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Hanjo wollte gerade das Licht löschen und zusperren, als er Sophie die Stufen hochstolpern sah. Schnell öffnete er die Tür. »Sophie!« Sie schluchzte und fiel in seine Arme. »Mein Gott, Mädchen. Was ist denn passiert? Wo ist Pelle?« Sophie klammerte sich panisch an ihn. Auf ihrer Stirn glänzte kalter Schweiß. Sie war kurz davor ohnmächtig zu werden. Hanjo stützte sie mit einem Arm und schloss schnell die Tür ab. »Ganz ruhig. Alles ist gut.«

»Telefon«, murmelte Sophie langsam. Ihre Augen waren fast geschlossen und sie zitterte. Sie schien schreckliche Angst zu haben.

»Jetzt komm erst mal wieder zu dir.« Er musste Sophie halb tragen, aber er schaffte es, sie in die Küche zu bringen und auf einen Stuhl zu setzen.

Sophie stöhnte leise. »Gehirnerschütterung ... hätte nicht rennen sollen.«

Hanjo reichte ihr schnell ein Glas Wasser. Das arme Mädchen. Sophie sah furchtbar aus und sie war vollkommen außer Puste.

»Muss telefonieren«, flüsterte sie wieder.

Hanjo lächelte sie besorgt an und tätschelte ihr unbeholfen die Hand. »Erst musst du mal wieder zu Atem kommen, sonst kippst du uns gleich um. Du hättest besser noch im Krankenhaus bleiben sollen. Warte mal eben.« Hanjo ging zum Herd. Er würde einen Kakao heißmachen. Der würde ihr sicher helfen. Er brachte ihr den Becher. »Was Süßes. Bringt den Kreislauf wieder in Schwung.« Endlich öffnete Sophie die Augen wieder. Sie lächelte sogar ein bisschen. Dann roch sie daran. »Ist Rum drin«, kicherte Hanjo. »Dachtest du, ich trink ihn unverdünnt?«

Sie trank mit kleinen Schlucken und beruhigte sich langsam. Nach ein paar Minuten schien es ihr etwas besser zu gehen. Ihre Wangen bekamen wieder Farbe.

»Mama hat mir auch immer Kakao gemacht, wenn was nicht in Ordnung war. Die beste Medizin.«

Hanjo nickte und versank in Erinnerungen. Wie oft hatte er seiner kleinen Fee abends noch einen heißen Kakao ans Bett gebracht?

 

Ben saß vor seinem Bus auf dem klapprigen Campingstuhl und rauchte nervös eine Zigarette nach der anderen. Wo blieb Sophie nur? Sie hatte doch gesagt, dass sie noch kommen würde. Er trank einen Schluck aus der Dose und verzog angewidert das Gesicht. Das Bier war warm und anscheinend hatte er in Gedanken auch noch eine Kippe reingeworfen. Ben feuerte die Dose unter den Transit und sprang auf. Ob sie es sich anders überlegt hatte? Vielleicht hatte man ihr ein Beruhigungsmittel gegeben und sie war eingeschlafen. Dass der Hund sterben musste, war furchtbar. Es war fast unmöglich für ihn, sie sich ohne den braunen Labrador an ihrer Seite vorzustellen. Ben öffnete die Schiebetür, um sich ein frisches Bier aus dem kleinen Kühlschrank zu holen. Er sollte sich einfach beruhigen. Sicher war alles in Ordnung. Es war bereits halb 10. Und wenn Sophie doch nichts mehr von ihm wissen wollte? Sein Mund wurde trocken. Er musste sie sehen. Er hatte ihr noch einiges zu erzählen. Sie sollte die ganze Wahrheit wissen. Ben hatte noch mit niemandem darüber gesprochen. Dieser verfluchte zweite Weihnachtstag! Er war in die Tigerbucht gerannt, um nach Lamai zu suchen. Alles war zerstört. Überall lagen Leichen. Und dann sah er sie. Wahrscheinlich hätte ihre eigene Mutter sie nicht erkannt. Ihr Kopf war so gut wie weg. Irgendein schweres Teil hatte ihr das schöne Gesicht genommen. Eigentlich fehlte fast der ganze Kopf. Er wusste sofort, dass diese entstellte Leiche seine Lamai war. An dem aufgequollenen Finger saß der Ring. Wie ein viel zu enger Gürtel teilte er den Finger in zwei dicke Hälften. Ben schluchzte leise. Die Erinnerung tat noch immer so entsetzlich weh, aber er würde ihr davon erzählen. Sophie sollte wissen, dass er es ernst meinte. Dann würde sie auch verstehen, warum es zu diesem dummen Zwischenfall mit Sarah gekommen war. Die ganze Geschichte war ein grausamer Fehler gewesen. Und auch die anderen Affären. Er hätte auf eine Frau wie Sophie warten sollen. Dann hätte er sich vieles ersparen können. Und er hätte nicht so ein schlechtes Gewissen.

 

Hanjo sah besorgt zu Sophie. Sie hielt den Becher in beiden Händen und starrte ihn mit halb geschlossenen Augen an. Plötzlich zuckte sie zusammen, als wäre sie aus einem Traum erwacht.

»Wo ist dein Telefon?«

Hanjo schüttelte lächelnd den Kopf. »Fee mochte meinen Kakao auch am liebsten. Ist doch komisch.« Nicht mal Freya bekam ihn so lecker hin wie er.

»Fee?«

Sie musste wirklich angeschlagen sein. Sie kapierte so langsam. Dabei war sie doch zweifellos ein sehr cleveres Mädchen. »Ja, Fee. Meine Tochter!«, erklärte Hanjo verwundert.

»Ich wusste gar nicht, dass du eine Tochter hast.«

Hanjo stand auf und ging zu dem kleinen Küchenregal. In einem hübschen Silberrahmen war das Foto. Er nahm das Bild herunter und gab es ihr.

»Das ist sie. Da war Fenja 14«, erklärte er leise. »Ein komisches Alter, oder? Nicht Fisch, nicht Fleisch.«

Hanjo hasste und liebte dieses Bild. Es war das letzte Foto, das von ihr gemacht wurde. Sie stand am Strand neben ihrem Geburtstagsgeschenk, einem Surfbrett. Und sie sah so glücklich und stolz aus. Sophie glitt der leere Becher aus den Händen. Er rollte über die Fliesen.

»Fenja?«

Hanjo nickte lächelnd. »Ja! Freya und ich haben sie immer nur Fee genannt. Unsere kleine Fee. Sie war unser Wunder.«

»Die Fenja?«, fragte Sophie langsam. Sie schluckte und rieb sich die müden Augen. »Ollis Freundin?«

»Ja.« Er lachte leise, als er sich erinnerte. »Sie waren sehr verliebt. Olli hatte auch das Brett ausgesucht. Das Brett, das sie für immer von uns weggebracht hat. Ich habe ihn zwischendurch dafür gehasst. Aber der Junge hat sich selbst genug Vorwürfe gemacht. Er war nur noch ein Schatten seiner selbst. Es war nicht seine Schuld, dass das passiert ist, aber ich glaube, er denkt das bis heute. Freya hat alles versucht, ihm das Herz leichter zu machen. Er war immer willkommen. Ich glaube, er hatte das Gefühl, alles irgendwie wieder gutmachen zu müssen. Er half immer ungefragt, wo er nur konnte.«

»Ich muss Stefan anrufen. Danke, für deine Hilfe. Tut mir leid, dass ich so fertig bin. Ich glaube, die Tabletten von gestern hauen mich noch immer um.«

Hanjo nickte. Sophie versuchte aufzustehen, doch ihre Beine gaben nach. Sie stöhnte, als sie auf die Fliesen rutschte. Hanjo stellte den Silberrahmen vorsichtig zurück auf die Borte. Alles war so schrecklich, aber er hatte keine Zeit in Trauer zu versinken. Er musste sich jetzt um Sophie kümmern.