächtige behandeln.«
»Obwohl der Mord anderswo begangen wurde?«
Er zuckte die Achseln. »Vielleicht im Haus, in der Garage oder draußen in der kleinen Gasse. Wer weiß?«
»Ich nehme an, Sie haben sie schon verhört?«
»Der Arzt hat mich nicht gelassen. Hat gesagt, dass sie in einem tiefen Schockzustand ist.«
»Na also«, antwortete sie und warf sich die Tasche über die Schulter. »Um so mehr Grund, mich mitzunehmen. Ich könnte ja die gute Frau ein bisschen beruhigen. Selbst wenn sie Ihre Hauptverdächtige ist.«
»Ich habe nicht gesagt, dass sie meine Hauptverdächtige ist.«
»Vielleicht ist sie eine Komplizin von Lorettas Vater, ihrem ersten Mann?«
Sie waren bereits draußen auf der Straße. Er runzelte die Stirn. »Können Sie zufällig Gedanken lesen?«
»Nur bei Männern.«
»Sie brauchen nicht mitzukommen. Das ist nicht nötig.«
»Und Sie wollen es nicht.«
»Ich sehe nicht, wozu das gut sein sollte.«
»Danke für die Blumen.«
Er knurrte irgendetwas Unverständliches und schlenderte zu seinem Auto.
Na warte nur, bis ich dir erzähle, was ich weiß, dachte sie, als sie neben ihm einstieg. Das wird dich überraschen. Dann wirst du mich auf einmal bei dieser Sache dabeihaben wollen.
Auf der Fahrt berichtete sie ihm von ihrem Besuch beim Pfarrer, aber nicht von ihrer Schnüffelei im Gewächshaus. Das würde er sie nie vergessen lassen. »Die Kusine von Elmers Frau war Sir Andrews erste Gattin. Möglicherweise hat er Charlborough Grange einen Besuch abgestattet. Pamela Charlborough hat Elmer zufällig getroffen, als er auf dem Friedhof herumspazierte.«
»Sagt Mrs. Quentin. Ich habe Lady Charlborough danach gefragt, aber sie ist nicht unbedingt die warmherzigste Gastgeberin, die ich kenne.«
Honey schaute aus dem Fenster. Die Regenwolken des frühen Morgens hatten sich verzogen. Über dem Viadukt, auf dem die Eisenbahn via Green Park nach London fuhr, erstrahlte ein Regenbogen. Die Luft roch frisch und neu.
Doherty schien in Gedanken versunken zu sein. »Und glauben Sie, dass er eine Affäre mit Lady Pamela hatte?«
»Natürlich nicht! Wenn er überhaupt in Charlborough Grange war oder über die Friedhofsmauer hinweg mit Lady Pamela geredet hat, dann hatte es sicherlich etwas mit seiner Familie zu tun. Er hat die Nachforschungen mit großem Eifer betrieben. Vielleicht hat er ein dunkles Familiengeheimnis entdeckt und ist dafür abgemurkst worden.«
Doherty schüttelte den Kopf. »Viel zu melodramatisch! Also, er hatte einen Aktivurlaub geplant – wenn man das so nennen kann. Glauben Sie mir, die Wurzel des Problems liegt im ›Ferny Down Guest House‹. Mervyn Herbert war ein schmieriger Geselle – hatte eine viel zu große Vorliebe für seine Stieftochter, was ich so gehört habe. Ich will wissen, wo der Vater ist. Der hat was damit zu tun.«
Honey kaute auf der Unterlippe herum, um ihm nicht auf den Kopf zuzusagen, dass er phantasierte.
Doherty bemerkte das. »Machen Sie sich Sorgen? Haben Sie Hunger?«
»Ich habe nicht gefrühstückt.« Lahme Ausrede.
Doherty schnalzte tadelnd mit der Zunge. »Die wichtigste Mahlzeit des Tages!«
»Das Mittagessen habe ich auch ausfallen lassen.« Honey wandte ihm abrupt den Kopf zu. »Hat meine Mutter Sie gefragt, ob Sie verheiratet sind?«
»Nein. Aber ob ich lieber Teppichboden oder Parkett mag.«
Honey stöhnte. »Typisch.«
|175|Er schaute sie verwundert an und wandte die Augen von der Straße.
»Passen Sie auf, wo Sie hinfahren.«
Ein blauer Lieferwagen für Fensterglas konnte ihnen gerade noch ausweichen. Der Fahrer brüllte etwas von einem neuen Führerschein. Dohertys Fahrweise schien derlei unhöfliche Kommentare geradezu magisch anzuziehen.
Sie erreichten ihr Ziel viel zu schnell. Honey hatte des Gefühl, dass ihr das Herz irgendwo in die Nabelgegend gerutscht war, und hielt sich zurück. Sie war schon ausgestiegen und wartete auf Doherty.
Zwei uniformierte Polizisten standen draußen Wache. Sie nickte ihnen kurz zu. Die beiden grüßten zurück und beäugten Doherty, während er aus dem Wagen kletterte.
»Aha, er ist zu Kreuze gekrochen« sagte der eine.
»Musste er«, erwiderte der andere. »Wenn er je wieder einen Mordfall untersuchen will.«
»Wo ist er zu Kreuze gekrochen?«, erkundigte sie sich.
Die beiden lachten leise. Sie hatte eine Vorahnung, was die Antwort sein würde. »Hier«, sagte sie und tippte sich auf die Brust.
Inzwischen war Doherty gekommen, und die beiden verkniffen sich die Antwort.
Sie fühlte sich verletzt, war aber wild entschlossen, die Sache durchzuziehen. Sie stand geduldig daneben, während er klingelte. Worauf hatte sie sich da bloß eingelassen?
Sie war noch nie am Tatort eines Verbrechens gewesen. Hoffentlich hatten sie den Toten schon ins Leichenschauhaus abtransportiert. Ein Schreck am Tag war mehr als genug.
»Der Klingelknopf ist aber schön poliert«, sagte sie.
Doherty schaute sie ungläubig an.
»Menschen machen wie verrückt sauber, wenn sie nervös sind oder einen Schock erlitten haben.«
War das nicht etwas, das ihre Mutter immer sagte? Sie jaulte innerlich auf.
|176|Je älter sie wurde, desto klarer wurde ihr, dass eine Generation immer das Gepäck – und die weisen Sprüche – der vorherigen übernahm.
Loretta machte ihnen die Tür auf. Sie war gekleidet wie eh und je. Keine Spur von einer schwarzen Armbinde. Auch die Wangen waren rosig, und ihre zahlreichen Ringe blitzten, als sie die Tür wieder schloss.
»Ma ist hinterm Haus«, sagte sie brüsk. »Gleich da durch.«
Ein Solitär funkelte an ihrem Zeigefinger, als sie in die Richtung deutete. Nicht schlecht, dachte Honey, die sich nicht erinnerte, den Diamanten schon gesehen zu haben.
»Schöner Ring. Ist der neu?«
Loretta errötete. »Ein Geschenk. Von einem Freund.«
Von einem intimen Freund, überlegte Honey. Nur Intimität brachte diese holde Röte auf die Wangen.
Cora Herbert saß an ihrem Lieblingsplatz im Wintergarten. Auf dem Tisch vor ihr standen eine Henkeltasse mit Tee und ein Aschenbecher. Hinter der Tür bewegten Männer in Overalls methodisch die Erde des Gartens von einer Ecke zur anderen.
Die dicken schwarzen Wimpern hatten Spuren von Maskara auf ihren feuchten Wangen hinterlassen. Zigarettenrauch kräuselte sich in die Luft hinauf. Die Zigarette zitterte, als Cora sie im Aschenbecher abstreifte. Sie sah mürrisch und müde aus und hatte rote Ringe um die Augen, die farblich beinahe zu ihrem Lippenstift passten. An ihrem Scheitel waren wie ein dunkles Tal die schwarzen Wurzeln ihrer Haare zu sehen. Der Rest des Haares war strohig und blond und hätte eine Wäsche nötig gehabt.
Honeys Hals war trocken wie Sandpapier. »Es tut mir so leid, Mrs. Herbert.«
Doherty und sie setzten sich hin. Es wurde ihnen kein Tee angeboten. Im Raum war schlechte Luft, der Zigarettenqualm stieg zu einem Fenster auf, das im Dach eingebaut war.
Cora nickte.
Doherty ging noch einmal alle Einzelheiten mit ihr durch. |177|»Wann haben Sie Ihren Mann zum letzten Mal gesehen, Mrs. Herbert?«
Honey erinnerte sich sofort an ein berühmtes Gemälde – auf dem Oliver Cromwells Leute einen Jungen fragen, wo sein Vater sei, in diesem Fall der englische König Karl I.
»Das habe ich Ihnen doch schon gesagt«, blaffte Cora.
Da war alle Ähnlichkeit mit einem königlichen Porträt verflogen. Cora war – gelinde gesagt – ein wenig ungehobelt. Sie sah eher wie Oliver Cromwell aus.
»Sagen Sie es mir noch einmal«, erwiderte Doherty langsam.
Diese Art von Frage entschied die Sache für Honey. Sie stubste ihn am Arm. »Kann ich Sie mal unter vier Augen sprechen, Steve?«
Doherty schürzte die Lippen. Er war nicht mehr der Steve, der in Bars herumhing. Jetzt und hier war er nur noch Profi. Er hatte diesen Beruf erlernt, hatte sich von ganz unten hochgearbeitet. Sie dagegen …
Seine Feinseligkeit war kaum merklich, aber durchaus vorhanden. Er sah aus, als wollte er ihr die Bitte abschlagen. Der Grund dafür, dass er seine Meinung dann doch änderte, hatte vielleicht etwas mit dem alten Spruch zu tun, dass vier Augen mehr sehen als zwei. Oder glaubte er am Ende, dass er wirklich eine realistische Chance hatte, sie ins Bett zu kriegen? Wie auch immer, jedenfalls entschuldigten sie sich bei Cora und gingen in den Garten hinaus. Die Tür zogen sie hinter sich zu.
Cora war das alles gleichgültig – sie rauchte, starrte auf den Boden, schnippte die Asche von ihrer Zigarette und bellte Loretta Befehle zu. Sie schien nicht eigentlich bestürzt zu sein, nur verängstigt, als wollte sie das alles so schnell wie möglich hinter sich bringen.
Honey und Doherty gingen um einen aufgeschütteten Erdhaufen herum zum hinteren Ende des Gartens, wo unter einem Dach aus Rhabarberblättern ein Plastikgartenzwerg hervorlinste.
|178|Honey verschränkte die Arme. »Was soll das denn alles?«
Doherty schaute ausdruckslos. »Ich weiß nicht, was Sie meinen.«
»Lügner!«
Er zuckte die Achseln und breitete die Hände aus. »Was?«
Honey blickte ihn vorwurfsvoll an. »Okay. Sie brauchen mir nichts zu erklären. Lassen Sie mich raten. Ihr letzter Fall war eine Katastrophe, und als der Hotelfachverband darum bat, dass ein Polizist mit ihm an seinem Sicherheitskonzept arbeiten soll, da hat man Ihnen befohlen, sich freiwillig zu melden. Und dann …« Er machte den Mund auf und wollte protestieren. »Und dann«, fuhr Honey fort, die ihm jetzt einfach ihre Meinung sagen wollte, »als Elmer Maxteds Leiche gefunden wurde, waren Sie wild entschlossen, den Fall nicht aus der Hand zu geben. Das war Ihre Chance, Ihren Ruf wiederherzustellen. Deswegen bin ich hier, nicht? Es passt Ihnen nicht, aber Sie tolerieren mich.«
Er begann zu lachen, beugte sich vornüber, hielt sich den Bauch. »Waaaas?«
Auf Honey machte das null Eindruck. »Und jetzt spielen Sie mir den lachenden Polizisten vor.«
Der Ausdruck seiner Augen strafte Lügen, was der Rest seines Körpers vollführte. Alles lag in den Augen, danach würde sie ihn einschätzen.
»Gehen Sie bloß nie zum Theater.« Sie stapfte zum Wintergarten zurück und war froh, dass zumindest jetzt zwischen ihnen alles klar war.
Trotzdem fühlte sie sich ein wenig unwohl. Alles hatte sich verändert. Jetzt ging es nicht mehr nur um einen vermissten Touristen. Es ging nicht einmal mehr darum, dass Elmer rein zufällig das Opfer eines Raubmords geworden war. Derlei kam in Bath sehr selten vor. Der größte Teil der Bevölkerung war kultiviert, zivilisiert und strebsam. Auf den ersten Blick hatte dieser zweite Mord nichts mit Tourismus zu tun. Er lag außerhalb ihrer Erfahrungswelt, und das machte sie nervös.
»Jedenfalls«, sagte Doherty von hinten, »muss Mrs. Herbert |179|unsere Hauptverdächtige sein. Wer sonst hätte denn seinen Ehemann im eigenen Garten vergraben können?«
Honey war versucht, ihm die Tür vor der Nase zuzuschlagen, ließ sie aber auf. Er ging ihr auf die Nerven, aber Coras Zigarettenqualm war schlimmer.
Cora saß noch genauso da, wie sie sie verlassen hatten. Gott weiß, wie viele Zigaretten sie in ihrer Abwesenheit gepafft hatte. Sie befand sich offensichtlich auf einem Kettenrauchmarathon. Ihre Augen waren wässrig und schauten trüb. Trotz des Make-ups wirkte ihr Teint fettig und weiß.
»Ich war’s nicht«, sagte sie, ehe irgendjemand sie gefragt hatte.
»Wie ist er dann in Ihren Garten gekommen?«, erkundigte sich Doherty.
Cora traten die Augen aus dem Kopf. »Wie zum Teufel soll ich das wissen?«
Loretta lungerte im Hintergrund herum, an eine Wand gelehnt, die Arme verschränkt, und ihre Stimmung war so schwarz wie die bröckelnde Wimperntusche ihrer Mutter.
Dohertys Stimme klang ernst. »Es tut mir leid, aber Sie müssen zur weiteren Befragung ins Präsidium mitkommen.«
Honey fiel keine Mitleidsbekundung und auch keine hilfreiche Bemerkung ein. So im Stil von: »Das ist bestimmt alles ein Irrtum, machen Sie sich keine Sorgen.« Die Beweise waren überwältigend. Wie Doherty schon gesagt hatte: Wer sonst würde seinen Mann im Garten vergraben?
»Ich gehe zu Fuß zurück«, sagte Honey, als sie vor dem Haus standen und man Mrs. Herbert auf dem Rücksitz eines Polizeiautos untergebracht hatte.
Doherty zuckte die Achseln. »Wie Sie wollen.« Er wandte sich zu Loretta um. Das Gesicht des Mädchens war ausdruckslos, als müsste sie erst noch verdauen, was hier vor sich ging.
»Und was ist mit Ihnen?«
Lorettas helle Augen verengten sich, und ihre roten Lippen verzogen sich verächtlich. »Ich fahre nicht mit Bullen. Ich |180|komm dann schon nach.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und schrie ihrer Mutter zu: »Ich komm dich besuchen, Ma! Darauf kannst du dich verlassen!«
Honey hörte das Schluchzen in ihrer Stimme. »Kommen Sie zurecht?«
»Ich geh später auf die Wache. Mama will bestimmt, dass ich mich hier um alles kümmere.« Sie deutete mit dem Kopf auf das Schild Keine Zimmer frei. »Wir erwarten zahlende Gäste. Um die muss sich doch jemand kümmern, nicht?«
»Sie sind eine gute Tochter. Das muss alles sehr schlimm für Sie sein. Ich finde, Sie sind sehr tapfer.«
Loretta zuckte noch einmal die Achseln, wobei ihr die Träger des Tops von den schmalen Schultern rutschten. »Eigentlich nicht. Ich weiß, dass sie es nicht war. Es gibt keine Beweise.« Das klang sehr selbstbewusst. Sie stand immer noch mit verschränkten Armen und hoch erhobenem Kopf da. Konnte Honey ein Lächeln um ihre Lippen spielen sehen?
Das verging jedenfalls, als das Mädchen Honeys forschenden Blick wahrnahm. »Schauen Sie mich nicht so an!«
»Tut mir leid.«
Sie sollte das Mädchen nicht in dieser negativen Stimmung allein lassen. Sie quälte sich ein Lächeln ab. Ihre Augen wanderten wieder zu dem glänzenden Diamanten. Zumindest sah es aus wie ein Diamant. »Das ist wirklich ein schöner Ring«, meinte sie und hoffte, dass dieser plötzliche Themenwechsel nicht zu gekünstelt klang.
Loretta hob ihr stark geschminktes Gesicht zu Honey. »Schön, nicht?« Sie ließ den Ring aufblitzen. »Hat mir mein Papa geschenkt«, fügte sie seltsam träumerisch hinzu.
»Das ist aber nett. Verstehen Sie sich gut mit Ihrem Vater?«
»Und wie!«
»Aber nicht mit Mervyn.«
Lorettas Gesichtsausdruck wurde grimmig. »Ein Mistkerl erster Güte!«
Honey konnte sich gut vorstellen, welche Wirkung Lorettas spärliche Bekleidung auf Mervyn Herbert gehabt hatte. |181|»Hat er Sie belästigt?« Diese Frage klang sogar in ihren eigenen Ohren lahm und blöd. Lorettas Reaktion überraschte sie also nicht.
»Nein!«, sagte sie und schüttelte den Kopf, während ein sarkastisches Lächeln um ihre Mundwinkel spielte. »Belästigt hat er mich nicht! Nur vergewaltigt!«