37

Sophie rappelte sich erschrocken hoch. Sie musste geschlafen haben. Die Kinder tobten hinten im Garten mit Pelle. Verdammt! Sie hatte wirklich Wichtigeres zu tun als zu dösen. Sie brauchte Gewissheit. Entweder war Ben verrückt oder unschuldig. Was hatte Tina gesagt? Bens Zwillingsschwester war in der Badewanne ertrunken und er war dabei gewesen. Und? Deshalb musste er doch nicht wahnsinnig geworden sein. Fröstelnd schlug sie die Arme um sich. Und wenn er doch ein Psychopath war? Warum hatte er mit Ollis Exfreundin geschlafen? Kurz vor ihrer Ermordung! Ob Olli von der Sache zwischen den beiden wusste? Vielleicht war es nicht das einzige Mal, dass Sarah und Ben miteinander ins Bett gegangen waren. Wenn Olli etwas gemerkt hatte, musste er verdammt wütend sein. Und zwar auf beide. Sophie stand vorsichtig auf und ging in die Küche. Tina war gerade dabei, den Boden zu wischen. Sie blickte auf, als sie Sophie kommen hörte.

»Du bist aufgestanden! Geht es dir besser?«

»Ich habe zwar immer noch Kopfschmerzen, aber mir ist nicht mehr so schwindelig. Ich werde mal nach oben schleichen und duschen. Ich muss diesen Krankenhausgeruch abwaschen.« Es kostete sie alle Kraft, doch sie schaffte es ins Bad. Als sie vor dem Spiegel stand, bekam sie einen Schreck. Sie sah furchtbar aus. Wann war sie das letzte Mal so blass gewesen? Ihre Augenränder waren so dunkel, als wäre sie seit Langem schwer krank. An ihrer Wange klebte noch eingetrocknetes Blut und ihr Haar war total verfilzt. Auf der Seite, auf der sie den Schlag abbekommen hatte, war das Weiße in ihren Augen dunkelrot. »Ich sehe aus wie ein Zombie«, stellte sie laut fest. Und daran würde sie auch mit ein bisschen Make-up nichts ändern können. An dem Job würde jeder noch so talentierte Starvisagist scheitern. Sophie duschte sich vorsichtig, damit der Verband nicht nass wurde. Anschließend zog sie eine weite Cargohose und ein T-Shirt an. Zum Glück hatte sie ihre Baseballkappe mitgenommen. Sie zog sie tief ins Gesicht. 10 Minuten später kam sie mit wackeligen Beinen auf die Terrasse. »Pelle?« Ihr Hund stürmte zu ihr. Sie ließ sich auf die Knie fallen und vergrub ihr Gesicht in dem braunen Fell. Sie war fix und fertig und ließ ihren Tränen freien Lauf. Pelle rührte sich nicht vom Fleck. Er ließ Frauchen einfach traurig sein. Nach ein paar Minuten ging es ihr besser. »Danke, das war wohl mal nötig. Bist du noch mein Mister Stringer?« Pelle bellte zustimmend. »Komm! Wir müssen hier mal raus. Ich will einfach nicht glauben, dass Ben ein Mörder ist, und genau das werden wir auch irgendwie beweisen!«

 

Stefan hatte sich in der Polizeiwache in Burg provisorisch eingerichtet. Robert Feller saß ihm gegenüber am Schreibtisch und rührte minutenlang schweigend in seinem Kaffee. »Mensch, Robert, wenn du so weiterrührst, ist gleich ein Loch in der Tasse.« Robert sah ihn genervt an. Schlecht gelaunt wählte Stefan Ingos Handynummer und stellte den Apparat auf Freisprechen. »Ingo, gibt es bei euch was Neues? Wie weit ist Franck?«

»Moin, Stefan«, meldete sich Ingo Schölzel. »Franck ist noch nicht fertig. Wir sind gerade bei ihm. Es ist noch nicht offiziell, aber es ist das gleiche Muster. Das war unser Ostseekiller.«

Stefan nickte. »Das haben wir uns ja schon gedacht. Fingerabdrücke, DNA, irgendwas?«

»Er ist noch nicht fertig.«

Stefan sprang er auf und trat gegen den Schreibtischstuhl. Robert sah ihn erschrocken an. »Verdammt! Was haben wir denn überhaupt? Sandra, Sarah und Clara. Drei junge Frauen, blond, hübsch. Sandra kam aus Süddeutschland, kannte niemanden hier. Die anderen sind Konkurrentinnen. Wer ist denn jetzt die Favoritin? Checkt das! Warum doch diese Unterschiede? Neoprenanzug, Sex, kein Sex. Zufall? Oder gehört das alles zu seinem kranken Plan? Und ich will alles über die Jungs wissen!«, brüllte er. »Dieser Olli hat doch mal in Hamburg studiert. Was ist mit dieser Sandra? War die mal in Hamburg?«

»Nein, sie hat in Köln studiert«, antwortete Robert.

Stefan trank einen Schluck Kaffee und spuckte ihn angeekelt zurück in die Tasse. »Was ist das denn für eine Brühe! Robert, die sollen frischen kochen. Gerdt soll sich an die Vita der Jungs machen. Ich will alles wissen. Jede noch so kleine Nebensache. Und auch alles über die Einheimischen, die in der Nähe von Gold leben. Robert, schnapp dir diesen Claas Meier und putz Klinken.« Stefan lehnte sich zurück und kaute an der Nagelhaut seines Daumens.

»Was jetzt, Chef?«, fragte Ingo am Telefon.

»Ich hab nicht die leiseste Ahnung. Ich rechne sekündlich mit einem Anruf vom Staatsanwalt. Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, was ich ihm sagen soll. Wir stehen da wie Idioten. Ich fahr zum Mittagessen nach Hause und nehme mir Sophie vor. Wenn sie uns was verheimlicht, weil dieser Ben ihr Lover ist, dann gnade ihr Gott!«

»Nur eine Idee«, warf Robert ein und wischte sich einen Krümel vom Sakko. »Die ersten beiden Frauen wurden in einem Neoprenanzug gefunden, aber diese Clara hatte normale Klamotten an.«

»Und?«, fragte Stefan genervt.

»Na ja, nur so ein Gedanke, aber wenn wir es, wie ich ja von Anfang an behauptet habe, tatsächlich mit einem Serienkiller zu tun haben? Ich meine, dann ist er nicht dumm.«

»Was zum Teufel meinst du?«

»Am Anfang hat er versucht, die Frauen wie Unfallopfer aussehen zu lassen. Neoprenanzug! Jetzt macht er sich doch gar nicht mehr die Mühe. Clara trug normale Straßenkleidung. Der Täter weiß, dass wir nicht mehr an Unfälle glauben. Er hat seine Taktik geändert. Warum soll er sich denn noch die Mühe machen und seine Opfer in einem Neoprenanzug ertränken?«

Stefan starrte Robert an. Sein Designerkollege hatte tatsächlich recht. Dass Clara normale Klamotten anhatte als sie starb, sonst aber anscheinend alles wie bei den anderen Opfern abgelaufen war, bestätigte seine Theorie. Die ganze Sache wurde immer abartiger.

 

Sophie ging im Garten auf und ab. Zwischendurch ließ sie die Arme kreisen und massierte sich den Nacken. Sie musste versuchen, schnell wieder fit zu werden. Ihr Handy klingelte wieder, und wieder war es Ben. Nein, sie wollte auf keinen Fall am Telefon mit ihm sprechen. Sie musste ihm dabei ins Gesicht sehen.

»Was machst du da?«, brüllte Tina von der Terrasse. »Du sollst doch liegen und dich ausruhen!«

Sophie ging ihr langsam entgegen. »Das weiß ich doch auch. Ich habe aber einfach nicht die Ruhe. Es geht mir wirklich schon besser. Außerdem muss ich den armen Pelle ein bisschen laufen lassen. Wir gehen zum Strand.«

Tina schüttelte energisch mit dem Kopf. »Bleib lieber hier! Das ist ein gut gemeinter Tipp! Stefan kommt jeden Moment! Er will dich sprechen. Wenn du jetzt abhaust, garantiere ich für nichts!«

Sophie rollte genervt mit den Augen. »Kannst wieder abzischen, Pelle.« Der braune Labrador galoppierte begeistert zu Antonia und Paul, die im Planschbecken saßen. Pelle zögerte nicht eine Sekunde. Er nahm Anlauf und sprang mitten rein. Dann schüttelte er sich glücklich.

»Jetzt haben wir sogar eine Dusche!«, kreischte Antonia begeistert.

»Papa! Papa! Guck doch mal!«, quakte Paul und klatschte in die Hände.

Sophie hatte Stefan gar nicht kommen hören.

»Dir geht es anscheinend wieder besser«, fragte Stefan ohne eine Spur von Mitgefühl. »Du hast doch nicht vor, zu Ben zu fahren, oder?«

»Und wenn?«

»Sophie, komm bitte her und setzt dich«, sagte Stefan plötzlich sehr ruhig.

Sie gehorchte missmutig. Stefan sah sie ernst an und zu ihrem Erstaunen lag da tatsächlich ein Funke Sorge in seinem Gesicht.

»Sophie, im Moment können wir nicht ausschließen, dass Ben ein mehrfacher Mörder ist.«

»Ich kann das ausschließen«, behauptete sie bestimmt. »Ich war den ganzen Abend mit ihm zusammen.« Sollte sie Stefan von der Sache mit der Zahnbürste erzählen?

»Lass uns mal der Reihe nach vorgehen«, schlug Stefan freundschaftlich vor. »Versuch dich an die Nacht zu erinnern. Es ist wirklich wichtig!«

»Alles ist wie ausgelöscht. Ab und zu erinnere ich mich, aber ich krieg das mit der Reihenfolge einfach nicht auf die Reihe. Wir haben gegessen und ...«

»Erspar mir die Details. Du hast gerade selbst gesagt, dass du die Reihenfolge der Ereignisse nicht mehr sicher weißt.«

»Ich weiß noch alles ganz genau. Alles, bis ich die Leiche sah. Da erst wird die Sache zum Puzzle.« Sie holte Luft. »Ich wollte irgendwann nach Hause. Ich war durcheinander wegen Felix. Es hat schrecklich gedonnert und Ben meinte, dass ich bei ihm bleiben sollte.«

»Damit du die Leiche nicht findest?«

Sophie ignorierte die Frage und versuchte sich zu konzentrieren. »Ich sah Clara, also nicht wirklich Clara, aber eine Person. Es war wie in einem Horrorfilm. Ein Blitz zuckte und in der Sekunde sah ich das weiße Gesicht und diesen furchtbaren Ausdruck. Pelle hatte wie verrückt gebellt. Und dann hat mich was am Kopf getroffen und ich bin umgekippt. Da war ein Mann mit Regenjacke.«

»Die einzige Regenjacke, die wir gefunden haben, war die von Ben. Und dem hast du ja jetzt ein Alibi verschafft.«

»Olli hat gestern Abend noch bei Ben angerufen.«

Stefan sah sie streng an. »Was? Wo steckt der?«

»In St. Peter-Ording. Er kommt heute zurück.«

Stefan nickte grimmig. »Wenn dir noch irgendwas einfällt, dann ruf mich an.«

Tina ließ ein Tablett mit Kartoffelsalat und Würstchen auf den Tisch knallen. »Schluss jetzt! Auf meiner Terrasse werden keine Verhöre geführt!« Sie deckte schlecht gelaunt den Tisch. »Ich will kein Wort mehr über Mord und Totschlag hören. Ist das klar?«

Beim Essen redeten nur die Kinder. Sophie hatte keinen Appetit, und das lag nicht an der Gehirnerschütterung. Sie hatte gelogen! Ben war nicht die ganze Zeit bei ihr gewesen.

 

Tina räumte die Teller zusammen und stellte sie auf das Tablett. Die ganze Situation war unerträglich.

»Antonia! Paul! Kommt bitte her! Ich möchte, dass ihr jetzt ganz leise nach oben geht und euch eine halbe Stunde hinlegt.« Die beiden sahen sie entsetzt an.

»Aber Mami! Wir wollen nicht schlafen!«, protestierte Antonia.

Paul fing an zu heulen und rieb sich die Augen. Wenn Finn jetzt auch noch anfängt zu schreien, trinke ich einen Schnaps, beschloss Tina. Stefan rauchte seelenruhig eine Zigarette und Sophie starrte auf ihr Telefon. »Jetzt hört mal gut zu, ihr beiden«, versuchte Tina es erneut. »Ihr schleicht jetzt sofort nach oben! Ich will keinen Mucks mehr hören. Wenn die Sache so klappt, wie ich sie mir vorstelle, dann gibt es heute Nachmittag ein großes Eis.« 10 Sekunden später war von beiden nichts mehr zu hören und zu sehen.

»Glaubst du, dass das eine gute Idee ist? Ich meine, dass du sie mit Eis bestichst?«, fragte ihr Mann skeptisch. »Erpressung hat meiner Ansicht nach rein gar nichts mit Erziehung zu tun.«

Tina war kurz davor auszuflippen. Stefan wusste doch überhaupt nicht, wie sie jeden Tag jonglierte, um allen gerecht zu werden. Was bildete er sich eigentlich ein? Da hörte sie ihn fragen:

»Sag mal, Schatz, willst du uns nicht noch einen Cappuccino anbieten?«

»Steck dir deinen Cappuccino sonst wohin.« Ohne seine Reaktion abzuwarten, nahm sie das Tablett und ging in die Küche, um zu heulen. Sie putzte sich gerade die Nase, als Stefan zu ihr kam.

»Schatz, tut mir leid. Ich weiß eigentlich gar nicht, was ich Schlimmes getan habe. Sophie ist der Meinung, ich wäre ein unsensibles Arschloch und hätte keine Vorstellung, was du hier für ein Pensum abreißt.«

Tina musste grinsen. »Schöner hätte ich es auch nicht ausdrücken können.« Stefan nahm sie in den Arm und küsste sie zart.

»Sorry, Schatz. Der Fall macht mich fertig. Wenn ich das Schwein habe, nehme ich mir Urlaub! Und dann fahren wir weg. Nein, lass uns irgendwo hinfliegen. So ein Hotel in der Sonne mit Vollverpflegung rund um die Uhr.«

Sie nahm ihn in den Arm und Stefan küsste sie zärtlich. Dann sah er sie entschuldigend an. »Ich muss los. Ich liebe dich.«

Als er weg war, machte Tina tatsächlich zwei Cappuccini und nahm sie mit nach draußen. Sophie griff dankbar zum Becher. »Darfst du eigentlich Kaffee trinken?«

Sophie sah sie verblüfft an. »Wieso denn nicht? Besser als noch mehr Schmerztabletten. Tina, mach dir jetzt bitte nicht noch wegen mir einen Kopf. Ich bin in Ordnung.«

»Hast du schon ein Ergebnis bekommen? Na, wegen deines illegalen Tests?«

Sophie schüttelte den Kopf. »Wird wohl noch ein paar Tage dauern. Ich geh jetzt mit Pelle an den Strand. Hier im Garten bekommt er nicht genug Bewegung. Und ich auch nicht. Wir sind in spätestens zwei Stunden zurück.« Sophie rief ihren Hund und lief durch den alten Obstgarten zum Deich. Tinas Herz klopfte. Und wenn Sophie trotz aller Warnungen doch zu Ben ging?