Elf Jahre zuvor. London, im Februar 2000
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So etwas hatte sie noch nie gesehen. Als Emily White an diesem Februarmorgen aus dem Küchenfenster in den kleinen Garten hinter ihrem Haus sah, erschrak sie. Was dort an der rostigen Teppichstange hing, jagte ihr ein kaltes Grausen die Wirbelsäule empor. Sie legte reflexartig die Hand auf ihre Brust und flüsterte nur «Oh my God».
Für einen Moment stand sie wie angewurzelt in ihrem taubenblauen Marks-&-Spencer-Morgenmantel am Fenster und betrachtete mit ihren alten, aber wachen Augen den Mann, der, so schien es zumindest, direkt zu ihr herübersah.
Als bitte er sie für das, was er getan hat, um Verzeihung.
Emily legte den Kopf schief. Sie konnte sich schon denken, wer das gewesen war. Ein kleines sanftes Lächeln umspielte ihre faltigen Mundwinkel. Dann nahm Emily ihre Hand vom Dekolleté.
Nach Jahrzehnten im Schuldienst hatte Emily White einen Blick für diese Jungs. Ob einer was taugte und es zu etwas bringen würde. Es war die Art, wie sie plötzlich begannen, Fragen zu stellen, oder ihre Antworten anders formulierten. Wie sie ihr Denken und die Richtung änderten; das machte den Unterschied. Und genau so war es jetzt bei den Sprachschülern, die Emily seit ihrer Pensionierung zu Hause unterrichtete.
Dass in dem Jungen etwas steckte, das hatte sie gleich gespürt, als er vor anderthalb Jahren das erste Mal an ihrem Küchentisch gesessen hatte. Mit seinen melancholisch braunen Augen und diesem unsteten Blick.
Schon äußerlich unterschied er sich von den anderen. Schlank, hochgeschossen, mit erstaunlich breitem Kreuz, aber schmalen Hüften und langen Armen, die fast affenartig herunterhingen. Sein Haar war dunkel und kräftig; er trug es länger, sodass es ihm ins Gesicht fiel. Sein Blick und die Aura, die er verströmte, waren voller Spannung. Als habe man ein Fass Dynamit ins Zimmer gestellt und würde mit dem Feuerzeug spielen. Und er hatte etwas, woran es den anderen schlaksigen Jungs in ihren Jeans und Sneakers mangelte: Körperspannung. Er saß kerzengerade auf seinem Stuhl.
Sein Englisch war anfangs miserabel. Hölzern. Mit schrecklicher Betonung und einem beschämend geringen Wortschatz. Aber Emily spürte, dass er lernen wollte. Er besaß einen glitzernden Ehrgeiz und verstand schnell. Er hörte zu, und er benutzte seinen Verstand. Anfangs war er sehr verschlossen und keinesfalls redselig. Er machte auffallend viel Sport, das merkte Emily wohl. Ging in eines dieser Fitnessstudios, denn sein Muskelzuwachs war beachtlich. Emily konnte förmlich zusehen, wie er sein T-Shirt mehr und mehr ausfüllte.
Es machte Emily unbändigen Spaß, ihn zu unterrichten. Er übte fleißig, erledigte seine Hausaufgaben und schwänzte nie, zahlte stets in bar, legte das Geld fast verschämt an den Rand des Tisches. Der Betrag stimmte immer. Er kam stets pünktlich zur Stunde, und sein Englisch verbesserte sich in den anderthalb Jahren auf erstaunliche Art und Weise. Aber auch er selbst veränderte sich, nicht nur körperlich. Es schien, als habe die Sprache ihm eine Tür geöffnet; er schien sich in ihr wohl zu fühlen, als sei sie ein gemütlicher Begleiter, der nun an seiner Seite ging und ihn beschützte. Er schwelgte in Worten. Fabulierte. Bildete komplexe Satzkonstruktionen und beherrschte die Zeiten und Sonderfälle aus dem Effeff. Seine Gedanken fanden Worte, seine Gefühle formten sich zu Sätzen, seine Bedürfnisse bekamen Ausdruck. Sein Wortschatz wuchs in beängstigender Schnelligkeit. Er schien Wörter, die er brauchte, förmlich aufzusaugen, und er vergaß keines davon. Nicht ein einziges. Sein Wunsch, alles korrekt auszudrücken, hatte fast etwas Pedantisches. Trotzdem blieb er in seinem Wesen verschlossen, wenngleich er mittlerweile ihrem Blick standhielt und sie mit festem Ausdruck ansah. Seine Mimik zeigte selten eine Regung. Bis auf den einen Tag im Januar, als Emily ihm die Sache mit ihrem Kater erzählte.
Emily hatte eine Katze und einen Kater. Während die Katze scheu war und sich lieber im Haus aufhielt, stromerte der getigerte Kater gern draußen herum und schien kein Misstrauen gegenüber Fremden zu besitzen. Jeder war in seinen Augen ein Freund und eine potenzielle Futterquelle. Das war eigentlich kein Problem. Bis im Dezember nebenan jemand in das Haus der verstorbenen Mrs. Carlton einzog. Und dann gab es noch diesen Hund, den keiner kannte und der genau zur gleichen Zeit in den Gärten auftauchte und umherstreunte. Jede Nacht schien er von einem Garten zum nächsten zu wandern und sich einen Notunterschlupf zu suchen. Ein verfilzter, hungriger Streuner mit argwöhnischem Blick, der eines Tages da war und auch eines Tages wieder verschwinden würde. Der neue Nachbar jedoch würde nicht verschwinden. Er war eine Plage. Und für ihn waren Katzen eine Plage.
Der Nachbar stellte Emily zur Rede und forderte sie auf, dafür zu sorgen, dass ihr Kater seinen Garten nicht mehr betrat. Das Tier würde alles vollpissen und wenn sie den Kater nicht bei sich behielt, würde er für Ordnung sorgen. Emily hatte den Mann ausgelacht. Vielleicht war das ihr Fehler gewesen.
Das werden Sie bereuen, hatte er geantwortet.
Knapp drei Wochen später fand sie ihren Kater maunzend vor der Haustür neben dem Blumentrog mit den weißen Eriken und den roten Scheinbeeren. Er lag wimmernd vor ihr und hob geschwächt den Kopf. Eine dünne Blutspur zog sich vom Gartentörchen zur Haustür. Sein Fell war an den Hinterläufen blutverschmiert. Der Tierarzt war erschüttert und meinte, jemand habe ihm einen Feuerwerkskörper in den After gesteckt und angezündet.
Emily ließ ihn einschläfern, denn die Verletzungen waren zu schwer. Sie weinte vor Wut und ballte ihre kleinen Fäuste. Sie war sich sicher, dass ihr Nachbar schuld am Tod ihres geliebten Katers war. Beweisen konnte sie es nicht. Die Polizei hörte sich Emilys Leid an und vernahm den Nachbarn, der aus allen Wolken fiel und glaubhaft versicherte, dass er damit nichts zu tun hätte. Fortan grüßte er Emily mit falscher Freundlichkeit und pfiff vor sich hin, während er Zigarillos rauchend in seinem Garten stand.
Emily kochte vor Wut.
Der Junge saß am Küchentisch und hörte Emily aufmerksam zu. Nun ruckte sein Kopf herum, und sein Blick veränderte sich in einem Maße, wie sie es nie zuvor bei ihm erlebt hatte. In seinen Augen flackerte Wut auf. Sehr viel Wut. Eine unbändige, funkelnde Kraft. Eine Ader pochte an seinem muskulösen Hals und trat wie ein bläulicher Regenwurm hervor. Dann stand er auf und ging aufrecht mit einem knappen Gruß aus dem Haus; eine Hand zur Faust geballt. Das war vor sieben Tagen.
Der Mann in Emilys Garten hing wie Jesus am Kreuz. Seine Hände waren links und rechts an der Teppichstange festgebunden. Sein Kopf war zum Küchenfenster geneigt, die Augen offen. Der Mund war mit einem Lappen geknebelt. Er trug ein blaues Businesshemd und eine quergestreifte Krawatte. Er musste schon ein paar Stunden dort gehangen haben, denn auf seinen Haaren war Raureif. Seine schwarze Stoffhose war heruntergelassen zu seinen Knöcheln, ebenso die blutbesprenkelte Unterhose. An seinen Füßen spiegelte sich eine gefrorene Lache in der fahlen Morgensonne. An der Stelle zwischen seinen Beinen, wo normalerweise sein Penis hätte sein müssen, war eine blutverkrustete Fleischwunde. Der Mann hatte kein Geschlecht mehr. Es wirkte, als habe ihm eine Bestie alles abgefressen.
«Jesus Christ», murmelte Emily. Genau neben der Teppichstange, etwa einen Meter entfernt, saß neben einem dekorativen Blumenkübel der Streunerhund. Emily erkannte ihn sofort an seinem verfilzten Fell. Seine Schnauze war blutverschmiert. Sein Maul war leicht geöffnet, seine monströse blaue Zunge hing leicht heraus, und sein Atem ging stoßweise. Über allem lag eine gespenstische, friedliche Ruhe. Emily fröstelte. Dann rief sie die Polizei und einen Krankenwagen.
Auf die Frage, wer ihm das angetan habe, blieb er stumm. Er habe keine Erinnerung mehr, sagte er mehrfach aus. Er könnte sich an rein gar nichts erinnern. Im Magen des Streunerhundes fanden sie die Reste der Geschlechtsteile des Mannes und eine große Menge Leberwurst. Keiner der Nachbarn hatte irgendetwas bemerkt. Keiner konnte sich vorstellen, wer das getan haben sollte. Die Polizei ließ den Verdacht, Emily White könnte sich an ihrem Nachbarn gerächt haben, schnell fallen. Wie sollte eine 71-jährige, 1,62 Meter kleine Frau diesen deutlich größeren und schwereren Mann überwältigen und ihm das antun?
«Detective, es macht meinen Kater ja nicht wieder lebendig. God knows», sagte sie im Flur zu dem Detective Inspector und überreichte ihm die Liste ihrer Schüler mit Telefonnummern. Der Detective Inspector, ein schmaler Typ mit langer Nase, steckte die Liste mit einem Nicken ein und bedankte sich. Sie schloss die Tür und sah ihm hinter der Gardine stehend noch einen Moment nach, wie er durch das Gartentörchen schritt, zu den Kollegen in den Streifenwagen stieg und davonfuhr. Sie lächelte. Sollten sie doch alle Schüler befragen. Sein Name steht nicht auf der Liste.
He’s a good boy. Bless him.
Sie würde niemandem ein Sterbenswörtchen verraten. Niemals.