Ein Gedicht zum Grübeln

Vielleicht lag es an den Palmen, an dem merkwürdig tropi schen Abend oder an dem dunkelhäutigen Mann vom Nebentisch mit seinem Campari, aber die Terrasse des Savoy-Tivoli hatte etwas, das in Mary Ann eine prickelnde Erinnerung an Mexiko wachrief.

Burke erging es nicht anders. »Erinnert dich das an Las Hadas?«

»Glaub mir, ich hab es nicht darauf angelegt.« Sie hatte ihn ganz aufgeregt vom Krankenhaus angerufen und ihm das Lokal als Treffpunkt genannt. Ihre Entdeckung hatte sie am Telefon nicht preisgeben wollen.

»Und, was ist?« fragte Burke, sobald ihr Kaffee und ihre Desserts gekommen waren.

Mary Ann lächelte geheimnisvoll und versenkte ihren Löffel in der Crème Caramel. »Ich habe unseren Freund gefunden«, erwiderte sie schließlich.

»Wen?«

»Den Mann vom Blumenmarkt. Den mit den Haarimplantaten.«

»Mensch. Wo?«

»Im Krankenhaus. Er führt dort den Blumenladen. Ich bin heute nachmittag reingegangen, weil ich für Michael eine Azalee oder so was holen wollte, und da stand er hinter …«

»Hast du mit ihm gesprochen? Hast du ihn wegen mir gefragt? Hat er dich erkannt?«

Sein drängender Ton überraschte sie. »Ich habe ihn nicht gefragt, Burke. Ich hatte Angst davor.«

»Warum?«

»Weil ich glaube, daß er mich erkannt hat. Er hat sich zwar nicht so verhalten, aber ich bin einfach das Gefühl nicht losgeworden, daß ihm klar war, wer ich bin.«

»Na und? Schau, Mary Ann, mir macht es nichts aus, ihn anzusprechen, wenn du dich davor genierst. Alles ist mir lieber als diese ewige Beklommenheit und Spekuliererei. Der Mann könnte der Schlüssel zu allem sein.«

»Das weiß ich, Burke. Ich bin sogar davon überzeugt. Nur glaube ich nicht, daß wir das Risiko …« Sie griff über den Tisch und nahm seine Hand. »Es kann sein, daß ein schreckliches Erlebnis deine Amnesie ausgelöst hat, Burke. Und dieser Mann hatte vielleicht damit zu tun.«

»Du siehst zu viele Filme. Vielleicht habe ich für ihn gearbeitet oder so.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe Jon gebeten, die Unterlagen des Krankenhauses durchzugehen. Du hast im St. Sebastian’s nie auf der Gehaltsliste gestanden, und du warst dort auch nie Patient. Es gibt keinerlei Hinweise darauf, daß du es vor unseren Besuchen bei Michael schon mal betreten hast.«

Er lächelte sie liebevoll an. »Du spielst mal wieder die kleine Schnüfflerin, was?«

»Ich möchte dir helfen«, sagte sie leise.

»Schön.« Er faßte in die Brusttasche seines Cordjacketts, zog eine Karteikarte heraus und legte sie vor Mary Ann hin. »Dann sag mir, was das zu bedeuten hat.«

Sie griff nach der Karte. Burke hatte einen Vierzeiler darauf geschrieben:

 

Hoch auf dem geheiligten Stein

Leuchtet die inkarnierte Rose

Über dem Berg der Flut

Am Kreuzungspunkt der Linien.

 

»Was ist das?« wollte sie wissen.

»Das hab ich geträumt. Ist doch hübsch, hm?« Sein Ton war viel zu schnoddrig – ein Abwehrmechanismus, den Mary Ann inzwischen als solchen erkannte. Er hatte mehr Angst als je zuvor.

»Hast du es in deinem Traum gehört, Burke?«

»Ja. Oben auf diesem verfluchten Steg mit dem Geländer. Der Rest des Traums war wie sonst auch. Es war dunkel, der Mann mit den Implantaten war da, rings um mich standen in der Finsternis noch andere Leute, und der Implantatemann sagte: ›Nur zu … es ist rein organisch.‹«

»Und wie hast du es gehört? Das Gedicht, meine ich.«

»Sie haben es gesungen. Immer und immer wieder.«

»Wie viele Leute?«

»Kann ich nicht sagen. Sie haben beim Singen fast geflüstert … Als wäre jemand in der Nähe gewesen, der es sonst gehört hätte.«

Mary Ann schaute auf die Karteikarte, bevor sie den kleinen Schlüssel an ihrer Halskette betastete. Paßte das irgendwie zusammen? Exorzierte sie Burkes Dämonen, oder half sie bloß mit, neue in die Welt zu setzen?

»Hast du das letzte Nacht geträumt?«

Er nickte. »Und was jetzt, mein Schatz?«

»Ich … weiß nicht recht.«

»Ich denke, wir sollten den Mann mit den Transplantaten darauf ansprechen.«

»Nein. Bitte. Nicht jetzt. Geben wir der Sache noch ein bißchen Zeit, Burke.«

Widerwillig erklärte er sich dazu bereit. Mary Ann wollte ihre Vorbehalte gerade untermauern, als in ihrem Blickfeld eine vertraute Gestalt erschien.

»Burke, wir müssen gehen.«

»Ich hab meinen Kaffee noch nicht ausgetrunken.«

»Ich bitte dich, Burke, leg das Geld einfach auf den Tisch!«

Er fügte sich, aber mit gekränkter Miene. Geräuschvoll stieß er seinen Stuhl zurück und stand auf.

Mary Ann hakte sich bei ihm ein und zog ihn die Grant Avenue hinunter – nur Sekunden, bevor Millie, die Blumenfee, mit einem Korb voll Rosen über ihre gewohnte Kundschaft herfiel.