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Wir stehen in Köln-Deutz in der Kasemattenstraße. Ein Mietshaus aus den sechziger Jahren mit grauer Fassade, die bis zu einer Höhe von rund vier Metern gekachelt ist. Ich habe mehrmals geklingelt, aber Felix macht nicht auf. In meinem Kopf beginnen sich merkwürdige Bilder zu formen. Felix, der in seinem eigenen Erbrochenen erstickt ist; der überfallen wurde und mit eingeschlagenem Kopf blutend im Flur liegt. Vielleicht ist er in der Wanne ausgerutscht und hat sich den Hinterkopf gestoßen.
«Ich geh jetzt in seine Wohnung», entscheide ich und zücke den Schlüssel mit dem Homer-Simpson-Anhänger daran.
«Wann hattet ihr zuletzt Kontakt?», fragt Hendrik.
«Vorgestern, am Sonntag, per SMS. Samstag telefoniert. Aber das hat nichts zu sagen.»
«Warum glaubst du dann, dass etwas passiert ist?»
«Weil Felix nicht der Typ ist, der meine SMS oder Anrufe unbeantwortet lässt. Der Mann schläft neben seinem Handy.»
Ich öffne die Tür und betrete den Hausflur. Die selbst ernannte Hausmeisterin im Erdgeschoss, Frau Meissner, eine ältere Dame mit nachlassendem Gehör, steht schon in ihrer offenen Wohnungstür.
«Ach, Frau Bottin, Sie sind das.»
Ihr Blick wandert von der Halskrause zu dem Pflaster an meiner Schläfe.
«Ist nur eine Platzwunde, nichts Schlimmes», sage ich und spaziere an ihr vorbei.
«Ist er wieder verreist? Er hat mir gar nicht gesagt, dass Sie vorbeikommen würden», erklärt sie und wischt ihre Hände an der Schürze ab.
Hendrik sieht abwechselnd von ihr zu mir.
«Ich muss etwas abholen», lüge ich.
«Ja, wenn das so ist.» Sie deutet zur Treppe.
Felix’ Wohnung befindet sich unter dem Dach; eine kleine gemütliche Zweizimmer-Wohnung. Von seinem Küchenfenster aus kann man den Dom sehen.
«Warte», sagt Hendrik, als ich den Schlüssel ins Schloss stecken will. Er kniet nieder und studiert den Türstock und das Schloss. «Keine Einbruchspuren», stellt er fest.
Ich stecke den Schlüssel ins Schloss, und die Tür springt mit einem leichten Klicken auf. Sofort schlägt mir abgestandene Luft entgegen, die leicht vermodert riecht. Ich halte den Atem an. Ein mulmiges Gefühl breitet sich in meinem Magen aus.
«Hallo? Felix?»
Ich gebe der Tür einen Schubs und lasse sie aufgleiten. Der Flur sieht aus wie immer. Sein antiker Garderobenschrank. Die schmale Kommode mit der großen, balinesischen Holzschale darauf, die mit Schlüsseln und Krimskrams gefüllt ist.
Vom nahezu quadratischen Flur gehen geradeaus zwei Türen ab. Links das Wohnzimmer und rechts die Küche. Neben dem Wohnzimmer geht es linkerhand ins Schlafzimmer. An die Küche grenzt rechts das Badezimmer. Die Küchentür steht halb offen. Die Schubladen sind herausgezogen, der Inhalt ist durchwühlt worden und liegt teilweise am Boden. Die Türen der Oberschränke stehen auf. Der Mülleimerdeckel ist nicht an seinem Platz; es stinkt nach Abfall.
Die Badezimmertür ist geschlossen. Ich knipse das Licht an. Ein kleines rotes Lämpchen über dem Schalter leuchtet auf. Ich sehe Hendrik in die Augen. Er nickt mir zu, und ich drücke die Türklinke nach unten.
Das Badezimmer ist leer. Alles scheint an seinem Platz zu sein. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, in eine bekannte Wohnung zu gehen, ohne dass der andere weiß, dass man dies tut. Mein Blick schweift über die Kosmetikartikel auf der gläsernen Ablage über dem Waschbecken. Nichts fehlt. Nassrasierer und Zahnbürste sind da. Nichts, was nach spontanem Urlaub oder plötzlicher Dienstreise aussieht.
«Ach du liebes bisschen», höre ich Hendrik aus dem Flur rufen.
Er steht auf der Schwelle zum Wohnzimmer, in dem Felix auch sein Büro untergebracht hat. Das Zimmer sieht aus, als hätte eine Horde Affen darin gewütet. Alle Schubladen und Schränke wurden aufgerissen und durchwühlt, zwei Pflanzen umgekippt, die dunkelbraune Erde ist über den Teppich verschüttet, Papiere liegen wild verstreut auf dem Boden, das Polster des Sofas wurde aufgeschnitten. Die Füllmasse ist hervorgequollen und liegt teilweise in Flocken auf dem Boden. Alle Bücher sind aus dem Regal gefegt worden.
Hendrik zückt sein Handy aus der Hosentasche.
«Fass bloß nichts an», zischt er mir noch zu, dann wendet er sich ab, um zu telefonieren. Ich nicke automatisch. Bin noch immer erschrocken. Ich gehe in das Schlafzimmer nebenan, das ebenfalls durchwühlt wurde. Der Kleiderschrank ist teilweise leer geräumt, ein Großteil der Kleidung liegt auf dem Fußboden verstreut. Socken, Unterhosen, T-Shirts, Jeans. Alles ist zu einem heillosen Durcheinander aufgeworfen. Hendriks Stimme ertönt aus dem Nebenraum. Er meldet den Einbruch und gibt die Adresse durch.
Ich umkurve den Klamottenberg und sehe mich um. Die Nachttischlampe wurde umgestoßen, und der Lampenschirm liegt zertreten am Boden. Die Schublade des Nachttischs ist herausgerissen, aber außer einer Dose Wick Vaporub, Kondomen und einer Flasche Poppers ist nichts darin. Ein Bilderrahmen liegt mit der Vorderseite nach unten auf dem Boden. Ich hebe ihn vorsichtig an. Das Glas ist zersprungen. Es ist ein Bild von Felix mit seiner Tochter. Sie lachen in die Kamera, braun gebrannt und fröhlich. Im Hintergrund glitzert das Meer.
«Nichts anfassen, du verwischst sonst wertvolle Spuren», schimpft Hendrik mit mir. Er trägt Einweghandschuhe. Die hat er immer in der Hosentasche.
Allzeit bereit, der Herr Kommissar.
Ich lege das zerbrochene Bild wieder vorsichtig auf den Boden, als würde dies etwas ändern. Es juckt mich in den Fingern, die Wohnung auf den Kopf zu stellen und nach Hinweisen auf Felix’ Recherche zu durchsuchen. Hendrik scheint meine Gedanken lesen zu können.
«Das ist jetzt ein Tatort», erklärt er mir.
Ich stehe auf, meine Knie knacken, und mir wird schwindelig. Hendrik packt mich unter dem Ellbogen und will mir aufhelfen, aber ich reiße meinen Arm mit Schwung nach hinten und kippe fast um. Fange mich wieder. Hendriks Blick weiche ich aus. Bilder zucken wie Blitze durch meinen Kopf, so schnell, dass ich sie kaum erkennen kann.
Hässliche Bilder sind das. Ein Gesicht. Im Schmerz verzerrt zu einer Fratze. Ein offener Mund, aus dem Blut sickert und auf den Boden tropft. Ein gehängter Mann. Der nicht Felix ist. Weit aufgerissene, leblose Augen.
Ich fasse an meine Schläfen. Die Bilder sind so schnell wieder weg, wie sie gekommen sind.
«Alles klar?», fragt mich Hendrik.
«Geht schon», beschwichtige ich und stapfe in die Küche, um mir ein Glas Leitungswasser einzuschenken.
Was war denn das?
Mir ist mulmig zumute. Irgendwie ist mein Kopf nicht mehr der alte. Etwas hat sich verändert. Ich kann es spüren.