35
Mittwoch
Sophie schlug die Augen auf und schloss sie schnell wieder. Das Licht stach ihr wie ein Messer in die Augen. So viel hatte sie doch nun wirklich nicht getrunken, wunderte sie sich. Außerdem war ihr entsetzlich übel. Vorsichtig legte sie die Hände an ihre Schläfen, um sie zu massieren. Ihre Finger berührten einen Mullverband. Was zum Teufel hatte das zu bedeuten? Sie hatte doch gerade noch in Bens Armen gelegen. Sophie zwang sich, die Augen wieder zu öffnen. Sie brauchte eine Weile, um sich zurechtzufinden. Ihr war so schwindelig, als wäre sie auf hoher See. Doch sie war auf keinem Boot, sie war im Krankenhaus. Ihr Herz begann zu rasen. Eine Welle der Übelkeit kam in ihr hoch. So schnell sie konnte, griff sie nach einer Nierenschale, die auf ihrem Nachttisch stand, und übergab sich. Erschöpft ließ sie den Kopf wieder in die Kissen sinken. Kalter Schweiß rann ihr über das Gesicht. Sie hörte, wie die Tür geöffnet wurde.
»Guten Morgen! Wie fühlen wir uns denn? Oh, nicht so gut. Warten Sie, ich nehme das schnell weg.«
Sophie spürte, wie man ihr die Schale aus der Hand nahm.
»Frau Sturm?«
Eine pummelige Krankenschwester lächelte sie verschwommen an. Neben ihr stand ein Mann mit grauen Schläfen.
»Wo bin ich?«
»Sie sind in der Inselklinik auf Fehmarn«, antwortete der Mann. »Ich bin Dr. Behrens. Keine Sorge, alles halb so schlimm! Sie haben eine Gehirnerschütterung und eine Platzwunde am Kopf. Nichts Ernstes. Schwester Monika gibt Ihnen gleich was gegen die Übelkeit. Die Wunde am Kopf mussten wir nähen. Aber keine Angst, es wird keine sichtbare Narbe zurückbleiben. In ein paar Tagen geht es Ihnen wieder gut. Dann werden Sie sich auch wieder erinnern können.«
»Ich will nach Hause!« Sophie richtete sich in ihrem Bett auf. Ihr wurde sofort wieder schlecht. Die Schwester hielt ihr eine neue Schale hin.
»Nur die Ruhe. Sie können weg, wann immer Sie wollen. Ich würde Ihnen aber vorschlagen, noch ein oder zwei Tage zur Beobachtung zu bleiben. Bis später, Frau Sturm.« Dr. Behrens war schon an der Tür, als er sich noch mal umdrehte. »Ach, fast hätte ich es vergessen. Die Polizei möchte noch mit Ihnen reden.«
»Die Polizei?«
»Da wartet ein Kommissar vor der Tür. Soll ich ihn reinholen?«
Sophie nickte nur. In ihrem Kopf wirbelte alles durcheinander. Was wollte die Polizei von ihr? Sie erinnerte sich plötzlich. Ein paar bruchstückhafte Sequenzen tanzten vor ihren Augen. Da war die tote Frau, die Pelle gefunden hatte, und Ben. Ben? Er war auch dort gewesen. Dann bekam sie diesen Schlag. Die Jacke? Sophie konnte nicht klar denken. Sie hatte rasende Kopfschmerzen und bekam die Reihenfolge der Ereignisse einfach nicht zusammen. Wieso war Ben da gewesen?
Stefan versprach Dr. Behrens, die Patientin nicht aufzuregen, und öffnete die Zimmertür. »Guten Morgen!«
Sophie sah ihn überrascht an. »Stefan?«
»Ja, ich bin es, der liebe Stefan.« Er zog sich einen Stuhl ans Bett und setzte sich. Sophie war blass um die Nase. Der Kopfverband sah schlimm aus. Stefan stellte verwundert fest, dass sie ihm wirklich leidtat. »Du siehst ziemlich Scheiße aus, um bei der Wahrheit zu bleiben.«
»Vielen Dank!«, stöhnte Sophie genervt.
»Dr. Behrens hat kurz erwähnt, dass du raus willst aus dem Krankenhaus. Meinst du nicht, es wäre besser, wenn du dich noch einen Tag schonst?« Sophie schüttelte den Kopf und fluchte kurz. Dass sie Schmerzen hatte, war offensichtlich. Dieser Kerl hatte sie übel erwischt.
»Ach Stefan, ich halte es hier nicht aus. Diese Unterkunft hat keine fünf Sterne und das Nachthemd ist auch nicht von Armani.« Sie lächelte gequält. »Bitte! Bring mich zu euch nach Hause. Ich verspreche auch, ganz brav auf der Gartenliege zu bleiben.«
Stefan nickte verständnisvoll. »Hör mal, Sophie, das ist hier kein Abholservice! Ich bin dienstlich hier. Wir brauchen deine Zeugenaussage.«
»Wie bitte?«
»Wir müssen herausfinden, was passiert ist. Wie ist der Abend verlaufen? Soweit ich weiß, warst du zum Essen bei diesem Ben Lorenz. Dann bis du abgehauen und niedergeschlagen worden. Hanjo hat uns verständigt. Hast du irgendwen erkannt? Ben hat dich angeblich gefunden. Erinnerst du dich?«
»Ben!« Sophie nickte und schloss die Augen.
»Mach dir keine Sorgen. Wir beobachten ihn.«
Sophie rappelte sich hoch. In ihren Augen blitzte plötzlich wieder der gewohnte Kampfgeist. »Was? Wieso sollte er ... Das ist doch Schwachsinn!«
»Schwer verliebt?« Stefan grinste sie böse an.
»Hör auf«, bat sie müde.
Stefan atmete tief durch und schaltete einen Gang runter.
»Sophie, ich kann dir das hier nicht ersparen. Bitte versuch, dich zu konzentrieren und erzähl mir alles, woran du dich erinnerst. Dann bring ich dich zu Tina.«
Sophie schien kurz zu überlegen. Dann räusperte sie sich.
»Wir haben gegessen. Ben hat gekocht. Wir haben gequatscht und irgendwann bin ich los. Ich bin mit Pelle am Strand langgelaufen. Er hat gebellt. Da war etwas im Sand. Oh Gott, ich erinnere mich! Da lag eine Frau. Sie ist tot, oder?«
Stefan nickte. »Ja, Clara Burmeister. Was passierte, nachdem du die Frau gefunden hast?«
»Ab dann weiß ich gar nichts mehr.«
Stefan seufzte unzufrieden. »Ist Ben dir vielleicht zum Strand gefolgt?«
»Selbst wenn? Er, ähm, er hatte nichts an, als ich seinen Bus verließ. Ich bin stramm marschiert. Wie soll er so schnell in die Klamotten gekommen sein? Und wie soll er mich dann unbemerkt überholt haben, um mir am Strand aufzulauern?«
Darüber hatte Stefan bereits nachgedacht. »Er könnte hinter dem Deich langgerannt sein. Vom Strand aus hättest du ihn dann gar nicht sehen können. Er ist sportlich.«
»Wieso sollte Ben mir was antun? Und wann soll er Clara denn umgebracht und an den Strand gelegt haben?« Sophie sah ihn erschöpft an. »Stefan, bitte bring mich zu Tina! Ich muss mich erst mal ausruhen und erinnern. Wir reden später. Versprochen!«
Stefan nickte. So kam er wirklich nicht weiter. Doktor Behrens hatte ihm gesagt, dass Sophie im Laufe des Tages noch mehr Details einfallen könnten. Wenn sie in seinem Haus war, hatte er sie zumindest besser unter Kontrolle.
Ben saß in der offenen Schiebetür seines Busses und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Er überlegte kurz, ob er in Ollis Wohnmobil gehen und sich einen Kaffee kochen sollte, doch er konnte sich nicht rühren. Das Ganze war ein Albtraum. Wenn er doch nur wüsste, wie es Sophie im Moment ging? Konnte sie sich erinnern? Hatte sie irgendwas gesehen? Ben hatte so gut wie gar nicht geschlafen. Erst in den Morgenstunden war er kurz weggedämmert, doch dieser leichte Schlaf war keine Erholung. Im Gegenteil. Diese Albträume hatten ihn total durcheinandergebracht. Mittlerweile wusste er selbst nicht mehr genau, was passiert war. Er sah nur immer wieder Sophies blutüberströmtes Gesicht vor sich. Als die Sanitäter sie in der Nacht mitgenommen hatten, wäre er natürlich am liebsten mitgefahren. Die Polizei war dagegen gewesen, weil er als Zeuge zur Verfügung stehen sollte. Zwei Beamte hatten ihn noch in der Nacht befragt. Sie hatten keinen Zweifel daran gelassen, dass sie ihn als Täter keinesfalls ausschlossen. Es hatte ihn gewundert, dass sie ihn nicht gleich mitgenommen hatten. Ben schmiss die Kippe ins Gras. Er musste sich jetzt einfach zusammenreißen. Entschlossen stand er auf und griff nach dem Wohnmobilschlüssel. Nach einer heißen Dusche und einem starken Kaffee würde er sich bestimmt besser fühlen. Vielleicht könnte er dann etwas essen. Sein Magen fühlte sich an wie ein kalter Stein. Ja, er musste jetzt aktiv werden. Er wusste doch aus der Vergangenheit, dass es keinen Sinn hatte, den Kopf in den Sand zu stecken. Ben schloss Ollis Wohnmobil auf und ging ins Bad. Erst jetzt, als er in den Spiegel sah, bemerkte er, dass sein T-Shirt blutverschmiert war. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Schnell riss er sich die dreckigen Klamotten vom Körper. Er drehte das heiße Wasser auf und stieg in die Wanne. Unter seinen Nägeln war getrocknetes Blut. Ein paar Minuten stand er einfach nur da. Seine Tränen mischten sich mit dem heißen Wasser. Endlich gelang es ihm, die Flasche Duschgel zu greifen und sich zu waschen. Erschöpft wickelte Ben sich in eines von Ollis Handtücher und setzte sich auf den Klodeckel. Er fühlte sich ein bisschen besser und er hatte Hunger. Er würde sich ein paar Eier in die Pfanne hauen. Er brauchte neue Kraft, wenn er es mit dem Superbullen Sperber aufnehmen wollte. Ben griff nach der Brause, um die Wanne auszuspülen. Sand und dunkle Spuren, von denen er annahm, es handelte sich um ihr Blut, klebten auf dem Boden. Zum Glück kannte er sich im Wohnmobil gut aus. Zielsicher öffnete er den kleinen Schrank, in dem Olli die Scheuermilch aufbewahrte.
Tina deckte mit zitternden Händen den Tisch auf der Terrasse. Pelle lag auf dem Boden und sah sie unglücklich an. Broder hatte ihr den Hund gestern Nacht vorbeigebracht und ihr von dem Überfall erzählt. Wie schwer verletzt Sophie tatsächlich war, hatte er nicht sagen können. Tina hoffte, dass Stefan endlich anrufen und ihr mitteilen würde, dass alles in Ordnung war.
»Mami, Tante Sophie ist schon wieder weg!« Antonia kam im Pyjama auf die Terrasse gelaufen. »Ich war in ihrem Zimmer.«
»Ich weiß, mein Schatz«, erklärte Tina mit gespielter Gelassenheit. Im selben Moment stand Pelle auf und lief müde auf ihre Tochter zu, um sie zu begrüßen.
»Pelle!«, kreischte Antonia sofort. »Was machst du denn hier? Mami? Wieso hat Tante Sophie ihn denn nicht mitgenommen?«
»Weißt du Toni, die Sophie hatte einen Unfall. Sie ist im Krankenhaus.«
Antonia sah sie neugierig an. »Hat sie sich ein Bein gebrochen?«
»Nein. Sie hat sich den Kopf gestoßen.«
»Ich darf nie ins Krankenhaus«, beschwerte sich Paul, der unbemerkt auf die Terrasse gekommen war.
Tina kniete sich auf den Boden und hielt beide ganz fest. Sie durfte ihre Angst nicht auf die Kinder übertragen. Sie räusperte sich und lächelte. »Na los! Wir frühstücken jetzt erst mal und dann finden wir heraus, wie es Tante Sophie geht.« Schon wieder piepte und klingelte Sophies Handy auf dem Wohnzimmertisch.
»Gehst du nicht ran?«, wunderte sich Antonia.
Tina fragte sich gerade, ob sie nicht tatsächlich an Sophies Telefon gehen sollte, als sie einen Wagen hörte. Hastig sprang sie auf und rannte ums Haus herum. Stefan half Sophie gerade aus dem Auto heraus. Sie sah schlimm aus. Es war nicht der Kopfverband, der Tina erschreckte, sondern die Blässe in ihrem Gesicht. »Ich habe mir solche Sorgen gemacht«, seufzte Tina. Stefan gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Schatz, ich muss gleich wieder los. Ich ruf dich an.«
Tina nickte und führte Sophie behutsam zu einer Liege unter dem Sonnenschirm. Pelle begrüßte sein Frauchen stürmisch.
»Er hat die ganze Nacht auf der Terrasse verbracht und auf dich gewartet«, erklärte Tina.
»Dass er hier draußen schlafen darf, ist bestimmt sein schönstes Ferienerlebnis.«
Tina sah sie besorgt an. »Wie lautete denn die Diagnose?«
»Gehirnerschütterung und eine hässliche Platzwunde. Ich habe ordentlich eins übergezogen bekommen.«
Paul war ganz aufgeregt. »Ich krieg nie so ein weißes Dings, wenn ich mir Aua mach.«
Sophie lächelte ihn an. »Da kannst du aber froh sein. Ich finde das Dings nämlich gar nicht schick.«
Tina war den Tränen nah. Sie machte sich solche Vorwürfe. Es hätte vielleicht gar keinen Überfall gegeben, wenn sie Sophie rechtzeitig gewarnt hätte. Warum war ihr die Sache mit Bens Zwillingsschwester nicht früher eingefallen?
Olli saß am Strand von St. Peter-Ording im warmen Sand und beobachtete die Kiter, die am Morgen schon durch das Wasser schossen. Zum ersten Mal in seinem Leben verspürte er keine Lust, ebenfalls in den Anzug zu steigen und sein Equipment aufzubauen. Er hatte es sowieso nicht dabei. Es reichte ihm, einfach nur zuzusehen. Er hatte die ganze Nacht kaum geschlafen und er fröstelte bei dem Gedanken an das kalte Nordseewasser. Er würde lieber in der Sonne sitzen bleiben, bis ihm wieder warm war. Olli atmete tief durch und blinzelte. Vielleicht würde bald alles wieder in Ordnung sein. Er versuchte nicht daran zu denken, dass er Sarah hier vor ein paar Monaten getroffen hatte. Er hatte ihr Talent sofort erkannt. Sie hätte die Deutschen Meisterschaften gewonnen, da war er sich sicher. Und jetzt war alles so ganz anders gekommen. Hätte er sie nicht zu sich nach Fehmarn geholt, wäre sie mit Sicherheit noch am Leben. Das Schicksal hatte ihn eingeholt und er konnte nichts anderes tun, als abzuwarten oder sein Leben zu ändern. Die Vorstellung, für Tobias in Hamburg zu arbeiten, gefiel ihm immer besser. Er würde endlich sein eigenes Geld verdienen und müsste seinen Eltern nicht mehr auf der Tasche liegen. Der Job würde Spaß machen, da war er sich sicher. Tobias und er könnten öfter mal ein Bier zusammen zischen und einfach reden. Und bei gutem Wetter könnte er an den Wochenenden nach Fehmarn fahren und kiten. Wenn er wollte, könnte er dann den ganzen Tag auf dem Wasser bleiben. Keine Kiteschüler mehr und kein Surfunterricht, nichts, was ihn die besten Stunden des Tages vom Kiten abhalten würde. Sicher würde er seinen Job als Surflehrer auch mal vermissen, und auch den alten Hanjo. Aber die langen Wintermonate nicht mehr mit seinen Eltern und den Kühen verbringen zu müssen, war eine zu verlockende Vorstellung. Um die Surfschule konnte Ben sich genauso gut kümmern. Es würde auch nicht schwer werden, einen zweiten Mann für die Sommermonate zu finden. Es gab genug Kitefreaks, die den Job bei Hanjo gerne machen würden. Wenn er sich tatsächlich zu diesem neuen Leben entschließen sollte, würde er sich auf jeden Fall einen neuen Wagen zulegen müssen. Sein alter Golf war kurz davor, auseinanderzufallen. Der nächste TÜV würde sein Todesurteil sein. Er hatte wirklich Glück, dass die alte Kiste die ganze Fahrerei bis jetzt ohne Pannen geschafft hatte. Olli legte sich zurück in den Sand und starrte den kleinen Wölkchen nach. »Fenja«, flüsterte er leise. In Gold würde er doch immer an sie denken. Dabei hatte er gedacht, dass eine erwachsene Beziehung zu Sarah die Erinnerung verblassen lassen würde. Es war doch nur eine Jugendliebe. Wahrscheinlich nichts, was für immer gehalten hätte. Und trotzdem konnte er das 14-jährige Mädchen nicht vergessen. Olli erinnerte sich an die großen blauen Augen, das nasse Haar und den entschlossenen letzten Blick. So hatte sie ausgesehen, bevor sie in den Tod gesurft war.
Tina stellte die Tassen auf ein Tablett und ging auf die Terrasse. Sophie lag im Liegestuhl, die Augen geschlossen. Mit einer Hand hielt sie einen Eisbeutel gegen die Schläfe gedrückt. »Mama bringt Medizin.«
Sophie öffnete müde die Augen. »Keine Tabletten mehr! Die haben mir im Krankenhaus sogar noch eine Spritze verpasst. Ich glaube, von dem ganzen Zeug ist mir so schlecht.«
»Dir ist übel, weil du eine Gehirnerschütterung hast. Und ich habe hier keine Tabletten, sondern einen schönen Cappuccino!«
Sophie grinste schwach. »Gute Krankenschwester!«
Tina reichte ihr die Tasse und setzte sich auf einen Stuhl.
»Hoffentlich war deine Entscheidung, das Krankenhaus zu verlassen, nicht übereilt. Ich meine, du hast ganz schön was abbekommen. Willst du später was essen?« Sophie nickte abwesend. »Dann geht es dir doch schon etwas besser?«
»Nein, es geht mir beschissen!«
»Sind die Kopfschmerzen so schlimm?«
»Was?« Sophie sah sie verwirrt an. »Ach Quatsch, die sind zu ertragen. Es ist die Sache mit Ben. Ich kann einfach nicht glauben, dass er ein Serienkiller sein soll. Stefan ist da auf dem Holzweg!«
Tina schüttelte den Kopf und suchte nach den richtigen Worten. »Sophie, du bist in ihn verknallt! Dein Urteilsvermögen in der Sache geht gegen null. Bitte halt dich da raus! Ach, hier ist übrigens dein Handy. Es piept und bimmelt schon den ganzen Morgen.«
»Und wenn schon! Das blöde Telefon ist mir gerade egal! Ben hat doch überhaupt kein Motiv! Das ist doch völliger Unsinn! Warum sollte er Frauen töten?«
Tina stöhnte auf. Warum konnte Sophie nicht zumindest jetzt Ruhe geben? »Keine Ahnung! Vielleicht ist er ein Psychopath? Irgendeinen schrägen Grund haben die doch immer, nur, dass normal tickende Menschen den nicht nachvollziehen können.«
»Ben ein Psychopath? Tolle Theorie! Tina, hör auf! Das ist ja lächerlich! Ben ist etwas ungewöhnlich, aber er ist doch nicht irre!«
»Sophie, ich muss dir da noch was sagen. Es ist mir erst eingefallen, nachdem du gestern weg warst und dein Telefon hattest du ja vergessen.«
»Was?«, fragte Sophie wütend.
Tina atmete tief durch. »Ben hatte eine Zwillingsschwester. Sie ist gestorben. Beide waren noch ganz klein. Etwa drei Jahre alt. Na ja, ich kenn mich nicht aus, aber was, wenn er über den Tod seiner kleinen Schwester nicht hinweggekommen ist?«
Sophie sah sie erstaunt an. »Was sagst du da?«
»Es war eine Tragödie. Ben und seine Zwillingsschwester waren zusammen in der Badewanne. Die Kleine ist dann irgendwie ertrunken. Ich meine, wahrscheinlich hat er ihren Todeskampf beobachtet.« Tina lief es plötzlich kalt den Rücken hinunter. »Ich meine, ein kleiner Junge würde seine Schwester doch nicht ...«
Sophie sprang auf. Alles drehte sich für einen Moment. Sie musste sich mit einer Hand am Tisch festhalten.
»Mein Gott, Sophie. Warum stehst du nicht langsam auf?«, schrie Tina besorgt und eilte ihr zur Hilfe.
»Dann erzähl mir nicht so einen Scheiß von kleinen toten Mädchen und Psychopathen!«, fauchte Sophie. »Was soll ich denn jetzt überhaupt noch glauben?« Ihr Handy piepte. Sophie warf einen kurzen Blick auf das Display. Lutz! Verdammt, den hatte sie ja ganz vergessen. Erst machte sie die Pferde scheu und dann meldete sie sich nicht mehr. Sie würde ihm lieber nicht sagen, dass er sich die ganze Mühe umsonst gemacht hatte. Sophie setzte sich auf einen Gartenstuhl.
»Ich muss mal telefonieren.«
»Du hast doch nicht vor, mit Ben über seine Familie zu sprechen?«, fragte Tina ängstlich.
»Nein! Wirklich nicht! Es geht um was anderes. Wirklich!« Tina stand auf und sah sie besorgt an. »Dann geh ich in die Küche. Bau keinen Mist!«
Sophie lächelte ihr zu und wählte die Nummer von Lutz. Nach dem ersten Klingeln nahm er ab.
»Na endlich! Ich versuch schon seit Stunden dich zu erreichen!«, beschwerte er sich sofort. »Ich hab dein Ergebnis!«
Sophie würgte ihr schlechtes Gewissen mit dem letzten Schluck Cappuccino runter. »Damit habe ich noch gar nicht gerechnet. So schnell?«
»Tja, das ist die Zukunft!«
»Ich weiß, das geheimnisvolle PCR-Gerät.«
»So sieht es aus«, entgegnete Lutz fast fröhlich. »Das Ergebnis ist jedenfalls positiv.«
»Positiv?«, fragte sie krächzend nach.
»Ja! Was ist denn heute mit dir los? Bist du irgendwo gegengelaufen? Positiv heißt, die DNA der Proben stimmt überein. Das Sperma ist vom Benutzer der geheimnisvollen Zahnbürste.«
Sophie kam ihr eigenes Gehirn vor wie eine wabbelige Portion Pudding. Sie wollte nicht begreifen, was Lutz da sagte. »Kein Zweifel? Könnten nicht auch mehrere Personen die Zahnbürste benutzt haben?«
»Wie bist du denn drauf? Sophie, das war eine DNA-Analyse. Das Ergebnis ist eindeutig. Ich dachte, du würdest dich freuen. Das bestätigt doch deinen Verdacht! Du solltest mit der Polizei reden. Sprich mit Stefan! So, und jetzt muss ich los. Du weißt ja wahrscheinlich sowieso schon wieder, was ich jetzt zu tun habe.«
Sophie versuchte, ruhig zu bleiben. Das Ganze konnte nur ein Albtraum sein. »Wassersportlerin. Ja, ich habe sie gefunden.«
»Das warst mal wieder du?« Lutz pfiff durch die Zähne. »Ich muss schon sagen, in der Sache bist du wirklich erfolgreich.«
Er hatte aufgelegt. Sophie legte sich zurück auf die Liege und schloss die Augen. Das war unmöglich! Sie kämpfte gegen die Tränen an und wehrte sich fast, die Sache zu Ende zu denken. Aber eine Tatsache blieb eine Tatsache. Ben war der Mann, mit dem Sarah kurz vor ihrer Ermordung geschlafen hatte.