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Felix hat einen Spitznamen. Er lautet Popeye. Nicht nur wegen seiner dicken Oberarme. Auch deswegen, weil er wirklich gern Spinat isst. Das lebende Klischee.
Ich schließe Felix’ Wohnungstür hinter mir ab, denn ich will nicht noch einmal überrascht werden. Laufe durch die Wohnung und vergewissere mich, dass ich wirklich alleine bin. Für einen Moment wünsche ich mir, er säße einfach im Wohnzimmer, inmitten all des Durcheinanders, und würde seine Papiere und Unterlagen ordnen. Zu mir aufsehen, mit diesem Grinsen, das seine Wirkung nie verfehlt. Aber das Wohnzimmer ist einsam und verlassen, und immer noch verwüstet.
Ich gehe in die Küche und werfe einen Blick aus dem Fenster in den Hof, der vier Etagen unter mir liegt. Ich kann die quadratischen Deckel der schwarzen und gelben Mülltonnen erkennen. Zwei Fahrräder lehnen an der Wand. Die Teppichstange ist verrostet; an ihr baumelt ein schwarzer Plastikkleiderbügel.
Ich löse mich vom Fenster, horche kurz in den Flur, aber alles ist ruhig. Dann reiße ich die Kühlschranktür auf. Viel ist darin nicht zu finden. Zwei Joghurt mit Himbeergeschmack, eine Tube Düsseldorfer Senf, vier Flaschen Kölsch, eine halb leer getrunkene Flasche mit Orangensaft, Pumpernickel, eine Packung mit Käseaufschnitt. In der Türe Essiggurken und eine Flasche Multivitaminsaft. Ich schließe die Türe, gehe in die Hocke und bin aufgeregt wie ein Kind, das gleich einen Schatz heben wird. Ich öffne das Eisfach, und mit einem Ruck ziehe ich die erste Schublade auf, wühle mich durch portionierbaren Rotkohl, einen Apfelstrudel, vier Pizzen und ein Knoblauchbaguette. In der Schublade darunter sind drei Tupperdosen mit undefinierbarem Inhalt und vier Tüten mit Spinat, portionierbarem Blattspinat. Mein Puls steigt. Drei der vier Tüten sind offen und mit einem Clip wieder verschlossen worden.
Merkwürdig. Wieso drei auf einmal?
Ich öffne die erste und wühle mich durch den Spinat, meine Fingerkuppen werden gefühllos. Nichts. Ich nehme mir die zweite Tüte vor, entferne den Clip und krame zwischen den gefrorenen Spinatbollen. Wieder nichts. Auch in der dritten Tüte kann ich nichts finden. Nur Spinat. Handlich verpackt. Ich setze mich an den kleinen Küchentisch und starre gedankenverloren auf die geöffnete Gefriertruhe, aus der Eisnebel emporwabert.
Habe ich mich getäuscht? Habe ich die Zeichen falsch gedeutet?
Ich nehme mir nochmals die zweite Schublade vor. Ziehe sie, wie das kleine Mädchen es vorgemacht hat, heraus und entleere den Inhalt auf den Fußboden. Dann inspiziere ich die Schublade, drehe und wende sie, aber ich finde nichts. Die vierte, unangebrochene Tüte mit Spinat liegt vor mir. Ich hebe die Tüte an einem Zipfel hoch und drehe sie vor meinem Auge, lege sie flach auf die Tischplatte, taste die Ränder ab. Und siehe da: Am rechten unteren Rand weist die Schweißnaht des Beutels einen kleinen, feinen Schnitt auf. Mit einem Messer schneide ich die Tüte oben auf und leere den Inhalt auf den Tisch. Die gefrorenen Spinatbollen liegen wie Grillbriketts vor mir, und ich schiebe sie auseinander.
«Na, da schau mal her», sage ich triumphierend.
Ich halte ein Tütchen mit pinkfarbenen Pillen hoch, ein weiteres mit Gras und zu guter Letzt einen USB-Stick, der in Frischhaltefolie eingewickelt ist. Joanna hatte recht: Jeder gute Journalist hat seine Sicherheitskopien. Felix wird einen verdammt guten Grund gehabt haben, genau dieses Versteck auszuwählen, auf das womöglich nicht mal ein Drogenspürhund kommen würde. Ich stecke den USB-Stick und das Tütchen Gras in meine vordere Hosentasche, der Rest geht zurück in die Spinattüte. Ich schließe den Gefrierschrank.
Plötzlich überkommt mich das Gefühl, ich müsste diesen Ort so schnell wie möglich verlassen. Außerdem braucht Petra ihren Wagen zurück. Ich verlasse die Wohnung und fahre los. Ich weiß jetzt schon, sie wird sehr sauer sein, dass ich ihr das Auto so spät zurückgebe. Petra und ihr Mann wohnen mit ihrer kleinen Tochter in einem schmalen Haus in einer ehemaligen Arbeitersiedlung im Norden Kölns, in Neuehrenfeld. Eine beliebte Wohngegend für Familien, die den Traum vom eigenen Haus mit kleinem Garten träumen. Aber es ist ein fauler Kompromiss. Die Wände der Häuser, die in einer Reihe geklatscht stehen, sind hier dünn wie Papier, und man hört alles, was beim Nachbarn passiert. Ich würde wahnsinnig werden.
Petra und ihr Mann haben eine komische moderne Klingel, mit einem Klang wie aus einem Raumschiff. Es dauert einen Moment, dann erscheint sie in der Tür.
«Es tut mir leid», sage ich, bevor sie auch nur den Mund aufmachen kann.
«Was tut dir leid?», fragt sie mich.
Ich sehe sie erstaunt an. «Na, dass ich das Auto so spät zurückbringe», erkläre ich langsam. «Ich habe länger bei meiner Mutter gebraucht, tut mir leid.»
«Hast du meine SMS nicht bekommen? Unsere Nachbarin hat Lotte mit vom Kindergarten abgeholt.»
Ich schüttele nur den Kopf. Petras Tochter Lotte schiebt sich an der Hüfte ihrer Mutter vorbei und winkt mir zu.
«Hallo, Eva», sagt sie mit piepsiger Stimme.
«Hallo, Kleines.»
«Willst du noch einen Kaffee? Ich mach uns schnell einen.»
Ich sehe auf die Uhr, ich müsste längst im Sender sein und die Sendung für morgen auf die Schiene bringen.
«Ein anderes Mal gern», antworte ich. «Aber ich muss wirklich los, sorry.» Sie zuckt mit den Schultern. Ich küsse sie schnell auf die Wange und drehe mich um.
Ich stelle fest, dass ich dringend ein neues Auto brauche. Und zwar schnell.
«Kennst du einen guten Gebrauchtwagenhändler?»
«Thomas hat mir neulich von einem hier im Industriegebiet erzählt, ich frage ihn nachher mal. Und, Eva?»
«Ja?»
«Pass auf dich auf. Bitte.»
Petra sieht mich mit besorgter Miene an.
«Versprochen», antworte ich und nicke ihr zu.
An der Ecke steht ein Taxi, und ich entscheide, dass ich heute keine Lust habe, mit der Bahn zu fahren. Ich werfe mich auf den Rücksitz, schlage die Tür zu und belle dem Taxifahrer die Adresse entgegen. Der USB-Stick in meiner Jeanstasche bohrt sich im Sitzen in meinen Oberschenkel.
Öffne mich, flüstert er mir zu.
Ich kann es förmlich hören.