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Vor der Redaktionssitzung um 14 Uhr muss ich dringend eine rauchen. Hendrik hat versprochen, mich nachher anzurufen, wenn die Spurensicherung ihm eine Rückmeldung gegeben hat. Bis dahin muss ich meinen Job machen.
Ich sitze nach einer schnellen Dusche in frischen Klamotten an meinem Schreibtisch im Sender und blase den Rauch gegen die Zimmerdecke. Meine Unterschenkel ruhen auf der Tischkante, und ich lasse die Spitzen meiner High Heels kreisen.
«Ferragamo», sage ich mit gespielt italienischem Zungenschlag und betrachte die olivfarbenen Peeptoes, die ich letzten Herbst in Florenz gekauft habe. Mit Reptilprägung vorne und elf Zentimeter hohen Absätzen. Dazu Fesselriemchen mit kleiner silberner Schnalle. Sie sind unfassbar bequem und von sagenhafter Qualität. Die Italiener wissen einfach, wie man anständige Schuhe herstellt. Ferragamo ist kein Handwerker, er ist ein Künstler.
Ich ziehe an der Zigarette und hoffe, dass der leichte Druck in meinem Hinterkopf nachlässt. Die Halskrause habe ich in die unterste Schublade meines Schreibtischs gestopft. Ich will nicht von jedem auf mein neues Accessoire angesprochen werden.
Die Tür geht auf, und Isa kommt mit Unterlagen im Arm herein. Ihr erster Blick fällt auf die Ferragamos.
«Dass du in so was laufen kannst.» Sie schüttelt den Kopf. Dann sieht sie mich plötzlich erschrocken an. «Ach so, wie geht’s eigentlich deinem Kopf? Besser?» Sie macht ein besorgtes Gesicht.
«Geht schon. Halb so wild.» Ich zwinkere ihr zu und betrachte ihre Aufmachung. Sie trägt ein uraltes verwaschenes T-Shirt in XL, dunkelgraue Leggins mit einem Wildlederrock darüber und schwarze Motorradstiefel. Um den Hals baumelt eine schwere Silberkette.
«Ich könnte, ehrlich gesagt, in deinen Schuhen auch nicht laufen», antworte ich und grinse breit. Isa lacht ihr ohrenbetäubendes Lachen, das über den ganzen Flur schallt.
«Das möchte ich sehen. Dich als richtige Rockerin in fetten Stiefeln», ruft sie amüsiert. «Los, komm. Wir müssen zur Konferenz, die anderen warten schon.»
Das Redaktionsmeeting war wegen des Unfalls auf heute verschoben worden. Wir finden uns im Konferenzraum im neunten Stock ein, von wo man einen sagenhaften Blick auf den Rhein hat, der momentan aber nur eine trübe, braune Brühe ist. Wir kommen rein. Rebecca, die Redakteurin, und Charlotte, der neue Dorn in meinem Auge, sitzen schon am Tisch. Rebecca steht auf und umarmt mich.
Die Sendung Evas Welt ist mein Baby. Einmal pro Woche, jeden Freitagabend, zwei Stunden lang. Das Prinzip ist simpel: Ich porträtiere Frauen und ihre Lebenswelten, stelle Fragen, die mich selbst interessieren. Deswegen heißt die Sendung auch Evas Welt, wie Eva, die erste Frau, versteht sich. Das Sendungskonzept ist übrigens von mir. Meine Stimme, meine Beiträge und dazu Musik, die hervorragend zum Freitagabend passt. Keine Werbeblöcke. Das Geheimnis sind die Themenauswahl und die Art der Darstellung. Nur durch meine Brille, mit meinen Augen und mit meinen Fragen. Ich wechsele in der Sendungsgestaltung zwischen Livegästen und vorproduzierten Interviews ab; das macht die Sache dynamisch und abwechslungsreich und kommt sehr gut an. Außerdem sind nicht alle meine Interviewpartner gut geeignet, live in ein Mikro zu sprechen. Eines ist mir bei meinem Baby wichtig: Vorab treffe ich alle meine Interviewpartnerinnen persönlich; diese Arbeit lasse ich mir nicht aus der Hand nehmen. Denn mein Bauch sagt mir, ob eine Story und die Person wirklich sendewirksam sind. Oder eben nicht.
Die Beliebtheit von Evas Welt kommt nicht von ungefähr. Ich bin mit der Sendung seit sieben Jahren so erfolgreich, weil eine straffe Organisation mit einem kleinen, feinen Team dahintersteckt. Die Redaktion, bestehend aus drei Frauen, sortiert Zuschriften und Ideen, die an uns herangetragen werden, und erarbeitet mit mir mögliche Themen, recherchiert Personen, macht Termine, beantwortet Hörerpost und so weiter. Sie geben der Sache Struktur. Ich bin dann die Frau fürs Feine. Die Sendung ist meine Bühne, meine Manege der Emotionen. Ich weiß, welche Knöpfe ich bei meinen Gästen drücken muss. Ich denke, ich habe etwas Manipulatives an mir, wie vermutlich die meisten Frauen, die ihren Exliebhaber zum Chef haben, der immer noch auf sie steht und einem daher immer wieder den roten Teppich ausrollt. Wenn nach einer Sendung die Telefone nicht heiß laufen, bin ich sauer. Das kommt selten vor, aber es kommt vor.
«Die letzte Sendung hatte insgesamt über fünfhundert Anrufe, das ist oberster Rang, davon kamen hundertzwölf Anrufe durch», berichtet Rebecca, die dunkelhaarige, etwas kräftige Redakteurin. Ich mag Rebecca, sie ist fleißig und zuverlässig. Ich vermisse etwas Rückgrat an ihr, und sie könnte ihre braunen, halblangen Haare anders tragen, aber sie ist eine gute Journalistin und genießt mein volles Vertrauen.
Rebecca fährt fort. «Wir möchten an diesen Erfolg anknüpfen, Eva. Aber die Themen momentan …»
«Ich weiß. Frauen in der Krise laufen am besten …», unterbreche ich sie und beiße in ein Croissant. Ich kaue schnell und schlucke den Bissen hastig herunter. «… schon klar. Aber die Sendung braucht Abwechslung. Kommt schon, die Todesreihe ist prima. Tod gehört zum Leben.» Ich sehe aufmerksam in die Runde.
Drei Augenpaare sehen mich an.
Isa macht große Augen und kritzelt etwas auf ihren Block.
Die drei sind mit meiner Reihe «Der Tod steht ihr gut» nicht wirklich glücklich, aber ich finde sie prima. Den Titel habe ich natürlich von dem gleichnamigen Film mit Goldie Hawn und Meryl Streep geklaut, in dem sie durch ein Serum unsterblich werden. In der neuen Reihe soll es um Frauen in Berufen oder Tätigkeiten gehen, die sich mit dem Tod beschäftigen. Die erste Folge ist am kommenden Freitag mit einer jungen Frau, die das Kölner Krematorium leitet. Eine wirklich spannende Person, aber Rebecca hat Angst, dass das Thema nicht genügend Call-in produziert, also Anrufe bei laufender Sendung, die live zugeschaltet werden. Ich sehe das ganz anders.
Rebecca sieht auf ihre Fingernägel, entfernt einen imaginären Fleck und holt Luft. «Es ist so …», beginnt sie.
Charlotte schaltet sich sofort dazwischen. «Rudolf hat gesagt, wir brauchen mehr Call-in, das stärkt das Sender-Image und schafft Nähe», betet sie seine Worte runter. Ich kann ihn förmlich aus ihrem Mund sprechen hören. Charlotte, die neue Assistentin, ist eine überparfümierte Möchtegernjournalistin mit Pferdegebiss. Ich sehe sie so lange an, bis es ihr unangenehm wird.
«Ich habe nichts gegen Call-in, aber es gibt Themen, die brauchen kein Call-in, weil man sich darüber nicht am Telefon unterhält», erkläre ich mit ruhigem Ton und fasse an meinen dröhnenden Kopf.
«Die Frau, die das Krematorium leitet, bietet sich doch super an», widerspricht Charlotte.
«Gehen wir erst mal die Sendung im Detail durch», schlage ich vor und schenke mir aus der silbernen Thermoskanne Kaffee ein.
Wir legen den Ablauf fest, bestimmen die Interviewzeitfenster und besprechen Musikwünsche, die der Musikchef bekommt, damit er die passenden Songs aussucht. Da die Sendung außer Nachrichten und Verkehr keinerlei Unterbrechung hat, verlangen die 120 Minuten einen straffen Sendeplan. Es wäre fatal, wenn die Interviewpartnerin vor mir säße, plötzlich einen Blackout hätte und nur noch einsilbig antworten könnte. Ist alles schon vorgekommen. Deshalb werden zur Sicherheit Back-up-Beiträge beziehungsweise Interviewsequenzen vorproduziert. So auch diesmal.
«Ich habe mir ein Bild von ihr gemacht. Die Frau kann munter erzählen. Über Verbrennung und Asche. Und über den Tod.»
«Bietet sich doch an für einen Call-in», wiederholt Charlotte.
«Das Thema ist nicht dialogfähig und zu persönlich. Was sollen die Hörerinnen denn fragen? Wie viel ihr toter Ehemann mal wiegen wird, wenn er verbrannt ist?», frage ich.
«Zum Beispiel», ruft Charlotte mit angriffslustiger Miene und fährt fort. «Die Hörerinnen wollen Fragen stellen. Eine Frau, die ein Krematorium leitet, ist etwas Ungewöhnliches, die wollen diese besondere Frau und ihren Job kennenlernen.»
Ich bedenke sie mit einem feinen Lächeln. «Das werden sie auch, Charlotte. Durch mich und meine Fragen. Anke Esser heißt die junge Frau, sie ist aufgeweckt und wortgewandt, sie wird bei der Livesendung auf alle Fragen eine gute Antwort wissen. Ich stelle sie vor. Ihr Leben, ihre Persönlichkeit, ihren Werdegang, ihren Alltag. Und ja, ich werde genau die Fragen stellen, die jeder Hörerin in dem Moment durch den Kopf gehen. Denn genau das ist mein Job.»
Ich lehne mich zurück. Charlottes Blick zeugt von Unsicherheit, die sie hinter einer stoischen Miene zu verstecken weiß. Diese Charlotte, die erst drei Monate zum Team gehört, hat einen Auftrag, das ist mir jetzt klar.
Ich werde wohl ein Hühnchen mit Rudolf rupfen müssen. Mein Blick geht in die Runde, und niemand sagt etwas. Isa sieht mich mit großen Augen an und starrt auf das kleine Pflaster an meiner Schläfe.
«Es geht um den Tod, da ist Pietät gefragt und nicht Voyeurismus», durchbreche ich die Stille und werfe Rebecca einen Blick zu, der klarmacht, dass sie nun eine Entscheidung treffen soll.
Rebecca blickt von einer zur anderen. «Kein Call-in, nur E-Mail-Anfragen, sonst nichts», verkündet sie und macht sich eine Notiz. Charlotte schmollt, und Rebecca fährt fort. «Machen wir weiter mit der Hörerpost. Vielleicht ist ja ein Thema dabei, das sich für ein Call-in eignet. Ein Brief ist dabei, den würde ich dir gern zeigen. Der fällt etwas aus dem Rahmen», ergänzt sie und schielt zu Charlotte, die sie mit einem strengen Blick straft.
Charlotte schiebt einen kleinen Stapel Post über den Tisch. «Das sind die aktuellen Anfragen und Themenwünsche von Hörerinnen. Wir haben sie schon vorsortiert und die uninteressanten weggelassen.»
Das ist neu. Normalerweise bekomme ich alle Anfragen auf den Tisch. Die interessantesten liegen stets obenauf, markiert mit einem Post-it. Ich habe dann freie Hand bei der Auswahl. Was nicht verwendet wird, kommt ins Archiv, und der Absender erhält einen freundlichen Brief mit einem schönen Gruß zurück.
«Nach welchem Prinzip?», frage ich irritiert und spüre ein Grummeln in der Magengegend.
«Na ja, ich habe die aussortiert, die Nonsens sind. In denen sich nur jemand wichtigmachen will.»
Ich sehe Rebecca mit einem scharfen Blick an, aber sie rollt nur mit den Augen.
«Was läuft hier eigentlich?», murmele ich und ziehe den Stapel zu mir heran. Seit sieben Jahren führe ich als freie Moderatorin diese Sendung, und ich habe ein verdammt zuverlässiges Gespür dafür, welche Themen gut sind. Und nun wird vorsortiert? Ich lasse meinen Blick über die Auswahl wandern, blättere zügig durch und hebe den Kopf.
«Ich will alle Anfragen sehen», fordere ich.
Charlotte dreht den Kopf weg, als habe sie sich verhört, als spräche ich in einer anderen Sprache. «Wie gesagt, die anderen sind nichts. Damit musst du dich nicht belasten», versucht sie mich zu beschwichtigen.
«Woher willst du wissen, was mir wichtig ist?» Meine Stimme wird lauter. Charlottes Wangen glühen.
«Ich kann das», behauptet sie. Ihr Gesicht ist trotzig, wie das einer Fünfjährigen. Mein ausgestreckter Zeigefinger geht im Takt wie ein Metronom.
«Fehler. Ganz großer Fehler.» Ich strecke den Arm aus und winke mit der Hand die fehlenden Briefe zu mir heran. «Her mit den anderen Anfragen. Wo ist der Brief, den Rebecca vorhin erwähnte?»
Charlottes Gesicht hält einen Moment stand, dann atmet sie tief aus und gibt sich geschlagen. Sie schiebt eine blaue Mappe in die Mitte des Tisches.
Ich hebe eine Augenbraue und ziehe den Stapel zu mir heran. Ich sehe die Mappe durch. Es sind viele Briefe und E-Mails. Manche kürzer, andere wiederum sind mehrseitige Geständnisse, Lebensläufe und geradezu schockierende Bittstellerbriefe. Ich überfliege kurz jeweils die ersten Zeilen, nippe am Kaffee, halte bei einem kurz inne und blättere dann zum nächsten.
«Den meinte ich», sagt Rebecca, als ich beim letzten Brief angekommen bin.
Ich sehe mir das Schreiben an. Hochwertiges Briefpapier, kein Absender. Kein Datum. Oben rechts prangt der Eingangsstempel der Redaktion. Er ist gestern angekommen. Wenig Text in einer nach links fallenden, steilen Schrift. Mit Füller geschrieben; blaue Tinte.
In meinem Kopf spüre ich ein seltsames Ziehen, als würde jemand bei einem Gefrierbeutel die Luft absaugen. Ich halte den Brief in beiden Händen und lese ihn aufmerksam durch.
Liebe Eva Bottin,
ich würde gern aus diesem Leben, das mir noch übrig ist, flüchten. Aber das ist nicht so einfach. Eigentlich ist es in Gänze unmöglich. Ich möchte Ihnen von meinem Leben und meinem Geheimnis erzählen. Mir ist wichtig, dass es für Ihre Sendung ist. Dass Sie es senden. Vielleicht kann ich damit anderen Frauen helfen. Das wäre sehr schön. Dann wäre mein Leben nicht ganz unnütz gewesen.
Könnten Sie mich treffen? Mittwoch, 15 Uhr, Rheinpark, Parkcafé. Bitte verzeihen Sie, dass ich Ihnen nicht mehr darüber schreiben kann. Ich hoffe inständig auf Ihr Kommen.
Verbindlichsten Dank
Ihre Rosemarie
«Unnütz», murmele ich.
Wie kann ein Leben in Gänze unnütz sein?
Was dann kommt, raubt mir den Atem. Meine Fingerkuppen kribbeln, als hätte ich in eine Steckdose gefasst. Ich will den Brief weglegen, aber das Papier klebt förmlich an meinen Fingerspitzen. Und dann sehe ich für einen Moment dieses Gesicht vor meinem geistigen Auge. Es ist wie in Felix’ Schlafzimmer. Ich sehe ein verzerrtes Gesicht, bleich und mit großen, angstgeweiteten dunklen Augen und einem Mund, der weit offen steht wie eine Wunde. Die Vision trifft mich wie ein Schlag ins Genick, mit einem spitzen Aufschrei werfe ich den Brief auf den Tisch, rucke mit meinem Stuhl zurück und hole tief Luft.
Charlotte, Rebecca und Isa sehen mich mit erschrockenen Mienen an.
«Was ist mit dir? Alles in Ordnung?», fragt Rebecca mit einer senkrechten Falte zwischen ihren Brauen.
«Schon okay, ist alles okay», sage ich und setze schnell ein gespieltes Lächeln auf. Ich spüre meinen Puls an meinem Hals pochen. «Ich nehme die Briefe mit und sehe sie zu Hause in Ruhe durch.»
Rebecca packt den Brief zurück in die Mappe, und ich lasse sie in meiner Handtasche verschwinden. Noch immer kann ich das Kribbeln an meinen Fingerspitzen fühlen. Mein Kopf schreit nach Sauerstoff. Ich würde gern das Fenster aufreißen und den Kopf hinaushängen, aber ich bin wie erstarrt und kann nicht aufstehen.
Das Gesicht, das ich gesehen habe, kenne ich.
Ich weiß, wer das ist.
Es ist das kleine Mädchen mit den Gummistiefeln.