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Ben erreichte das Bistro. Das Licht war bereits aus und die Tür verschlossen. Der alte Hanjo schlief sicher längst. Aber wo war Sophie? Vielleicht wartete sie doch in seinem Bus auf ihn. Ben rannte zur Wiese.
»Sophie?«, rief er schon von Weitem. Er bekam keine Antwort. Schnaufend erreichte er seinen Transit. Sie schien nicht da gewesen zu sein. Zettel und Stift lagen unberührt auf dem Tisch. Sie hätte sonst doch bestimmt eine Nachricht hinterlassen. Wahrscheinlich war sie längst zu Hause und schlief. Sicher war sie die Straße zurückgegangen, um nicht noch mal an Olli vorbei zu müssen. Dieser Vollidiot hatte sie zu Tode erschreckt. Wo bist du, fragte Ben stumm und sah in den wolkenlosen Himmel. Der große Wagen stand direkt über ihm. Es war schon spät und der Tag war wirklich turbulent gewesen. Er sollte sich ins Bett legen und ein bisschen schlafen. Ben setzte sich auf seinen Campingstuhl und versuchte, sich zu beruhigen. Es gelang ihm nicht. Das mulmige Gefühl blieb. Er würde nie und nimmer einschlafen können, bevor er sich nicht davon überzeugt hatte, dass sie unbehelligt bei Tina angekommen war. Entschlossen sprang er auf und suchte in seinem Bus nach seinem Handy. Das Telefon war tot. Der Akku war alle. Kein Wunder! Er hatte so oft versucht, sie zu erreichen. Ohne Erfolg. Und er hatte sich Sophies Nummer nicht notiert. Ben feuerte das Telefon mit aller Gewalt zurück in den Bus. Mit klopfendem Herzen überlegte er, was er jetzt noch tun konnte. Natürlich! Er würde zu Hanjo gehen. Er hatte doch den Schlüssel für die Hintertür. Und Hanjo hatte ein Telefon. Er musste Tinas Nummer rausfinden und sie anrufen. Es war ihm mittlerweile auch egal, wenn der Superbulle ans Telefon ging. Tinas Mann, so ätzend er auch war, würde sicher verstehen können, dass er in Sorge war.
Sophie wischte sich das Erbrochene vom T-Shirt. Wenn es ihr körperlich nicht so schlecht gehen würde, hätte sie vielleicht eine Chance gehabt. Hanjo musste sie mit irgendeiner Droge vollgepumpt haben.
»Ach Sophie, nun versteh mich doch bitte!«, forderte Hanjo verzweifelt. »Ich habe mir jahrelang vorgestellt, wie es sein muss zu ertrinken. Ich meine, mein Baby ist doch ... Ich habe Bücher gelesen, mit Ärzten gesprochen ... Irgendwann habe ich akzeptiert, dass sie tot ist. Freya war so stark. Sie trauerte um ihr einziges Kind und kümmerte sich trotzdem um mich. Freya hatte genug Kraft für uns beide. Unser Leben ging tatsächlich weiter. Natürlich ohne Kinder, aber dafür mit Gästen und jungen Wassersportlern. Sie nahm sie immer alle unter ihre Fittiche. Und dann wurde sie krank: Brustkrebs.«
Sophie versuchte, ihn zum Weitererzählen zu motivieren. Solange er erzählte, konnte er sie nicht töten. »Würde Freya verstehen, was du getan hast und tust?«
Hanjo schüttelte nachdenklich den Kopf. »Nein«, gab er gedankenverloren zu. »Wahrscheinlich nicht. Aber sie wäre bestimmt einverstanden, wenn sie wüsste, dass es mir hilft. Komm jetzt! Du musst jetzt baden.«
Sophie überlegte panisch, wie sie es hinauszögern könnte. Sie fühlte sich wie eine Unschuldige auf dem Weg zur Hinrichtung. Wenn sie schon sterben musste, dann wollte sie auch die ganze Geschichte hören. »Was war mit ihr?«
»Freya? Die Ärzte konnten nichts mehr für sie tun. Im Krankenhaus wollte sie nicht bleiben. Ihr fehlte die Ostsee und unser Haus. Da hab ich sie mitgenommen und mich um sie gekümmert. Doktor Pieper kam jeden Tag vorbei und sah nach ihr. Von ihm bekam ich das Valium. Es dauerte nur ein paar Wochen. Freya ist in meinen Armen gestorben. Sie sah so friedlich aus, fast glücklich. Ich war plötzlich allein und da kam mir die Idee. Wenn ich wüsste, dass meine Tochter damals genauso glücklich ausgesehen hat, dann wäre ich ein zufriedener Mann und könnte irgendwann beruhigt sterben. Es wäre dann so wie damals, als sie noch klein war. Ich würde sie einfach ins Bett bringen und ihr beim Einschlafen zusehen. Na komm! Wir bringen es zu Ende.«
Sophie konnte nicht allein aufstehen. Hanjo nahm sie hoch und stützte sie. Er zog sie nicht aus. Er ließ sie einfach in die Wanne gleiten.
Ben rannte zur Hintertür und nahm seinen Schlüssel. Das Schloss ließ sich öffnen, aber die Tür gab nicht nach. Hatte Hanjo mal wieder zu tief ins Glas geschaut und von innen den Riegel vorgeschoben? Nach Freyas Tod war das schon ein paarmal passiert. Hanjo hatte sich immer entschuldigt, obwohl er ihm natürlich keinen Vorwurf gemacht hatte. Schließlich war es sein Haus und es war überaus freundlich von Hanjo, dass er ihn das Bad benutzen ließ. Aber was nun? Ben überlegte einen Moment. Sollte er zu Tina laufen? Nein, er würde nur die gesamte Familie aus dem Bett klingeln. Er sollte schlafen gehen und morgen mit einem Blumenstrauß bei Sophie auf der Matte stehen. Hörte er ein Planschen? Ben grinste. Da nahm der alte Kerl doch tatsächlich zu später Stunde noch ein Bad. Selbst wenn das Fenster nicht so hoch gewesen wäre, hätte Ben nicht hineingesehen. Er wollte gar nicht wissen, was Hanjo so spät in der Wanne trieb. Ben ging auf der anderen Seite des Hauses zurück. Aber da flackerten doch Kerzen. Das schwache Licht schien aus dem kleinen Wohnzimmer hinter der Küche. Ben trat ans Fenster und sah hinein. Tatsächlich, auf einem Tisch brannten Kerzen. Plötzlich packte ihn eine Hand an der Schulter und riss ihn zurück.
»Hey, du Spanner!«
Ben drehte sich erschrocken um. »Olli! Bist du verrückt? Ich krieg noch einen Herzinfarkt wegen dir.«
»Ist sie da?«
»Wer? Sophie?«
»Nein, Pamela Anderson. Natürlich Sophie.«
Ben schüttelte den Kopf. »Nein, du hast sie ja erfolgreich verjagt. Vielen Dank dafür! Hanjo ist im Bad. Wir müssen mit ihm reden. Er hat schon wieder Kerzen brennen. Er wird sich noch die Hütte abfackeln. Was machst du eigentlich hier? Ich bin davon ausgegangen, dass du mit mir fertig bist!«
Olli sah ihn ernst an. »Ich mach mir Sorgen. Ich bin zwar ziemlich besoffen, aber zum Nachdenken hat es gerade noch gereicht. Sophie verdächtigte mich. Sie dachte, ich hätte vielleicht ein Trauma oder so, wegen Fenja. Und dass ich sauer war auf Sarah, wegen dir, und sie dann, na du weißt schon.«
»Ja, mich hatte sie auch auf dem Kieker wegen Jo. Hobbypsychologie.«
Olli blieb ernst. »Was ist mit Hanjo?«
»Hanjo? Was soll mit ihm sein?«
»Was, wenn er die Macke hat?«
Ben starrte ihn fragend an.
»Ben! Bist du schwer von Begriff! Irgendwer nimmt gerade ein Bad.«
Ohne noch eine Sekunde nachzudenken, schlug Ben mit dem Ellenbogen die Fensterscheibe ein.
Sophie klammerte sich verzweifelt an der Wanne fest. Sie fühlte sich so schwach und allein. Ohne Hilfe würde sie ihn nicht aufhalten können. Hanjo legte seine Hände auf ihre Schultern und lächelte.
»Du hast es gleich geschafft. Ertrinken ist kein schlimmer Tod, wenn man nicht dagegen ankämpft. Alles wird gut. Ich bin doch bei dir.«
Dann drückte er sie unter Wasser. Sophie strampelte mit den Beinen. Mit ihren Händen suchte sie verzweifelt einen Halt, doch die Wanne war glatt und sie konnte sich nicht festhalten. Plötzlich riss Hanjo sie hoch. Sein Gesicht war zu einer wutverzerrten Maske geworden. Sie hatte den alten Mann noch nie so gesehen.
»Jetzt mach es uns doch nicht so schwer, verdammt! Du sollst doch lächeln! Du bist doch eine ehrgeizige Kiterin. Du liebst das Wasser! Ich dachte, du würdest es verstehen! Wir wiederholen doch nur, was vor langer Zeit geschah.« Hanjo atmete tief durch und plötzlich klang seine Stimme wieder warm und liebevoll. »Diesmal bist du nicht allein. Jetzt schlaf, meine Kleine. Schlaf ein.«
Sophie sah Hanjo entsetzt an. Hielt er sie für Fee? Waren alle Frauen nur deshalb ertränkt worden, weil ein verzweifelter Vater nicht darüber hinwegkam, dass seine kleine Tochter allein gestorben war? Mit einem kräftigen Stoß wurde sie unter Wasser gedrückt. Immer wieder versuchte sie, sich aufzusetzen oder seine Arme zu packen, doch Hanjo war stärker. Sie hatte keine Luft mehr. Sophie versuchte, den Mund geschlossen zu halten, doch gegen diesen Hustenreiz kam sie nicht an. Sie schluckte Wasser. Der Reflex, atmen zu wollen, war stärker als jede Logik. Es war vorbei. Sie würde hier sterben. Sie würde auf Fehmarn sterben, wie Pelle. Vielleicht würde sie dann wieder mit ihm zusammen sein. Das war ein Trost. Sophie schloss die Augen und verlor das Bewusstsein.
»Sophie!«
Jemand rief ihren Namen und schlug ihr ins Gesicht.
Jetzt lass mich endlich in Ruhe! Lass mich doch sterben! Ich hab doch gelächelt, als ich an Pelle gedacht habe. Deine kranke Mission ist doch erfüllt. Sophie hatte keine Lust mehr die Augen wieder zu öffnen. Sie wollte zurück in ihre Träume. Warum hob er sie jetzt aus der Wanne?
»Sophie! Ich bins! Ben. Bitte mach die Augen auf!«
Wieder schlug man ihr ins Gesicht. Ben? Jemand küsste sie. Aber sehr merkwürdig. Ben konnte doch besser küssen. Jetzt pumpte er Luft in ihre Lungen. Ben! Sophie bäumte sich auf und hustete das Wasser aus der Lunge.
»Olli! Sie ist bei Bewusstsein!«, schrie Ben. Dann nahm er sie in die Arme hielt sie ganz fest. Sophie starrte ihn an. Sein Arm blutete wie verrückt. Sie versuchte zu verstehen, was passiert war, aber sie dämmerte wieder weg.
»Sophie! Du musst wach bleiben! Olli, reiß den Duschvorhang runter! Wir müssen sie warmhalten.« Ben riss sie hoch und wickelte sie in das weiße Plastik. Dann lehnte er sie sitzend an die Wand. »Sophie! Wenn du dich jetzt nicht zusammenreißt, rede ich nie wieder ein Wort mit dir!«
Zusammenreißen ... nie wieder ein Wort ... Plötzlich meldete sich ihr Kampfgeist zurück. Sie zwang sich, die Augen zu öffnen. »Ich bin wieder da«, sagte sie schwach. »Stell mich hin, aber halt mich bitte fest.« Ben nickte erleichtert und lächelte sie an.
»Ich habe keine Ahnung, warum, aber ich höre Blaulicht.« Olli riss die Außentür auf. »Ja, die Bullen kommen und ein Krankenwagen. Können die jetzt schon Gedanken lesen? Oh, Hanjo kommt auch wieder zu sich.«
Hanjo! Dass dieser nette ältere Herr ein mehrfacher Mörder war, ging über ihre Vorstellungskraft hinaus und doch gab es keinen Zweifel. Er hatte versucht sie umzubringen, wie zuvor all die anderen. Hanjo zitterte. Tränen liefen über sein Gesicht.
»Warum?«, fragte Ben leise.
»Warum?« Hanjo schluchzte laut. »Versteht ihr das denn wirklich nicht? Fee ist da draußen ... Ophelia, bleiche Jungfrau, wie der Schnee so schön, die du, ein Kind noch, starbst in Wassers tiefem Grunde ... Die Ostsee ist ihr Grab. Ich konnte mich nie von ihr verabschieden, von meiner kleinen Fee. Sie war ganz allein. Sie muss solche Angst gehabt haben. Niemand sollte allein sterben müssen. Aber den anderen Mädchen habe ich ja beigestanden, bis zum Ende.«
Ben und Olli sahen sich entsetzt an. Hanjo war vollkommen wahnsinnig.
»Polizei!«
»Wir sind hier!«, rief Olli.
Broder Larrson rannte herein. Claas Meier folgte ihm.
»Hanjo?« Broder sah sie verwirrt an. Sophie nickte. Olli half Hanjo auf die Beine.
»Hanjo ... Herr Peters, wir müssen Sie jetzt über Ihre Rechte ...« Broder schluckte und schüttelte den Kopf. »Mein Gott, Hanjo ... Warum?«
Claas nahm die Handschellen. Broder nickte resigniert.
»Notarzt! Können wir rein?«, rief es von draußen.
»Ja! Alles unter Kontrolle!«, brüllte Claas. Sophie musste fast grinsen. Für den schnöseligen Polizisten musste das hier die Erfüllung seiner Träume sein. Sich einmal fühlen wie ein Cop in New York! Der Arzt kam auf sie zu. »Wie geht es Ihnen?«, fragte er besorgt.
»Den Umständen entsprechend. Mir ist ein bisschen übel«, erklärte Sophie.
»Wir bringen Sie ins Krankenhaus.«
Sophie schüttelte den Kopf. »Bitte nicht! Ich
war gestern schon da und es hat mir nicht besonders gefallen. Wenn
Sie unbedingt jemanden in die Klinik bringen wollen, dann nehmen
Sie ihn.« Sie zeigte auf Ben. »Ich glaube, sein Arm müsste genäht
werden. Mir ist nur ein bisschen übel.«