Spielchen

Es gab Zeiten, da war Brian überzeugt, daß sie ihm folgte.

Seine Phantasie beschwor sie an den merkwürdigsten Orten herauf: in Waschcentern, auf überfüllten Cable Cars und leeren Rolltreppen, und wenn er mit Kolumbianer vollgedröhnt war, dann auch in dunklen Kinos.

Am Anfang stand meistens ein Blick. Ein Beäugen hinter schweren Lidern hervor. Ein vertrauliches Zwinkern. Ein langsam sich ausbreitendes Grinsen, das ihn von Kopf bis Fuß entflammte. Natürlich war er mit diesen Zeichen vertraut, aber früher hatten sie für etwas anderes gestanden.

Früher hatten sie für eine Eroberung gestanden, für seine Eroberung, für ein einfaches, unkompliziertes Abenteuer, das er von Anfang bis Ende unter Kontrolle gehabt hatte.

Aber jetzt …

Jetzt konnte es eine Frau sein, die wußte, daß er ihr verfallen war.

Jetzt konnte es Lady Eleven sein.

Und sie konnte diejenige sein, die alles unter Kontrolle hatte.

Die Frage, die ihn quälte, blieb immer gleich: Wenn sie wußte, wer er war, wenn sie wußte, wo sie ihn finden konnte … Warum tat sie dann nichts, um mit ihm zusammenzukommen?

Klar, sie konnte es versucht haben. Vielleicht war sie genauso vor der Barbary Lane 28 gewesen wie er vor dem Superman Building. Er hielt sich vor Augen, daß sein Name noch nie auf dem Briefkasten gestanden hatte.

Trotzdem, sie hätte ja fragen können. Mrs. Madrigal hätte ihr Auskunft gegeben, Herrgott noch mal! Vielleicht hatte Mrs. Madrigal mit ihr gesprochen und dann vergessen, ihm zu sagen, daß …

Andererseits konnte etwas mit ihr sein. Etwas Schlimmes. Vielleicht hatte sie Angst, daß er sie kennenlernte und dabei feststellte, daß sie … nun, daß sie was war? Behindert? Geisteskrank? Blind? Genau, Brian. Blinde haben immer ein Fernglas griffbereit.

Vielleicht war sie aber auch berühmt, eine Dame der Gesellschaft, die sich das Bekanntwerden einer offenkundig sexuellen Beziehung nicht leisten konnte. Oder eine Zuträgerin für den Hite-Report, die freiberuflich ein bißchen Feldforschung betrieb. Oder eine Lesbe auf Reformkurs, die sich nur schrittweise vorantraute. Oder eine Pornodarstellerin, die für ihren großen Auftritt übte.

Oder eine amerikanische Durchschnittsfotze, die es darauf anlegte, Brian Hawkins um den Verstand zu bringen.

 

Als sie sich an jenem Abend am Fenster auszogen, beschloß Brian, etwas Neues zu probieren. Er behielt bloß noch seine Boxershorts an, hielt seinen Schwanz aber verborgen. Er stellte das Fernglas auf dem Fensterbrett ab, kreuzte die Arme vor der Brust und wartete.

Lady Eleven beobachtete ihn durch ihr Fernglas. Anschließend machte sie seine Haltung nach.

Brian zählte bis zwanzig und schaute dann wieder durch das Fernglas.

Lady Eleven tat das gleiche.

Was für ein beschissenes Spielchen, dachte er. Wir sind wie zwei kindische Gören, die »Mach mir alles nach« spielen. Mir soll’s recht sein, du Miststück! Dann wollen wir mal sehen, ob du auch damit fertig wirst!

Er ging vom Fenster weg, rannte in die Küche und kam mit einer großen braunen Papiertüte zurück. Er riß die Tüte auseinander und strich sie glatt. Mit einem Magic Marker schrieb er sieben Ziffern auf das postergroße Plakat:

 

928-3117

 

Dann hielt er es gegen das Fenster und beobachtete die Reak tion von Lady Eleven durch das Fernglas. Sie verharrte einen Moment lang bewegungslos, bevor sie das Fernglas hob, um die Aufschrift zu studieren. In dieser Haltung blieb sie dann reichlich lange stehen.

Plötzlich – Allmächtiger! – ging sie vom Fenster weg und kehrte gleich darauf mit einem Telefon in der Hand zurück. Brian stürzte zu seinem Apparat. Er war unsäglich erleichtert, daß er das Modell mit Verlängerungsschnur bestellt hatte.

Sie standen dann beide in Position, waren wieder das Duplikat des anderen.

Brian beobachtete sie durch das Fernglas. Im Schneckenmuschelrosa ihres Zimmers schien ihr bademantelumhüllter Körper vor Wärme zu pulsieren. Er wußte, wie sie roch – er wußte um den süßlichen Grasduft ihrer nassen Haare, um den verhaltenen Moschusduft ihrer Brüste …

O Gott, sie wählte!

Eins … zwei … drei … vier … fünf … sechs … sieben.

Brians Telefon klingelte.

Er fürchtete, sie zu erschrecken, weshalb er den Hörer ganz sachte abnahm. »Hallo«, sagte er mit ruhiger, gut modulierter Stimme.

Schweigen.

»Weißt du, wenn du mir deine Telefonnummer geben würdest, könnten wir … Ich könnte dich manchmal anrufen … Sonst nichts.« Er konnte sie jetzt atmen hören. Er konnte sehen, wie sie schweigend am Telefon stand.

»Hallo … Sag mir doch wenigstens deinen Namen … Von mir aus auch nur den Vornamen. Ich bin ein netter Kerl … Ich schwör’s. Mein Gott! Findest du das nicht auch ein bißchen abgedreht?«

Die Atemzüge wurden lauter. Zuerst dachte er, sie würde mit ihm spielen, würde ihn mit aufreizenden Geräuschen verspotten. Dann wurde ihm klar, daß sie weinte.

»Hallo … Es tut mir leid, wirklich. Ich wollte nicht, daß es klingt wie …«

Sie legte auf. Er sah zu, wie sie in einen Sessel sank und auf ein kleines Häufchen Elend zusammenschrumpelte. Eine halbe Minute später stand sie auf und machte die Vorhänge zu.

Brian zog sich einen Sessel heran und beobachtete ihr Fenster, bis er einschlief.