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Für einen Moment hatte ich vergessen, dass ich eine Gabe habe. Schade, es war ein schöner Moment.
Ich stehe komplett neben mir. Ich weiß nicht, ob ich mich je an diese Gesichter der Toten gewöhnen kann. Geht das jetzt immer so? Jeder der stirbt, schickt mir sein Bild? Bitte nicht.
Ich nehme das Wasserglas und meine Handtasche und gehe wie in Trance von der Terrasse in den Garten, der abschüssig ist und nach 50 Metern an einer niedrigen Buchsbaumhecke endet. Das Stimmenwirrwarr hinter mir wird mit jedem Schritt leiser.
Noch ein Toter. War er auch auf dem Foto?
Am Ende des Gartens stehen zwei Metallstühle nebeneinander. Von hier hat man einen schönen Blick in das Tal. Ich setze mich und suche in meiner Handtasche nach dem Bild.
Da ist es. Vier Männer. Mit dem Zeigefinger gehe ich sie ab. Der Zweite von links, das ist er.
«Störe ich?», fragt plötzlich jemand hinter mir.
Ich zucke zusammen. Die Stimme kommt mir bekannt vor, aber ich kann sie nicht sofort zuordnen. Ich stopfe das Foto zurück in meine Handtasche und hole die Zigarettenpackung heraus. Drehe mich aber nicht um.
«Ja, das tun Sie», sage ich und stecke eine Zigarette zwischen meine Lippen.
Der Mann stellt sich einfach vor mich und sieht auf mich herab. Er hat ein sonnengebräuntes, gepflegtes Gesicht. Sein Grinsen hat etwas Schleimiges. Wirkt einstudiert.
Natürlich erkenne ich ihn. Es ist der Mann aus dem Supermarkt, der mit mir essen wollte.
«Ach, Sie sind das. Was machen Sie denn hier?» Ich kann und will meine Enttäuschung nicht verbergen.
Sein Gesicht hellt sich auf. «Ich habe Sie beobachtet.»
«Sie können anscheinend nicht damit umgehen, eine Abfuhr zu erhalten», sage ich.
Der Mann lacht. «Ja, vielleicht haben Sie recht. Ich bin es gewohnt zu gewinnen.»
«Fragt sich nur, bei welchem Spiel.»
«Ist nicht alles im Leben ein Spiel?»
Ich sehe ihn mit einem scharfen Blick an.
«Was wollen Sie von mir?», frage ich und nehme einen tiefen Zug von meiner Zigarette.
«Wie hat Ihrem Freund, dem Polizisten, der Thunfisch geschmeckt? Nein, lassen Sie mich raten. Er hat gesagt, es schmeckt wie Hühnchen. Das sagen alle, die keine Ahnung haben.»
«Woher wissen Sie, dass mein Freund Polizist ist?»
Er geht einfach darüber hinweg. «Ich habe gestern Abend Ihre Sendung gehört. Ich muss sagen, ich bewundere Ihre Art, Gespräche zu führen. So lebhaft. Dahinter steckt eine große Neugierde.»
«Mag sein. Der Einzige, der gerade neugierig ist, sind Sie. Hört Ihre Frau die Sendung eigentlich auch?» Ich nehme einen Schluck Wasser.
Er verzieht keine Miene.
«Ich bin nicht verheiratet. Ich fand Ihre Frage gut, die Sie der Frau vom Krematorium gestellt haben. Welche Todesart sie schrecklich fände.»
Sie sagte, sie fürchte nichts mehr als lebendig verbrannt zu werden, wie eine Hexe auf dem Scheiterhaufen.
«Sagen Sie, Frau Bottin, welchen Tod fänden Sie schrecklich?»
Ich will ihm nicht die Genugtuung geben, aber ich antworte fast mechanisch: «Lebendig begraben werden.»
Sein Blick fängt meinen ein.
«Und Sie?», frage ich zurück.
«Ertrinken.» Seine Antwort kommt prompt. Er ist vorbereitet. Er hat es sich gut überlegt. «Ich glaube, ertrinken fände ich schrecklich. Wenn die Kräfte schwinden und man sich langsam dem Zeitpunkt nähert, an dem man sich nicht mehr über Wasser halten kann.»
Ich finde, dass er plötzlich unheimlich aussieht. Seine Augen sind dunkelbraun, fast schwarz. Ich hätte schwören können, sie hätten eben noch eine andere Farbe gehabt. Sein ganzes Gesicht hat etwas Starres bekommen.
Wir sind allein. Nur er und ich. Ich kann die Rufe und das Lachen der anderen Gäste auf der Terrasse schwach hören. Der Wind weht immer mal wieder ein paar Fetzen herüber.
«Curiosity killed the cat», sagt er. Seine Stimme ist dunkel. «Seien Sie vorsichtig, dass Sie nicht zu neugierig werden. Hat schon den einen oder anderen etwas gekostet. Wir sehen uns wieder, Frau Bottin.»
Dann wendet er sich ab und geht mit zügigen Schritten über den Rasen. Ich sitze wie benommen da und bin für einen Moment unfähig, mich zu rühren.
Dann erst sehe ich mich nach ihm um.
Aber der Mann ist verschwunden.
Fick dich.