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«Was sagen Sie da?»

Eine Sekunde später hören wir, wie ein Auto vor der Garage hält. Rosemarie registriert es wie ein Hund.

«Mein Mann kommt nach Hause. Sie müssen gehen.» Rosemarie reißt mir die Karte mit einem Ruck aus der Hand und verstaut sie in der Schublade. Ich stehe auf.

Sag es ihr. Jetzt. Du musst es ihr sagen.

«Rosemarie, Sie müssen mir zuhören. Es gab zwei Morde in Köln, zwei Männer sind getötet worden. Beide haben eine Postkarte vorab erhalten. Genau wie Sie.»

«Ich will das nicht hören», sagt sie und hält sich für einen Moment demonstrativ die Ohren zu. «Mein Sohn ist wieder da, das ist das Einzige, was zählt. Beeilen Sie sich. Sie müssen jetzt gehen.» Sie drückt mir meine Tasche in die Hand, führt mich mit schnellen trippelnden Schritten zur Haustür.

«Rosemarie, Sie dürfen das nicht ignorieren. Hören Sie mir doch zu.»

Ich spüre ihre kalte Hand in meinem Rücken. Im Gehen bemerke ich im Augenwinkel einen Schatten auf der Treppe, die in den oberen Stock führt. Ich bin mir sicher, dass ich eine Gestalt gesehen habe.

Rosemarie hat die Tür geöffnet, flüstert mir zu. «Er darf Sie hier nicht sehen. Er kommt durch die Garage rein. Schnell. Ich rufe Sie wieder an, ganz bestimmt.» Sie schiebt mich aus der Tür. In ihren Augen schwimmen Angst und Tränen. Ihr Mund formt ein stummes Wort: Danke. Dann schließt sie die Haustür vor meiner Nase.

 

Eine Stunde später, es ist mittlerweile halb acht, liege ich in der Badewanne. Ich habe versucht, Hendrik zu erreichen, aber er geht nicht an sein Handy. Mein Kopf ruht auf einem gefalteten Frottéhandtuch. Ich starre an die Decke. Mein schönes Ritual vor der Sendung ist diesmal nicht sehr entspannend, trotz brennender Kerze und Tee neben der Wanne. Ich bin zu aufgewühlt von dem, was Rosemarie mir erzählt hat. Von der Postkarte, die sie mir gezeigt hat. Aber ich muss einen klaren Kopf bekommen, überlegen, was als Nächstes zu tun ist. Ich habe im Wohnzimmer die Melody-Gardot-CD aufgelegt, die Hendrik mir geschenkt hat. Ihr Gesang weht zu mir ins Badezimmer herüber. Aber schon nach dem ersten Lied höre ich nicht mehr hin und blende alles um mich herum aus.

Die Postkarte, die Rosemarie erhalten hat, ist eine Ansichtskarte aus London. Wie bei Frederik Barns und Helmut Langer. Die Karte zeigt ein Motiv aus England, Queen Elizabeth. Ein altes Foto von ihr, aus der Zeit kurz nach ihrer Krönung vermutlich. Es ist eine dieser Vintage-Karten, die stark nachkoloriert wurde. Die Queen steht in einem festlichen Kleid mit blauer Schärpe vor einem imposanten, marmornen Kamin. Sie trägt ein Diadem und sieht mit einem leicht süffisanten Gesichtsausdruck am Fotografen vorbei. Die Postkarte hat eine deutsche Briefmarke und ist vor einem Tag in Köln abgestempelt worden. Die Schrift ist steil und nach links fallend. Es sind nur fünf Wörter. Und ein Buchstabe, der Rosemarie alles bedeutet. Der eine fast zu Tode getrunkene Hoffnung wieder entfacht wie ein Windhauch ein scheinbar erloschenes Feuer.

Auf der Karte steht nur:

ICH BIN DA. Libera me.

A.

Rosemaries Sohn lebt. Er ist wieder da, nach so vielen Jahren. Warum kehrt er zurück? Ist er für die Morde verantwortlich? Warum ignoriert Rosemarie meine Warnung? Und vor allem: Hat er vor, ihr ebenfalls etwas anzutun?

Und: Was kann ich mehr tun, als sie zu warnen?

Bevor ich in die Wanne gestiegen bin, habe ich den Satz von der Karte nachgeschlagen. Libera me, also «Rette mich», ist aus der Liturgie der katholischen Begräbnisfeier. Ich hasse die Kirche. Der Text klingt nicht wirklich aufmunternd:

Rette mich, Herr, vor dem ewigen Tod

an jenem Tage des Schreckens,

wo Himmel und Erde wanken,

da Du kommst, die Welt durch Feuer zu richten.

Zittern befällt mich und Angst,

denn die Rechenschaft naht und der drohende Zorn.

O jener Tag, Tag des Zorns,

des Unheils, des Elends,

o Tag, so groß und so bitter,

da Du kommst, die Welt durch Feuer zu richten.

Herr, gib ihnen die ewige Ruhe,

und das ewige Licht leuchte ihnen.

Ich schließe die Augen. Konzentriere mich auf meine Atmung und lasse alle Gedanken durch mein Hirn rauschen. Das warme Wasser macht mich träge.

Rechenschaft? Tag des Zorns? Die Welt durch Feuer zu richten? Klingt nicht wirklich nach einer harmonischen Familienzusammenführung. Mein Kopf ist voller Fragen, meine Kopfhaut kribbelt. Ich denke an die Geschichte, die Rosemarie mir erzählt hat. Vor meinem inneren Auge sehe ich ihren Jungen, wie er schwimmt und trainiert wird, wie er die ersten Siege nach Hause bringt. Was ist passiert, dass du abgehauen bist?

Und während ich noch darüber nachdenke, schlafe ich ein.

 

Ich schrecke aus einem Traum hoch. Öffne die Augen. Richte mich auf und lausche. Die Bewegung verursacht ein Quietschen auf dem Wannenboden. Meine Sinne sind noch benebelt vom Schlaf. Es ist dunkel in meinem Badezimmer bis auf die Kerze, die ein schummriges Licht erzeugt. Der brennende Docht flackert. Draußen ist es Nacht geworden; ich kann es durch das milchige Badezimmerfenster sehen. Ich bin tatsächlich eingeschlafen. Das Wasser ist fast kalt. Mich fröstelt. Ich stelle meine Ohren auf, aber ich kann nichts hören. Kein Geräusch. Nichts. Vielleicht war es nur in meinem Traum. Mit beiden Händen fahre ich mir durch das Gesicht. Meine Fingerkuppen sind schrumpelig geworden.

In dem Moment fällt mir etwas auf. Die Badezimmertür ist zu.

Sie war vorher auf. Ich weiß es genau, denn ich wollte die Musik aus dem Wohnzimmer hören. Ist sie zugefallen, und hat mich das geweckt? Aber das Fenster ist geschlossen. Keine Zugluft.

Ich stehe auf, reiße das Handtuch von der Wandhalterung und trockne mich hastig ab. Die Kerzenflamme flackert wild hin und her. Dann werfe ich mich in meinen Bademantel, der hinter der Tür hängt. Ich knote gerade den Gürtel vor meinem Bauch zu, da höre ich etwas. Ein Geräusch, gefolgt von einem Klacken.

Schuuuu. Schuuu.

Das Geräusch ist in meiner Wohnung. Jemand öffnet Türen und Schränke. Ich sehe mich hektisch um und schnappe mir den Rückenschrubber; eine andere Waffe finde ich auf die Schnelle nicht. Nehme die Türklinke in die linke Hand und drücke sie langsam nach unten.

Das Geräusch verstummt.

Ich halte den Atem an. Die Tür ist nur einen Spalt geöffnet. Meine Wohnung liegt im Dunkeln. Meine Nackenhaare stellen sich auf. Jemand ist in meiner Wohnung.

Ich öffne die Tür und trete aus dem Badezimmer in den dunklen Flur. Meine Augen brauchen einen Moment, bis sie sich an die Dunkelheit gewöhnt haben. Auf Zehenspitzen tapse ich durch den Korridor. Obwohl ich meine Wohnung kenne, stoße ich mir den Zeh an der Kommode. Ich fluche in Gedanken, mein Atem geht flach, und mein Herz schlägt schnell in meiner Brust. Der Flur ist rund zehn Meter lang. Klassischer Altbauwohnungsflur. Kurz vor der Schwelle zum Wohnzimmer bleibe ich stehen.

Eine Gestalt steht mitten im Raum. Es ist ein Mann, recht groß und breit. Er dreht sich wie in Zeitlupe um, und ich weiche einen Schritt zurück. Sein Gesicht ist für mich nicht zu erkennen, denn er trägt eine dieser Skimasken, die nur Augen und Mund aussparen. Ich kann seinen Atem hören, der gleichmäßig geht. Das Adrenalin strömt wild durch mein Hirn; ich bin wach, als wäre ich auf der Jagd. Ich greife den Rückenschrubber fester.

«Ich rufe die Polizei», sage ich mit relativ fester Stimme und strecke die linke Hand in Richtung Lichtschalter aus. Er hebt seine rechte Hand, und ich sehe etwas aufblitzen. Es ist ein Messer. Ich spüre, wie Schweiß meine Wirbelsäule hinunterläuft.

«Kein Licht», sagt er ruhig.

Ich nehme die Hand wieder vom Lichtschalter. «Wie sind Sie hier reingekommen?», frage ich wenig geistreich.

«Durch die Tür. Sie lagen in der Wanne. Sah fast aus, als wären Sie tot.»

Ich schlucke und weiche einen weiteren kleinen Schritt zurück. Er setzt nach.

Mir wird heiß und kalt.

«Ich weiß, wer Sie sind», flüstere ich.

«Sie wissen gar nichts», sagt er. Seine Stimme ist männlich und markant. Sie hat etwas Raues an sich. Er spricht deutlich, fast schon überdeutlich.

«Sie sind der Mann vom Eisstand am Rhein. Gestern sind Sie mir im Auto hinterhergefahren. Wieso verfolgen Sie mich?»

«Das verstehen Sie nicht», zischt er. Seine Worte sind wie das bösartige Fauchen eines Tieres, dem man zu nahe kommt.

«Was wollen Sie von mir?» Ich kann nicht verhindern, dass meine Stimme zittert.

«Sie sind auch so eine, nicht wahr? Sie können sie sehen.»

«Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.»

«Das Mädchen, das Sie am Rhein gesucht haben. Wo ist sie? Ist sie hier?»

Ein Gedanke rast wie eine Flipperkugel durch meinen Kopf. Mir ist heiß in dem Bademantel. Meine Hand zittert.

«Warum können Sie Hanna sehen?»

«Ich weiß es nicht», flüstere ich.

Hanna. Du heißt also Hanna.

Mein Mund ist trocken. Er zeigt mit dem Messer auf mich.

«Verarschen Sie mich nicht», presst er zwischen den Zähnen hervor. Sein Blick ist irre; ich kann das Weiß seiner Augen im Halbdunkel leuchten sehen.

«Keine Ahnung. Ich kann sie seit meinem Autounfall vor ein paar Tagen sehen. Ich weiß nicht, wer sie ist. Aber …»

«Wo haben Sie Hanna das erste Mal gesehen? Was hatte sie an?»

Ich bin perplex. «An einer Ampel», beginne ich zögernd. «Sie stand an einer Ampel, und ich fuhr vorbei. Sie hat braunes Haar. Recht dickes braunes Haar, das bis zu ihren Schultern geht.» Ich zeige mit meiner freien Hand, wie lang die Haare waren. «Und sie trug ein hellbraunes Cordkleid», ergänze ich. «Und rosa Gummistiefel. Aber sie spricht nicht mit mir.»

«Sie kann nicht sprechen», sagt der Mann in scharfem Ton. «Hanna ist stumm.»

«Ich habe das Gefühl, dass sie mir helfen will, meinen Freund Felix zu finden.»

«Ich kenne keinen Felix», sagt er.

«Wer ist Hanna? Warum ist sie so wichtig für Sie?», frage ich vorsichtig.

«Sie kennt die Wahrheit. Ich will, dass Sie Hanna herholen. Ich muss mit ihr reden. Rufen Sie Hanna. Jetzt», befiehlt er mir in strengem Ton.

Ich atme hektisch durch die Nasenlöcher. Meine Knie zittern. «Ich weiß nicht, ob das so funktioniert. Sie hat bislang immer von sich aus Kontakt zu mir aufgenommen, nicht umgekehrt. Es tut mir leid.»

Das Messer schnellt mit einem Mal nach vorne, ich schreie auf und hechte zur Wohnungstür. Er rennt mir hinterher, erwischt mich an den Haaren, reißt meinen Kopf nach hinten. Legt das Messer an meine Kehle.

Seine Stimme ist eisig und furchteinflößend.

«Lassen Sie die Finger von dieser Geschichte. Sie sind schon viel zu nah dran. War das deutlich genug?», zischt er.

Ich spüre die kalte Klinge an meiner Kehle. Meine Knie schlottern. Tränen stehen in meinen Augen. Ich nicke zur Bestätigung.

Er öffnet meine Wohnungstür und ist mit einem Mal im dunklen Treppenhaus verschwunden.

Reflexartig schließe ich die Wohnungstür zwei Mal ab. Meine Knie zittern jetzt heftiger, und mir wird speiübel. Mein Herz pocht so heftig, als wollte es mir aus der Brust springen.

Verdammt, es ist fast halb zehn. Ich bin viel zu spät dran.

Panik macht sich in mir breit. Ich reiße mir den klammen Bademantel vom Leib und hänge ihn hinter die Badezimmertür an den Haken. Ich sprühe Deo unter meine Achseln und bürste mit vier schnellen Strichen meine Haare. Meine Knie sind immer noch wackelig.

Der Duft des Badezusatzes hängt noch in der Luft. Ich drehe mich um und beuge mich zur Wanne herunter, um den Stöpsel herauszuziehen und das kalte Badewasser abzulassen. Aber da ist noch ein Geruch.

Der Schreck fährt mir so in die Glieder, dass ich laut aufschreie.

In der Wanne liegt Hanna.

Sie ist ganz bedeckt von dem Wasser, blickt mich belustigt an. Sie trägt rosa Gummistiefel und ihr Cordkleid.

Ich schnappe nach Luft.

Hanna grinst mich an und legt den ausgestreckten Zeigefinger auf ihren lachenden Mund.