Gelüste

Die Pacific Princess war wieder auf Fahrt und dampfte, umflossen vom Licht des Vollmonds, südwärts in Richtung Manzanillo. Kurz nach acht entstieg Mary Ann dem Bade und salbte ihren Körper mit Schildkrötenlotion. In weniger als einer Stunde würde sie ihr erstes richtiges Rendezvous mit Burke haben.

»Bin ich denn schon ein bißchen braun, Mouse?«

»Was? Ach so, ja … Hübsch.«

»Was liest du denn da?«

»Ach, du grüne Neune!«

»Muß ja was Gutes sein.«

Er pfiff ungläubig durch die Zähne und vertiefte sich weiter in sein Buch. Mary Ann wurde ungeduldig. »Mouse … Zeig es mir!«

Michael hielt das Taschenbuch hoch. Es hatte den Titel Cruise Ships – The Inside Story. »Ich hab das blöde Ding unten im Geschenkeladen gekauft. Sie haben es mir auch regelrecht aufgedrängt!«

Er las vor: »›Unter den Passagieren von Kreuzfahrtschiffen gibt es zwei Gruppen von aufdringlichen Frauen. Zum einen solche, die auf Rangabzeichen stehen, und zum anderen solche, die lediglich einen Hang zur Abwechslung haben.‹«

»Das ist das Sexistischste, was ich je …«

»›Die Frauen aus der ersten Gruppe suchen sich bevorzugt Offiziere aus. Die aus der zweiten Gruppe sind am glücklichsten, wenn sie in den Mannschaftsquartieren verschwinden und den Rest der Reise in den Armen der verschiedensten Männer zubringen können.‹«

»Na ja, gegen ein bißchen Abwechslung …«

»Warte. Jetzt kommt das Tollste: (Manchmal nehmen wohlhabende, aber einsame homosexuelle Männer …‹«

»Das hast du erfunden!«

»Hörst du mir jetzt vielleicht zu? (Manchmal nehmen wohlhabende, aber einsame homosexuelle Männer an einer Kreuzfahrt teil und versuchen, sich die Gunst von Mannschaftsmitgliedern zu erkaufen. Das ist nur allzu leicht.)«

»Die Stelle will ich sehen!«

Er hielt das Buch so, daß sie hineinschauen konnte, und las weiter vor: »›Ein großzügiges Trinkgeld macht einem willigen Mannschaftsmitglied das Verlangen deutlich. Kurze Zeit später klingelt das Kabinentelefon, und der Handel wird abgeschlossen.‹«

»Die Suche überlasse ich ganz allein dir.«

»Werd nicht gleich hochnäsig, nur weil du deinen Traumprinzen schon gefunden hast.«

Wie ein altes Ehepaar dachten sie beide dasselbe und sprachen es gemeinsam aus: »Nein, was sind die jungen Leute doch hochnäsig heutzutage!«

 

Mary Ann probierte drei Blusen an, konnte sich aber nicht entscheiden, welche am besten zu ihrer beigen Hose paßte.

»Bleib lieber bei der blauen«, sagte Michael. »Mit der orangen siehst du aus wie Ann-Margret.«

»Vielleicht will ich ja aussehen wie Ann-Margret.«

Michael rang sich einen Seufzer ab. »Na gut. Wenn du allen Ernstes meinst, daß dieser nette Junge aus Nantucket auf den Typ Mädchen mit der Peitsche abfährt, dann zieh …«

Mary Ann riß sich die Bluse vom Leib und sah ihn tadelnd an. »Du bist schlimmer als Debbie Nelson!«

»Danke. Aber, wer ist Debbie Nelson?«

»Meine Zimmerkollegin aus dem ersten Jahr im College.«

»Das Blau ist doch sehr kleidsam.«

»Scheiß auf kleidsam.«

Michael gab sich schockiert. »Nimm so ein Wort nie wieder in den Mund, kleines Fräulein!« Er knöpfte ihr die blaue Bluse zu. »Na, was meinst du jetzt? Sieht das nicht besser aus?«

»Du Verräter. Dich hat wohl meine Mutter bestochen, was?«

»Deine Mutter verfügt wohl kaum über die anatomischen Voraussetzungen, um mich bestechen zu können.«

»Sag, findest du nicht, daß die cremefarbene Bluse vielleicht doch …«

Michael kümmerte sich nicht darum. »Los, blas«, forderte er sie auf.

»Wie bitte?«

»Blas mir ins Gesicht. Du hast heute abend zwei Scheiben Knoblauchbrot gegessen.«

»Mouse! Ich weiß sehr wohl, was …«

»Es sind schon die stärksten Männer wegen zwei Scheiben Knoblauchbrot schwul geworden!«

Sie blies.

 

Als sie die Kabine verließ, drehte sie sich noch einmal um und zwinkerte ihm zu. »Du brauchst nicht auf mich zu warten, Babycakes!«

Er streckte ihr die Zunge raus.

»O wie nett, Mouse. Ich liebe dich.«

»Spar dir dein Schmalz für das Schenkelwunder.«

»Was hast du vor?«

»Im Moment schwanke ich noch zwischen Shuffleboard und Selbstbefleckung.«

Sie lachte. »In der Carrousel Lounge gibt es eine Cole-Porter-Re …«

»Verschwinde jetzt endlich!«

 

Er las ungefähr eine Stunde und spazierte dann auf das Promenadendeck hinaus, wo er sich an die Reling lehnte und auf das Meer schaute. Hier oben, weit weg von den weißen Kunstlederschuhen und den straßbesetzten Brillen, war es leichter, sich die Kreuzfahrt vorzustellen, die durch seine Träume geisterte: Noël Coward und Gertie Lawrence. Exzentrische Witwen der besten Gesellschaft, verwegene Gigolos und Schranckoffer voll blinder Passagiere …

Alles nur romantische Selbsttäuschung. Wie seine Hoffnung auf einen Liebhaber eigentlich auch. Eine nutzlose, wenn auch harmlose Träumerei, die kaum mehr bewirkte, als ihn von der unerschütterlichen und zentralen Erkenntnis über sein Leben abzulenken: Er war allein auf der Welt. Und er würde immer allein sein.

Manche Leute – wahrscheinlich die glücklicheren – wußten mit diesem Wissen genauso umzugehen wie mit dem Wetter. Sie glitten auf der Oberfläche des Lebens dahin und erfreuten sich daran, daß sie sich selbst genug waren, und gerade deshalb fühlten sie sich nie allein. Michael wußte über diese Leute Bescheid, denn er hatte schon versucht, es ihnen nachzumachen.

Der Trick funktionierte allerdings selten. Sein Hunger war ihm immer an den Augen abzulesen.

 

Als er wieder in der Kabine war, rauchte er einen Joint, nahm all seinen Mut zusammen und drückte am Telefon auf den Klingelknopf für den Steward. Der Steward war fünf Minuten später da.

»Ja, Sir?«

»Hallo, George.«

»Guten Abend, Mr. Tolliver. Was kann ich für Sie tun?«

»Ja. Na ja, ich würde … Ich meine, wenn es Ihnen nicht unangenehm ist …« Er griff nach seiner Brieftasche. »George, ich möchte Ihnen das hier geben.« Er überreichte dem Steward einen Zehn-Dollar-Schein.

»Sehr freundlich, Sir.«

»George, würden Sie …? Ich habe erfahren, daß es Ihnen möglich ist, bestimmte Arrangements zu treffen … Denken Sie, Sie könnten mir etwas Eiscreme besorgen?«

»Selbstverständlich, Sir. Welche Sorte?«

»Ich weiß auch … Am besten wohl Schokolade.«

Der Steward lächelte und steckte den Geldschein in die Tasche. »Plagt Sie eines dieser späten Gelüste, hm?«

»Ja«, sagte Michael. »Das schlimmste überhaupt.«