Die doppelte Mona
Mona hätte niemals erwartet, daß sie in einem Haus mit zehn Schlafzimmern dem größten Schrecken ausgerechnet in der Küche begegnen würde. Doch da stand sie nun – starr vor Angst – und las ihren eigenen Namen auf dem Vorsatzblatt eines Kochbuchs.
Ihren eigenen Namen! Warum? Warum?
Sie ließ das Buch fallen und stürzte sich auf die anderen, obwohl sie schon sicher war, was sie darin finden würde. Mona Ramsey … Mona Ramsey … Mona Ramsey! Jedesmal in derselben primitiven, krakeligen Handschrift eines Kindes – oder vielleicht einer erwachsenen Person, die kaum schreiben konnte.
Ein Flashback. Das war’s. Das war der LSD-Flashback, vor dem man sie immer gewarnt hatte. Sie sank leise stöhnend auf einen Stuhl und wartete gottergeben darauf, daß große purpurrote Raupen aus den Abflußrohren der Spüle kriechen würden.
Minuten verstrichen. Keine Raupen. Nur das durchdringende Winseln des Wüstenwinds aus der Ferne und das beharrliche Tropfen des Wasserhahns. Im Gesellschaftszimmer lachte ein Fernfahrer dröhnend mit Marnie, die mit ihrem blechernen Modesto-Akzent in einem fort verlangte: »Sag mir was Dreckiges! Sag mir was Dreckiges!«
Mona stand mit wackeligen Knien auf, ging an die Spüle und spritzte sich Wasser ins Gesicht. Sie trocknete sich mit einem JFK-Bobby-Kennedy-Martin-Luther-King-Geschirrtuch ab und taumelte durch die Hintertür in die Dunkelheit hinaus.
Vom Haupthaus her zählte sie die Türen, bis sie endlich vor ihrer eigenen stand.
Das Licht war noch immer an.
Bobbi schaute lächelnd hoch. »Keine Milch da, hmh?«
»Nein.«
»Ich glaub, in der Bar stehen noch ein paar Flaschen Dr. Peppers, wenn du … Judy, was ist denn?«
»Keine Ahnung.« Mona sank auf die Bettkante nieder und starrte mit glasigem Blick auf den Autograph Hound, den die vorherige Bewohnerin des Zimmers auf der Frisierkommode zurückgelassen hatte.
»Bobbi … Wie heiße ich?«
»Hmh?«
»Wie heiße ich?«
»Bist du …?«
»Bitte, gib mir eine Antwort.«
»Du heißt Judy.«
»Und weiter?«
»Keine Ahnung. Das hast du mir nie gesagt.«
»Wenn ich … Wenn ich anders heißen würde, und du wüßtest das, würdest du es mir dann sagen? Oder würdest du mich damit aufziehen, Bobbi? Meinst du, Charlene würde …?« Sie konnte nicht weiterreden. Es hörte sich alles so paranoid an. Wenn Charlene sie mit ihrem richtigen Namen quälen wollte, warum sollte sie ihn dann in ein Kochbuch schreiben?
Bobbi lächelte nachsichtig. »Von uns haben doch viele ’nen falschen Namen, Judy. Marnie heißt in Wirklichkeit Esther. Mir is das doch piepegal, ob du anders …«
»Wie lang arbeitest du hier schon, Bobbi?«
»Mit Unterbrechungen?«
Gab es eine andere Möglichkeit, in einem Puff zu arbeiten? »Ja.«
»Ach, na ja … drei Jahre.«
»Das heißt, du kennst etliche von den Mädchen, die hier durchgelaufen sind, stimmt’s?«
»Klar.« Bobbi hatte plötzlich begriffen, daß sie verhört wurde. Sie steckte sich einen Streifen Dentyne in den Mund und kaute in aller Ruhe darauf herum.
»Kannst du dich an eine erinnern, die Mona geheißen hat?«
Das Gekaue ging weiter. Wenn der Name bei Bobbi etwas ausgelöst hatte, war es ihrem Gesicht jedenfalls nicht anzusehen. »Mona, hmh?«
»Ja.«
Bobbi schüttelte träge den Kopf. »Nein. Nicht so auf Anhieb.«
»Denk nach, Bobbi. Bitte.«
»Weißt du ihren Nachnamen?«
»Ramsey. Mona Ramsey.«
Es dämmerte. Bobbi kicherte über ihre eigene Dummheit.
»Ach je!« entfuhr es ihr. »Wir nennen sie nie so!«
»Wen, Bobbi?«
»Mother Mucca.«
»Mother Mucca?«
»Klar. Mona Ramsey ist der richtige Name von Mother Mucca.«
Minuten später, als Bobbi gegangen war, saß Mona alleine da und dachte über ihre zunehmende Paranoia nach. Sie hatte sich nicht mehr so konfus und verängstigt gefühlt – so restlos verlassen –, seit bekannt geworden war, daß Rennie Davis, der Gott ihrer Jugendtage, in Colorado für die John-Hancock-Gruppe Versicherungen verkaufte.
Warum tat Buddha ihr das bloß an?
Zwei Mona Ramseys in demselben Puff! Die eine grauhaarig, uralt und gezeichnet von einem ausschweifenden Leben. Die andere erschöpft, noch einigermaßen jung und am Rand des Wahnsinns.
Vergangenheit und Zukunft? Yin und Yang? Donny und Marie?
Mother Mucca hatte von Anfang an recht gehabt: »Dieses blöde Angel Dust zermatscht dir jedesmal die Birne!«
Das stimmt absolut, dachte Mona. Das stimmt absolut.
Ich bin so zermatscht, zermatschter geht’s gar nicht. Hoffnungslos zermatscht. Es gibt nichts mehr, an das ich mich halten kann. Nur ein Wunder könnte mich jetzt noch retten.
Mit glasigem Blick und völlig benommen ging sie nach vorn in das leere Gesellschaftszimmer und rief in der Barbary Lane 28 an.
»Madrigal.«
»Gott sei Dank!«
»Wer spricht da, bitte?«
»Ich bin’s, Mrs. Madrigal. Mona.«
»Kind! Wo bist du?«
»Ach Gott! In Winnemucca!«
Schweigen.
»Mrs. Madrigal?«
»Geht es dir gut, Liebes?«
»Na ja, ich … Nein, es geht mir total beschissen.«
»Bist du … Bist du im Blue Moon?«
Mona begann zu schluchzen. »Woher haben Sie das gewußt?«
»Mona, ich …«
»Woher haben Sie das gewußt?«
»Die Frage ist eher, woher du es gewußt hast.«
»Woher ich was gewußt habe?«
»Das mit … Winnemucca?«
»Ich bin völlig fertig, Mrs. Madrigal.«
»Bitte, Mona. Ich hätte es dir schon früher erzählt, wenn …«
»Was hätten Sie mir schon früher erzählt?«
»Ich hatte solche Angst, daß du mich verachten würdest … Ich meine, einfach so davonzulaufen und sich …«
»Ich bin nicht davongelaufen! Ich habe bloß mal Luft zum Atmen gebraucht. Das habe ich Ihnen doch …«
»Nicht du, Liebes. Ich.«
»Was? Aber Sie sind doch gar nicht davongelaufen. Was reden Sie denn?«
Schweigen.
»Mrs. Madrigal?«
»Es ist wohl besser, wenn wir ganz von vorn anfangen, Liebes. Bist du allein?«
»Ja.«
»Na, dann setz dich mal hin. Ich habe dir nämlich eine kleine Geschichte zu erzählen.«