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Die Küchenuhr zeigt zwölf Minuten nach zehn. Helmut Langer schaltet die Kaffeemaschine aus, schenkt sich den Rest aus der Kanne in den großen Becher von Starbucks und stellt sich ans Küchenfenster. Mit der Hand fährt er sich durch das Gesicht und reibt sich die müden Augen. Er hat schlecht geschlafen, lag die halbe Nacht wach. Montag hat er zum ersten Mal in seinem Leben die Polizei angerufen. Seine Stimme hatte gezittert, und er hatte seinen Verdacht so leise vorgetragen, dass die Frau am anderen Ende der Leitung ihn mehrfach bitten musste, lauter zu sprechen. Helmut Langer hatte eine böse Ahnung gehabt. In solchen Dingen war er nie gut gewesen. Da war er immer das schwächste Glied. Wenn es darum ging, einen Gedanken beiseitezuschieben und abzuwarten. Also hatte er die Polizei gebeten, in Frederiks Haus nach dem Rechten zu sehen. Und vermutlich wäre die Streife unversehens wieder abgezogen, hätte nicht der eine von den beiden, als sie zuerst im Garten waren, den Grill entdeckt, der einsam auf dem Rasen stand.

Und hätte nicht jener Polizist seine plötzliche Neugierde gestillt, indem er den Deckel des Kugelgrills anhob und darunter nachsah.

Die Polizei hatte Helmut Langer nicht viel berichtet. Nur das Wichtigste. Frederik war tot. Und die Tatsache löste in Helmut Langer nicht nur Trauer und Bestürzen aus. Sie ließ ihn etwas spüren, das wie ein langer zäher Schatten aus einer Zimmerecke heranwuchs und sich über ihn spannte. Es war das Gefühl nackter Angst. Denn auch wenn die anderen ihn belächelten: Er wusste, was kommen würde. Und das hatte ihn keinen Schlaf finden lassen. Zudem hatte sich irgendjemand einen Spaß erlaubt und die halbe Nacht kleine Steinchen an sein Fenster geworfen. Erst versucht er, es zu ignorieren. Als er nach einer Viertelstunde ans Fenster trat, war niemand zu sehen. Er ging wieder zu Bett, wälzte sich unruhig hin und her. Die Gedanken kamen ungefragt und fegten durch sein Gehirn. Er versuchte vergeblich, an schöne Dinge zu denken. Eine halbe Stunde später hörte er wieder das kleine Klicken von Steinchen an der Glasscheibe. Ein sachtes Geräusch, das ihn langsam verrückt machte. Bis er die Fenster aufriss und «Aufhören, sofort» in die Nacht brüllte.

Aber es half nichts.

Als er irgendwann doch einschlief, hatte er wieder diesen Albtraum. Ihre Gesichter kamen wie ein großer Himmel über ihn, und sie streckten ihre Zungen raus, lange Zungen, und begannen sein Gesicht abzulecken. Er hasste diesen Traum, der ihn aufschrecken ließ, schweißgebadet, mit trockener Kehle und dröhnendem Kopf.

 

Mit dem Kaffeebecher in der Hand steht Helmut immer noch am Küchenfenster und starrt hinaus auf die Straße. Der Postbote hat heute bereits eine halbe Stunde Verspätung. Helmut sieht die Straße entlang und wartet. Zehn Minuten später biegt der Postbote mit seinem gelben Fahrrad um die Ecke. Es ist heute irgendein junger Mann, den er noch nie zuvor gesehen hat. Womöglich eine Aushilfe. Der Postbote stellt sein Fahrrad vor der Tür ab und betritt das Haus. Helmut kann es vom zweiten Stock aus gut sehen.

Helmut lässt die Wohnungstür angelehnt und geht die Treppen nach unten, dem Postboten entgegen, der in seiner gelb-blauen Uniform im Flur des Hauses vor den Briefkästen steht und ihm mit einem knappen Gruß ein paar Umschläge überreicht. Helmut nimmt den kleinen Stapel mit resignierter Miene entgegen und gähnt. Sein Geist ist träge, und er geht mit schweren Schritten die Treppen hinauf. Als er oben ankommt, fällt ihm auf, dass, wie bei Hänsel und Gretel, jemand von den letzten Treppenstufen bis zu seiner Wohnungstür kleine Kieselsteinchen ausgelegt hat. Er stutzt. Helmut Langer hört, wie der Postbote pfeifend das Treppenhaus verlässt und die Haustür mit einem Klappern ins Schloss fällt.

Dann ist es still.

Helmut Langer reibt sich das Gesicht. Hat er bereits Halluzinationen? Wird er wirr? Waren die Steine eben auch schon da? Mit seinem Schuh fegt er sie vor seiner Wohnungstür zur Seite und geht hinein. Als er eintritt, folgt er einem plötzlichen inneren Impuls und sieht hinter die offen stehende Wohnungstür.

Da ist niemand. Trotzdem lässt ihn das Gefühl nicht los, dass hier etwas nicht stimmt.

Er setzt sich an den Küchentisch und blättert die Post durch. Zuletzt liegt eine Postkarte in seinen Händen. Darauf ist eine Schwarzweiß-Aufnahme der Londoner City zur Zeit des Zweiten Weltkriegs zu sehen. Rauch quillt aus dem Gerippe eines Hauses, das Opfer eines Fliegerangriffs wurde. Rechts im Bild stehen fünf Feuerwehrmänner hintereinander und halten gemeinsam einen großen Löschschlauch. Versuchen, mit einem gigantischen Wasserstrahl eine brennende Häuserzeile zu löschen, die am linken Bildrand zu erkennen ist.

Er drehte die Karte um. Was er liest, lässt ihn erstarren.

Wer schickt ihm eine solche Karte? Er blickt auf die abgestempelte Briefmarke mit dem Konterfei der Queen. Die Postkarte wurde vor fünf Tagen abgestempelt. Er kennt niemand, der zurzeit in London Urlaub macht. Dann liest er abermals den einzigen Satz. Dort steht mit Kugelschreiber in geschwungener Handschrift:

You will burn in hell.

Helmut Langers Augen weiten sich. Er lässt die Postkarte mit zitternder Hand sinken. Und der Schatten aus der Zimmerecke, den er so fürchtet, wölbt sich wie eine Kuppel über ihn, die ihm alle Luft raubt.