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Ben zündete sich noch eine Zigarette an und lauschte. Es war nichts zu hören. Er hoffte, dass Sophie, wenn sie überhaupt noch kommen würde, vernünftig genug war mit dem Auto zu fahren. Sie würde doch nicht nachts am Strand langspazieren? Ben versuchte, sich zu beruhigen. Sophie war eine intelligente Frau und sie wusste, dass ein Mörder frei herumlief. Aber sie war so durcheinander gewesen. Er würde noch verrückt werden, wenn er nur tatenlos dasaß. Hoffentlich lag sie im Bett und schlief. Und wenn sie sich unvernünftigerweise doch zu einem Spaziergang entschlossen hatte? Ben beschloss, ihr entgegenzugehen. Für den Fall, dass sie hoffentlich doch mit dem Wagen kommen würde, während er weg war, schrieb er einen Zettel. Er lief eilig zum Strand. Langsam stieg in ihm Panik auf. Jemand hatte ihren Hund umgebracht und sie war auch schon niedergeschlagen worden. Die Idee, sich heute noch zu treffen, war vollkommen wahnsinnig, gestand er sich ein. Sie brauchte Ruhe und sollte nicht durch die Gegend fahren oder schlimmer, gehen. Was war nur mit ihm los gewesen? Er hätte drauf bestehen sollen, dass sie sich schonte. Morgen hätten sie alle Zeit der Welt gehabt, ausgeruht über alles zu reden. Ganz hinten in der Bucht brannte ein Feuer. Verwirrt und neugierig begann Ben zu laufen. Tatsächlich, da machte jemand ein Lagerfeuer. Wer? Es waren kaum noch Gäste da und die Stimmung war im Moment auch nicht besonders gut. Wer zum Teufel veranstaltete da einen Beachabend? Ben konnte nur eine Person ausmachen. Aber das war doch Olli! Jetzt rannte er. Olli sah furchtbar aus. Sein Blick war wirr und sein T-Shirt war verschwitzt. Neben ihm stand eine halb volle Flasche Whisky. Der Kumpel schien ihn nicht einmal zu bemerken.

»Was machst du hier?«, fragte Ben atemlos.

»Feuer!«, antworte Olli ohne ihn anzusehen. Mechanisch warf er kleine Papierstückchen in die Flammen.

Ben sah genauer hin. Es waren Fotos, die Olli zerriss. Auf einem erkannte er Fenja. Ben bekam Angst. Olli sah vollkommen wahnsinnig aus. »Olli, was soll das?« Seine Stimme überschlug sich fast.

»Ben!« Endlich sah Olli ihn an. Sein Blick war verschleiert. »Ich mache Schluss! Ich kann so nicht mehr weitermachen.«

Olli konzentrierte sich wieder auf das Auseinanderreißen der Fotos.

»Was meinst du eigentlich?«

»Das hier!« Olli breitete die Arme aus. »Alles! Es ist zu Ende! Für mich wird bald alles ganz anders werden. Endlich!« Er warf wieder eine Handvoll Fetzen in die Flammen. »Ich muss sie beerdigen. Die ganze beschissene Vergangenheit.«

Wenn er doch nur wüsste, was in Olli vorging. Was meinte er damit, dass für ihn alles anders werden würde? Er musste ihn irgendwie aus dieser Trance kriegen. »Und?« Ben klopfte Olli kumpelhaft auf die Schulter und deutete auf den Whisky. »Krieg ich auch einen Schluck?« Olli nickte, machte aber keine Anstalten, ihm die Flasche zu reichen. Ben lehnte sich vor und nahm sie. »Prost! Auf wen eigentlich?«

»Keine Ahnung! Such dir eine aus.«

Ben hatte nicht gewusst, dass es eine Steigerung von Angst gab, aber genau das fühlte er jetzt.

 

Tina schreckte aus dem Schlaf hoch. Sie war in Schweiß gebadet. War was mit den Kindern? Mit klopfendem Herzen lauschte sie. Nein, alles war ruhig. Sie hatte wohl einfach nur schlecht geträumt. Tina griff zur Wasserflasche und trank ein paar Schlucke. Es war unerträglich heiß. Sie versuchte, sich zu beruhigen. Es war ein Traum, nur ein Traum. Sie hatte von Pelle geträumt. Na, kein Wunder! So etwas Furchtbares verdaute man nicht so leicht. Tina schüttelte den Kopf und atmete tief durch. Pelle hatte nun unter der schönen alten Kastanie eine wunderbare letzte Ruhestätte. Furchtbar, dass die meisten geliebten Haustiere als Seife endeten. Ob Sophie schon wieder zu Hause war? Tina lächelte. Wahrscheinlich nicht. Sie kuschelte bestimmt mit diesem verrückten Ben auf der verlausten Matratze in diesem Bus. Dass Sophie, die Stil-ikone schlechthin, sich in einen Hippie verknallte, war wirklich zu komisch. Aber Ben schien wirklich kein schlechter Kerl zu sein. Er hatte sofort alles stehen und liegen gelassen, um Sophie in diesen schweren Stunden zur Seite zu stehen. Plötzlich begann ihr Herz wieder zu rasen. Da stimmte was nicht! Tina setzte sich auf und überlegte panisch. Oh Gott! Ja! Das war der Fehler! Sie griff zum Telefon und wählte zitternd Stefans Handynummer. Ein Freizeichen.

»Tina?«

»Stefan! Gott sei Dank!« Ihre Stimme klang viel zu schrill.

»Ist was mit den Kindern?«

»Was? Nein! Hör zu, du musst sofort zurückkommen! Und verständige deine Kollegen.«

»Was soll ich? Tina, leg dich wieder hin ...«

»Stefan! Ich meine es verdammt ernst! Ich weiß jetzt, was nicht stimmt! Bitte! Du musst deine Leute herschicken!«

Stefan atmete tief durch. »Sorry, Maus, aber ich komm da gerade nicht mit.«

Tina öffnete leise die Tür zum Gästezimmer, während sie weitersprach. »Ich habe doch Hanjo angerufen, damit er Ben zu Sophie schickt.« Sophies Bett war unbenutzt. »Sophie ist nicht in ihrem Bett! Sie ist sicher bei Ben.«

»Ja und? Hör mal, ich habe hier jede Menge Arbeit.«

»Jetzt hörst du mir gefälligst zu! Ben war doch hier und Sophie war sehr froh darüber. Sie hat sich bei mir bedankt und sie hat erwähnt, dass Ben total fertig war wegen Pelle und deshalb so schnell wie möglich zu ihr gekommen ist. Verstehst du nicht?«

Es dauerte ein paar Sekunden, bevor Stefan antwortete. »Nein, ehrlich gesagt, verstehe ich kein Wort!«

Tina ließ sich zitternd auf die Küchenfliesen sinken. »Ich habe Hanjo gar nichts von Pelles Tod erzählt! Ben konnte das nur wissen, wenn er selbst ...«

 

Sophie versuchte aufzustehen. Alles drehte sich und ihr war wieder entsetzlich übel. »Sophie!« Hanjos Stimme kam von weit weg. Sie sah ihn nur verschwommen. Er half ihr, sich aufzusetzen und reichte ihr ein Glas Wasser. Sophie schloss erschöpft die Augen und atmete tief durch. Alles passte! Olli war durchgedreht. Er hatte sich all die Jahre schuldig gefühlt. Schuldig am Tod seiner ersten großen Liebe. Er hatte das Surfbrett, mit dem Fenja für immer verschwunden war, selbst ausgesucht. »Hanjo! Ich glaube, es ist Olli.« Ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. Sie durfte jetzt nicht ohnmächtig werden. Sophie schluckte und griff nach dem Glas. Das Wasser tat ihr gut.

»Olli?« Hanjo sah sie verständnislos an. »Was ist mit Olli?«

Sophie trank noch einen Schluck, doch ihr Mund blieb trocken. Sie konnte nur mit Mühe einigermaßen deutlich sprechen. »Olli hat sie alle umgebracht!«

Hanjo lächelte sie besorgt an. »Der Junge kann keiner Fliege was zuleide tun.«

»Aber er hat mir vorhin gedroht und er ...« Sophie verlor den Faden. Die Küche begann sich zu drehen. Sie schüttelte sich, um wieder klar zu werden. Ihre Kopfschmerzen hatten tatsächlich nachgelassen, aber sie war so unkonzentriert. Sie musste sich zusammenreißen. »Hanjo, er liebte auch Sarah. Seine erste Liebe nach Fenja. Das hat er mir eben selbst gesagt. Er, ähm, er ... Nein! Sie! Sie hat ihn betrogen. Er wusste davon!«

»Sophie, beruhige dich! Du bist ziemlich verwirrt.«

»Ich muss telefonieren. Wo ist dein Telefon?«

»Jetzt warte mal! Das ist ein schwerer Vorwurf. Wen willst du denn anrufen? Die Polizei?«

»Stefan! Ich muss Stefan anrufen. Ich hoffe, er ist noch auf der Insel. Er musste weg. Aber er wollte vorher noch Pelle ...« Sophie schüttelte langsam den Kopf. Pelle? Was war denn jetzt mit Pelle? Irgendetwas stimmte da nicht. Warum hatte Hanjo sie denn vorhin nach Pelle gefragt? Er selbst hatte Ben doch ausgerichtet, dass ihr Hund tot war.

 

Ben konnte das nicht länger mit ansehen. Die Situation war vollkommen irre. Olli benahm sich wie ein Psychopath.

»Verdammt, Olli!«, brüllte er. »Hör auf mit den Spielchen!«

Olli sah ihn wütend an. Ben war fast erleichtert. Ein wütender Olli war ihm viel lieber als dieser weggetretene Wahnsinnige.

»Spielchen? Ich spiele keine Spielchen. Das ist doch wohl eher dein Metier.«

»Wovon zum Teufel redest du eigentlich?«

Olli griff nach der Flasche und trank. »Du bist eine miese Drecksau! Du hast mit Sarah geschlafen! Hältst du mich für einen Idioten?« Olli fing an zu lachen. »Drecksau! Und ich dachte, du seist mein bester Freund! Ich habe eine schlechte Menschenkenntnis, oder? Sarah hat mich auch nur verscheißert. Ich habe sie aber geliebt! Kannst du dir überhaupt vorstellen, wie sich Liebe anfühlt?«

»Olli, ich ...«

»Ob du dir das vorstellen kannst, du Wichser!«

Ben versuchte, ruhig zu bleiben. Es war Ollis gutes Recht, auf ihn sauer zu sein und außerdem war er schrecklich betrunken. »Ja! Ja, ich kann mir das gut vorstellen und das weißt du auch! Du weißt, dass ich Lamai geliebt habe.«

»Lamai?« Olli lachte dreckig. »Die hast du doch längst vergessen. Du hast sie schon so oft ausgewechselt. War Sarah auch nur dafür da? Hast du sie nur benutzt, um dich abzulenken? Lamai wäre bestimmt stolz auf dich.«

Ben hatte Mühe, sich zu beherrschen. Am liebsten hätte er Olli einfach eins auf sein böses Maul gegeben. »Das mit Sarah war falsch«, gab er zu. »Ich hätte das nie tun dürfen. Aber sie sagte, dass es aus wäre zwischen euch und ich war breit. Scheiße, das klingt so billig. Ich ... ich habe mich so beschissen gefühlt. Ich hätte es dir gesagt, wirklich, aber dann war sie plötzlich tot.«

Olli sah ihn böse an und nickte, als sei er plötzlich um eine Erkenntnis schlauer. »Wie praktisch! Komisch, dein Timing!«

»Sag mal, spinnst du?« Ben sprang auf. »Willst du mir jetzt auch noch einen Mord anhängen?«

Olli schwieg ein paar Sekunden. »Liebst du Sophie?«, fragte er dann.

»Ich mag sie sehr. Ich habe keine Ahnung, wie die Geschichte weitergeht.«

Olli nahm wieder einen großen Schluck aus der Flasche. »Sophie! Verdammt hübsch! Hat mich vorhin besucht. Sie hält mich übrigens für den Mörder.« Olli lachte. »Und sie hat ja recht!«

»Wo ist Sophie? Bitte! Das ist wichtig!«

»Keine Ahnung. Wollte sie nicht zu dir? Vielleicht sollte ich besser dir diese Frage stellen.«

»Wann war sie hier? Wohin ist sie gegangen«

»Ich hab keine Ahnung. Sie ist weggerannt.«

»Weggerannt?«

»Ja, wir hatten eine kleine Meinungsverschiedenheit.«

»In welche Richtung?«

»Jetzt reg dich ab! Ich hab ihr nichts getan. Nur ein bisschen Angst gemacht. Sie ist in Richtung Bistro gelaufen.«

 

Sophie schreckte hoch. Sie hatte tatsächlich geschlafen. Wo war sie? Sie blickte sich um. Sie erkannte die Bistroküche. »Hanjo?« Ihre Zunge war schwer und trocken. Ihr Ruf war kaum zu hören. Sie wollte aufstehen, doch ihre Beine waren wie Pudding.

»Sophie!« Hanjo war sofort bei ihr. »Du bist einfach eingenickt. Da hab ich dich etwas schlafen lassen. Du musst dich schonen. Geht es dir jetzt ein bisschen besser?«

Nein, es ging ihr gar nicht besser. Die Schmerzen waren zwar weg, aber die Welt um sie herum war wie Nebel. Sie hatte von Pelle geträumt. Sie waren zusammen über eine Wiese gerannt. Und dann war da ein Baby. Sophie versuchte, wacher zu werden. Warum war sie bei Hanjo? Polizei, sagte eine innere Stimme. Ja genau, sie musste Stefan anrufen. Aber eigentlich wollte sie lieber schlafen. »Wo ist das Telefon?« Ihre Stimme lallte.

»Hinten im Schlafzimmer. Ich kann es dir leider nicht bringen. Ist noch so ein altes Teil mit Kabel«, entschuldigte sich Hanjo.

Sophie nickte und versuchte aufzustehen. Ihr Körper war schwer wie Blei. In ihren Ohren rauschte es.

»Mein Gott, Mädchen, du bist ja ganz blass. Komm, ich helfe dir.«

Mit Hanjo Hilfe kam sie auf die Beine. Sie gingen langsam in die hinteren Privaträume. Das Rauschen wurde schlimmer. In Hanjos Schlafzimmer flackerte Kerzenlicht. Hanjo half ihr, sich auf einen Sessel zu setzen. Auf einem kleinen Tisch stand ein altes Telefon. Dahinter standen die Kerzen und schöne Bilderrahmen mit Fotografien.

»Ich bin gleich wieder da. Kommst du zurecht?«

Sophie nickte. Alles waberte vor ihren Augen. Sie musste doch nur den Arm ausstrecken und den Hörer greifen. Die Bilder. Da war ein Foto von einer älteren Frau. Das musste Freya sein. Und da war ein Portrait von Fee. Sie streckte mit letzter Kraft den Arm aus und nahm den Hörer ab. Ihr Blick fiel auf das Bild im nächsten Rahmen. Sarah! Sophie begann zu zittern. Und das war Clara. Die entsetzliche Gewissheit trieb sie an. Wie war Tinas Nummer noch? Sophie konnte sich nicht erinnern. Sie würde einfach 110 wählen. Es kostete sie unendlich viel Kraft, den Hörer abzunehmen. Das musst du jetzt hinkriegen, feuerte sie sich an. Und dann kannst du endlich ein bisschen schlafen. Der altmodische Hörer war so schwer, dass sie ihn nur mit Mühe an ihr Ohr legen konnte. Ihr Zeigefinger stecke bereits in der Wählscheibe. Verzweifelt wartete sie auf ein Freizeichen. Das Telefon war tot.