33

Stefan saß mit Ingo und Robert in seinem Büro. Bei einer Tasse Kaffee warteten sie gemeinsam auf Enno Gerken von der Spurensicherung.

»Ich habe noch mal mit Ollis Mutter gesprochen«, erklärte Robert. »Ihr Sohn ist mit seinem Auto weg. Ein Golf drei, dunkelblau. Wir haben das Kennzeichen und fahnden nach der Karre.«

»Und wenn er seinen Wagen irgendwo abgestellt und sich verpisst hat?«, warf Stefan ein.

»Wir haben bereits die Flughäfen angerufen«, informierte ihn Ingo. »Von Hamburg, Bremen oder Lübeck ist er jedenfalls nicht geflogen. Die haben keinen Oliver Konrad auf den Passagierlisten. Sollen wir noch andere Flughäfen überprüfen?«

Stefan schüttelte den Kopf. »Nein, erst mal nicht. Er könnte genauso gut mit der Bahn gefahren sein oder per Anhalter.«

»Frau Konrad will die Namen von zwei Freunden aus seiner glanzlosen Studentenzeit raussuchen. Ach, und dann ist da noch so ein Tobias«, erinnerte sich Robert wieder. »Ollis Mum wusste aber auch nicht mehr, wie der weiter heißt. Nur, dass der in Hamburg lebt.«

Stefan nickte unzufrieden. »Robert, ruf doch gleich bei Frau Konrad an und helfe Mum dabei, sich zu erinnern. Oder noch besser: ruf Broder an. Der kennt doch alle, die mal auf Fehmarn gelebt haben. Wenn es sich um einen Jugendfreund handelt, dann haben wir bald seinen vollen Namen.«

Robert nickte und machte sich eine Notiz. Stefan stand auf und ging zum Fenster. Warum hatte er einfach keine Idee? »Ingo? Nur für den Fall. Überprüf doch kurz die Krankenhäuser. Vielleicht hat der Irre sich die Pulsadern aufgeschnitten und wir wissen noch nichts davon.«

Ingo brummte seine Zustimmung. Die Tür wurde geöffnet und Enno betrat den Raum. »Moin. Entschuldigt die Verspätung.«

Stefan ging zurück an seinen Schreibtisch. »Jetzt bist du ja da. Und ich hoffe mit Neuigkeiten. Kaffee?«

Enno nickte und setzte sich auf einen freien Stuhl. »Unsere Hoffnung war, dass der Täter Fingerabdrücke hinterlassen hat, als er die Leichen transportierte. Tja, aber leider hat er wohl Handschuhe getragen. Der Fundort der Leichen hat nach all den Tagen auch nicht mehr hergegeben. Wir haben nichts gefunden.«

Stefan schnaubte. »Was ist mit Fußspuren?«

Gerken schüttelte den Kopf. »Da gibt es keine Spuren mehr. An der Stelle, an der Sarah Müller gefunden wurde, klettern täglich unzählige Surfer über den Deich.« Enno sah in die Runde und schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Jungs.«

Stefan rührte schweigend in seinem Kaffee. Dieser Fall war einfach verhext. »Verdammt!«

»Eine Kleinigkeit habe ich aber für euch. Würde mich mit leeren Händen doch gar nicht in dieses Büro wagen.«

Stefan überhörte die dämliche Bemerkung. »Was?«

»Franck hat doch diese weißen Partikel unter den Nägeln beider Opfer gefunden. Und der gute Mann hatte einen Geistesblitz, worum es sich dabei handeln könnte. Das Labor hat ein paar Tests gemacht. Wir wissen jetzt, was das ist.«

Stefan starrte ihn an, wie eine Schlange das Kaninchen. Enno lehnte sich wieder zurück und lockerte seinen albernen Schlips.

»Getrocknete Scheuermilch! So ein Zeug eben, mit dem man Waschbecken und Badewannen sauberschrubbt. Scheuermilch löst sich nicht auf. Meine Frau meinte allerdings, dass man deshalb gründlich nachspült. Entweder hatte euer Mann es ziemlich eilig oder er kann nicht putzen.«

Stefan legte seinen Kopf auf die Handflächen und kratzte mit den Fingernägeln seine Kopfhaut. Scheuermilch! Die Frauen hatten Scheuermilch unter den Nägeln, weil sie in ihrem Todeskampf versucht hatten, an den Wänden einer Wanne Halt zu finden. Jetzt hatten sie einen Tatort. Sie mussten die richtige Badewanne nur noch finden.

»Scheiße!«, fluchte er laut.

 

Tobias rollte rasant durch die Wohnungstür. »Hallo, bist du da?«, rief er gut gelaunt. »Ich bin früher weg. War nicht viel los und wozu hat man Angestellte. Olli?«

Tobias zog die Tür zu und fuhr in die Küche. Olli schien noch unterwegs zu sein. Das hatte man nun davon, wenn man sich um einen alten Kumpel kümmern wollte. Tobias schaltete die Espressomaschine an und fuhr durch das Wohnzimmer, um die kleine Terrassentür zu öffnen, die in seinen winzigen Schattengarten führte. Es war stickig in der Wohnung. Draußen waren es über 30 Grad und es lag ein Gewitter in der Luft. Zurück in der Küche packte er die eingekauften Lebensmittel in den Kühlschrank. Er würde heute eine Paella machen und zur Vorspeise Melone mit Serranoschinken. Gut gelaunt schaltete Tobias das Radio ein: ›It never rains in Southern California‹. Aber hier hoffentlich schon! Plötzlich fuhr er zusammen. Das Wohnzimmer hatte ausgesehen wie sonst. Wo waren Ollis Sachen? Er ließ die Melone fallen und fuhr zurück. Nicht nur von Olli fehlte jede Spur, auch seine Klamotten waren weg. Auf dem Tisch lag ein Zettel: ›Vielen Dank fürs Essen und dein offenes Ohr. Bin spontan nach St. Peter-Ording aufgebrochen. Lass mir den Kopf durchpusten.‹

Tobias schüttelte den Kopf und knüllte die Notiz zusammen. Er war ein bisschen beleidigt, dass Olli einfach so abgehauen war, doch auf der anderen Seite beneidete er ihn. Er war gesund und hatte eben die Möglichkeit, einfach seine Pläne zu ändern und spontan ans Meer zu fahren, um zu kiten. Wütend ließ er die Faust auf den Tisch krachen. Er hasste die Spur von Selbstmitleid, die in ihm hochkam. »Jetzt dreh nicht durch!«, beschimpfte Tobias sich selbst. Ihm ging es wirklich nicht schlecht. Er war nicht isoliert, sondern durch sein Geschäft noch mitten in der Szene. Plötzlich klingelte es an der Tür. Tobias öffnete in der Hoffnung, dass Olli zurückgekommen war.

»Herr Schuhmacher?«, fragte ein ihm fremder Mann.

»Ja?«

»Schölzel von der Kripo Lübeck. Darf ich kurz eintreten? Ich habe nur eine Frage.«

Tobias zuckte mit den Schultern und fuhr zur Seite.

»Wir sind auf der Suche nach Oliver Konrad. Er ist ein, ähm, wichtiger Zeuge. War er zufällig hier?«

Tobias nickte und freute sich, dass seine Beine nicht zittern konnten. »Ja, er war hier. Nun ist er aber weg. Ich habe es selbst gerade erst gemerkt. War in meinem Surfshop ›The Wave‹. Der Laden ist gleich um die Ecke.«

»Wissen Sie vielleicht, wo er hin wollte?«

Tobias schluckte und machte ein nachdenkliches Gesicht. In Wirklichkeit überlegte er, ob er dem Kommissar von der Notiz erzählen sollte. »Keinen Schimmer«, sagte er schließlich.

»Verdammt! Vielen Dank, Herr Schuhmacher. Ich lass Ihnen meine Karte da. Nur für den Fall, dass Herr Konrad sich bei Ihnen melden sollte.«

Tobias nahm sie entgegen und nickte freundlich. Dieser Schölzel war schon wieder aus der Tür, als er sich noch einmal umdrehte.

»Herr Schuhmacher. Sie sind doch ein alter Freund von Oliver Konrad. Ist er Ihnen irgendwie verändert vorgekommen? Irgendwie bedrückt?«

Tobias zuckte mit den Achseln und hob die Augenbrauen. »Mir ist nichts dergleichen aufgefallen. Natürlich hat er von der schrecklichen Sache erzählt, die auf Fehmarn passiert ist. Ist doch klar.«

»Danke noch mal«, sagte der Kommissar und trat nach draußen.

Tobias schloss die Tür und atmete tief durch. Olli war ganz und gar nicht normal gewesen. Er hatte das erst auf den Liebeskummer und dann auf den Verlust geschoben. Tobias beschloss, statt des Espressos doch lieber ein Bier zu trinken. Er hatte der Polizei nicht die Wahrheit gesagt und er kam nicht dahinter, warum er das getan hatte. Sie suchten einen Zeugen, keinen Täter. Oder dachten sie vielleicht, dass Olli…? Tobias öffnete die Bierflasche mit einem Feuerzeug und trank einen Schluck. Er hatte richtig gehandelt. Olli war ein feiner Mensch. Sollte die Polizei sich eben ein bisschen mehr Mühe geben, ihn zu finden. Er würde seinen Freund nie verraten. Das war er ihm schuldig. Nach seinem Unfall damals hätte niemand damit gerechnet, dass er jemals woanders leben würde als in einem Pflegeheim. Fast alle Kumpels hatten irgendwann den Kontakt abgebrochen. Olli war einer der wenigen, der mit ihm, dem Krüppel, noch befreundet war. Wahrscheinlich musste Olli sich einfach nur ablenken. Nach St. Peter-Ording zu fahren war doch eine super Idee! Er hätte an seiner Stelle das Gleiche gemacht. Kiten! Aber hatte Olli denn überhaupt ein Brett dabei?

 

Tina saß mit Antonia und Paul auf der Terrasse und war dabei, Ravioli auf zwei Teller zu verteilen. Sophies Verabredung mit Ben hatte sie auf die Idee gebracht, den Kindern eine Dose warm zu machen. Die Kinder liebten das Zeug. Begeistert machten sie sich über die Nudeltaschen her. Pelle lag sabbernd unter dem Tisch. Als Sophie kam, sprang er begeistert auf. Sie trug eine ausgewaschene Jeans und ein tief ausgeschnittenes schwarzes Top. »Ganz schön sexy für ein Essen auf dem Campingplatz«, stellte Tina fest.

»Es ist eine Einladung zum Dinner. Da habe ich mich eben für das kleine Schwarze entschieden. Außerdem ist es schwül hier draußen.«

»Das wird heute noch ein Gewitter geben. Jede Wette. Ich hoffe, das Anwesen deines Kavaliers ist wasserdicht. Die Kinder wollten unbedingt draußen essen. Sie hoffen auf Blitz und Donner.« Immer mehr dunkle Wolken zogen auf. »Du solltest mit dem Auto fahren«, schlug Tina vor. »Da braut sich wirklich was zusammen.«

»Ach was, ich gehe zu Fuß. Bis das losgeht, dauert es bestimmt noch. Und es wird nicht die ganze Nacht regnen. Außerdem finde ich es spannend, durch den Sturm zu laufen.«

»Ich verstehe. Nomen est omen. Na, wie du meinst. Hast du die Zahnbürste?«

Sophie klopfte auf ihre Handtasche und nickte. »Das wird eine leichte Nummer.«

»Mir wird schlecht, wenn ich daran denke, dass der arme Olli sich damit wieder die Zähne putzt und nicht ahnen kann, dass sie in der Zwischenzeit in den Händen eines Leichendoktors war.«

»Der Leichendoktor hatte mit Sicherheit Handschuhe an«, beschwichtigte Sophie. »Ich werde mal losgehen. Pelle kann sich dann noch ein bisschen müde toben.«

»Damit er nicht stört?«, witzelte Tina. Sophie sah sie genervt an. »Ich hör schon auf. Soll ich dich fürs Frühstück mit einplanen?«

Sophie stöhnte. »Du bist wirklich wie eine Mama. Bis morgen!«

Sie verabschiedete sich von den Kindern und ging mit Pelle in Richtung Strand. Tina sah ihr grinsend nach. Ihre Freundin wirkte richtig aufgekratzt. Sie konnte sich gar nicht mehr erinnern, wann sie selbst zuletzt Schmetterlinge im Bauch gehabt hatte. Nicht, dass sie mit Sophie hätte tauschen wollen. Sie liebte Stefan über alles. Aber nach all den Jahren gab es eben nicht mehr viele Überraschungen. Es war doch merkwürdig, überlegte Tina. Als Teenager war man jede Woche in jemand anderen verknallt und dachte, man würde es nicht überleben, wenn man einen Korb bekam. Die Gefühle waren so intensiv gewesen und doch schwärmte man nie lange für denselben. Sie selbst war als Teenager in fast jeden coolen Jungen der Schule mal verliebt gewesen. Der dünne Benny war aber mit Sicherheit nicht unter ihren Favoriten gewesen. Der war damals immer so komisch. Ja, er war ein richtiger Einzelgänger. Ben interessierte sich nur für Tiere. Zu Hause hatte er angeblich einen halben Zoo. Tina erinnerte sich wieder. Sie hatte ihre Eltern mal über Benny reden hören, als sie noch klein war. Sie sprachen darüber, dass der Junge einem leidtun könne, weil seine Zwillingsschwester in der Wanne ertrunken war, als beide erst drei Jahre alt waren. Tina bekam ein ungutes Gefühl. Vielleicht wäre es besser, wenn sie Sophie anrief und ihr von der alten Geschichte erzählte. Sie ging zum Telefon und wählte Sophies Handynummer. Warum ging sie nicht ran? Ein Schrei ließ Tina zusammenzucken. Dann war das Heulen von Paul zu hören. Antonia rannte ihr bereits entgegen.

»Mama, Paul blutet! Er ist hingefallen! Voll gegen den Blumenkübel.«

Tina legte auf und rannte ins Haus. Sie bemerkte nicht, dass auf dem Wohnzimmertisch das Display von Sophies Mobiltelefon blinkte: ›Ein Anruf in Abwesenheit‹.

 

Ben hatte seinen Bus aufgeräumt, das Bett bezogen und Kerzen aufgestellt. Diese Maßnahmen machten aus seinem Bus zwar keine Luxussuite, aber es wirkte gemütlich. Er wohnte eben in einem klapprigen Transit. Er würde ihr nichts vormachen. Ben stellte zwei Stühle und einen Tisch vor den Bus und legte einen bunten Sarong als Tischdecke über die Platte. Noch war es zu hell, um die Kerzen anzuzünden, aber nach Sonnenuntergang würde die Kulisse sicher sehr romantisch wirken. Schließlich sollte sie einen ganz besonderen Abend erleben. Er hoffte nur, dass das Wetter ihm keinen Strich durch die Rechnung machen würde. Ben war gerade dabei eine Flasche Rotwein zu öffnen, als Sophie plötzlich vor ihm stand. »Hey! Da bist du ja schon.« Ben nahm sie in die Arme und küsste sie zart. »Ich hab deinen Wagen gar nicht kommen hören.«

»Pelle und ich sind gelaufen! Wir haben den ganzen Nachmittag faul im Garten gesessen und uns war nach Bewegung.«

»Schön, dass du da bist.« Er gab Sophie einen stürmischen Kuss und riss sie fast um.

»Langsam«, lachte sie. Ihre Tasche rutschte ihr von der Schulter und fiel zu Boden. Der Inhalt kullerte über den Rasen. Ben half ihr, die Sachen wieder einzusammeln.

»Was ist das denn?«, fragte er grinsend und griff nach der Zahnbürste. »Das finde ich aber süß, dass du dir ein Souvenir mitgenommen hast. Ein Andenken an unsere gemeinsame Nacht!«

»Souvenir?« Sophie sah ihn verwirrt an. »Quatsch! Das ist Ollis. Ich muss sie heute Morgen in Gedanken versehentlich eingesteckt haben.«

»Ollis? Nee, die ist mit ihm verreist. Das ist meine. Ich habe sie wie verrückt gesucht.« Ben lachte und steckte sie zurück in Sophies Tasche. »Bitte behalt sie. Ich habe noch eine. Wein?« Sophie starrte ihn an, als habe sie einen Geist gesehen. »Süße? Möchtest du ein Glas Wein?« Sie nickte und setzte sich langsam auf einen Stuhl. Er schenkte die beiden angeschlagenen Wassergläser voll. »Aufpassen! Da ist ne Macke im Glas. Du hast aber das gute! Nur auf einer Seite anschlagen.« Sophie lächelte und trank einen Schluck. »Ist alles paletti?«, fragte er forschend.

»Na klar! Was gibt es denn zu essen? Tina war der Meinung, du würdest uns eine Dose Ravioli warm machen.«

»So schlimm wird es nicht. Versprochen!« Er stellte einen Wok auf den Gaskocher, der neben dem Tisch stand, und ließ Sesamöl heiß werden. Dann gab er Knoblauch und Chilis dazu und briet Garnelen an. Sophie war von ihrem Stuhl aufgestanden und sah beeindruckt zu. Als die Garnelen knusprig waren, warf er Frühlingszwiebeln, Zitronengras, Zuckerschoten und Brokkoliröschen dazu und löschte alles mit Kokosmilch ab.

»Das riecht ja wie in meinem Lieblingsrestaurant!«

»Na dann.« Ben rührte im Wok und sie schwiegen. Es war ihm wichtig, dass sie sich wohlfühlte. Er wollte sie verwöhnen, auf seine Art und nach seinem Budget. Sophie sah aus wie eine Göttin. Sie warf ihr langes Haar zurück und lächelte ihn an. »Ich hoffe, du hast Hunger.« Ben gab Reis und das Garnelencurry auf zwei altmodische Teller und stellte sie auf den Tisch. »Guten Appetit!«

Sophie kostete und riss überrascht die Augen auf. »Ben! Das ist ja köstlich. Wirklich! Wo hast du das Rezept her?«

»Aus Asien. Ich meine, ich habe mich auf Phuket davon ernährt.«

»Mit ihr?«, fragte sie leise.

Er nickte nur. Sie aßen schweigend weiter. Ben hoffte, dass es kein peinliches Schweigen war, sondern dass sie ihr Essen genoss. Das Klingeln seines Handys ließ sie zusammenzucken. »Ich geh nicht ran!«

»Sieh wenigstens nach, wer dran ist«, lachte sie.

Ben griff in seine Hosentasche und sah auf das Display. Er zog überrascht die Augenbrauen in die Höhe. »Olli«, formten seine Lippen stumm, bevor er das Gespräch annahm. »Alter! Hey, wo steckst du denn?«

»Ich sitz am Meer«, lallte Olli. »Es sieht alles so… ich weiß auch nicht.«

Ben stand auf und zündete sich eine Zigarette an. »Ist alles in Ordnung? Ich meine, du klingst ein bisschen komisch. Bist du betrunken?«

»Betrunken? Nur ein ganz kleines bisschen. Nein, es geht mir gut. Ich glaube, ich verstehe langsam. Ja, Ben. Ich sehe immer klarer! Ach, du musst mir einen Gefallen tun. Das bist du mir schuldig.«

 

Sophie versuchte gelassen weiterzuessen. Am liebsten hätte sie Ben den Hörer aus der Hand gerissen. Ben wühlte sich mit der freien Hand durch das Haar.

»Was? Jetzt?«, fragte er Olli entsetzt. »Hat das nicht Zeit bis ...? Na gut! Nervensäge! Hast du mit den Bullen gesprochen? ... Was? ... Wie du meinst, bis dann.«

Ben drückte das Gespräch weg.

»Wo steckt er denn?«, fragte Sophie beiläufig und schenkte Wein nach. Das war vielleicht ihre Chance. Wenn Ben ihr sagen würde, wo genau sein Kumpel sich aufhielt, könnte sie Stefan informieren. Sie fühlte sich unwohl in ihrer Haut. Ben würde es ihr sicher übel nehmen, wenn sie seinen besten Freund verriet. Aber wenn Olli doch der Mörder war?

»Er ist in St. Peter-Ording. Sitzt betrunken am Strand und hat sich irgendwo ein Zimmer genommen.«

»St. Peter-Ording? Macht er das öfter?«

»Ab und zu schon. Weißt du, manchmal guckt er eben, wie die Konkurrenz so arbeitet. Morgen ist er wieder da.«

Sophie nickte und zündete sich eine Zigarette an. »Na, Hauptsache, es geht ihm wieder einigermaßen. Das Essen war übrigens super! Vielen Dank! Ich bin schon ziemlich lange nicht mehr von einem Mann so lecker bekocht worden.« Eigentlich nie, dachte sie bitter. Felix hatte sie zwar in die feinsten Restaurants der Welt eingeladen, aber er hatte ihr in der ganzen Zeit nicht mal ein Ei gekocht. Sie schüttelte den Gedanken ab. Es war nicht mehr wichtig, stellte sie überrascht fest. Es war eine andere Zeit, ein anderes Leben, und sie wünschte es sich nicht mehr zurück.

»Der Koch fühlt sich geschmeichelt«, versicherte Ben lachend. Dann wurde er ernst. »Sophie, es tut mir leid, aber Olli hat mich gebeten, kurz die Gasflasche in seinem Wohnmobil zu kontrollieren. Sie ist wohl bald alle und er hat irgendwelchen Fisch in seinem Gefrierfach. Ich bin in fünf Minuten wieder da. Geh nicht weg! Versprochen?«

Sophie nickte belustigt. Ben gab ihr einen langen Kuss und verschwand in der Dunkelheit. »Pelle?« Ihr dicker Freund lag gähnend unter dem Tisch. »Du passt doch fein auf, oder?«

Er legte den Kopf auf seine Pfoten und schloss die Augen. Auf dich ist auch kein Verlass, dachte Sophie grinsend. Sie fühlte sich angenehm leicht. Der Wein hatte sie entspannt und das wunderbare Essen hatte sie leicht müde gemacht. Sie schenkte sich noch einmal nach und sah in den Himmel. Aus der Ferne war schon Donnergrollen zu hören. In Gold war es noch immer sehr schwül. Sie war gespannt, wann das Gewitter kommen würde. Die Vorstellung, in Bens Armen zu liegen, während der Regen auf das Dach prasselte, war verlockend. Sie sollte ihre Zeit mit ihm einfach genießen und aufhören Detektiv zu spielen. Sie beschloss, Stefan nicht anzurufen. Ben hatte doch gesagt, dass Olli morgen sowieso zurückkommen würde. Ihre Einmischungen hatten bis jetzt doch eh nichts gebracht. Wenn sie daran dachte, welche Arbeit sich Franck mit der Zahnbürste machte, bekam sie ein schlechtes Gewissen. Der ganze Aufwand war umsonst. Warum hatte sie denn auch nicht nachgedacht? Es war doch logisch, dass Olli seine Zahnbürste mitnahm, wenn er über Nacht wegblieb. Und natürlich hatte Ben seine eigene mit ins Wohnmobil genommen. Ben! Sie sah auf die Uhr. War er tatsächlich schon 15 Minuten weg?

 

Ben lief eilig zurück zu seinem Bus. Er hoffte, dass Sophie noch da war. Erleichtert sah er sie im Schein des Windlichts auf dem Stuhl sitzen. Ihre Augen waren geschlossen. »Sophie?«

Sie blinzelte ihn überrascht an. »Ich muss irgendwie weggedämmert sein.«

»Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat. Ich ...«

»Ihh, du stinkst ja grauenhaft!«, fiel sie ihm ins Wort. Selbst Pelle rümpfte die Nase.

»Glaub ich gerne«, stöhnte Ben. »Die verfluchte Gasflasche war alle und der Fisch war schon grün. Ich musste die ganze Schweinerei wegmachen und dann die andere Gasflasche anschließen. Olli ist mir was schuldig! Nachtisch?«

Sophie sah ihn fragend an. »Jetzt noch?«

»Was ganz Süßes! Drinnen?«

Sie schüttelte lachend den Kopf. »Sei mir nicht böse, aber du stinkst wirklich übel und ich bin gerade schon eingenickt. Genießen wir den Nachtisch doch besser morgen. Ich glaube, ich geh lieber nach Hause.«

Ben schüttelte den Kopf. Sie durfte nicht gehen. Er hatte so lange nach einer Frau gesucht, die es schaffte, dass er vergessen konnte. Sophie war vielleicht diese Frau. Ben griff nach einer Flasche Mineralwasser und seinem Duschgel, das in einer Tüte vor dem Bus lag. Ohne sie anzusehen, zog er sein Hemd über den Kopf und seifte sich ein. Dann nahm er die Wasserflasche und wusch den Schaum ab. Sophie sah ihm amüsiert zu.

»Mit der Nummer kannst du auftreten«, kicherte sie.

Er ging zu ihr und nahm ihr schönes Gesicht in die Hände. Er küsste sie, erst zärtlich und dann immer heftiger. Sie zögerte erst, doch bald erwiderte sie seine Leidenschaft. Er zog sie in seinen Bus und schloss die Schiebetür. Später lagen sie auf dem sandigen Sarong. Ben streichelte ihr über den schönen Rücken. Sophie schmiegte sich an ihn, doch er konnte fühlen, dass irgendetwas nicht in Ordnung war.

»Was ist los?«

Sie schluckte heftig. »Ach Ben, du kannst dir nicht vorstellen, wie zerrissen ich gerade bin. Ich bin hierher gekommen, um einen Mann zu vergessen. Ehrlich gesagt, wollte ich nie wieder einen haben. Und jetzt liege ich schon wieder mit dir hier. Scheiße. Ich glaube, ich bin ziemlich durcheinander. Mir geht das alles zu schnell. Sei mir nicht böse, aber ich geh jetzt besser. Wir sehen uns morgen.«

»Bitte bleib! Wenn du jetzt gehst, dann ...« Ein Blitz zuckte und kurz darauf war der Donner zu hören.

»Ben, versuch mich zu verstehen! Ich muss ein bisschen nachdenken und ich bin müde.«

»Da draußen tobt gleich ein Gewitter!«

Sophie küsste ihn zärtlich und stand auf. Dann suchte sie im Kerzenlicht ihre Klamotten zusammen und zog sich an. Ben wusste, dass er sie nicht aufhalten konnte. Er lächelte sie traurig an und öffnete die Schiebetür.

Bevor Sophie aus dem Transit stieg, zögerte sie kurz. »Hast du schon mal darüber nachgedacht, dass Olli der Ostseekiller sein könnte?«

Ben war zu überrascht. Er konnte nicht antworten. Er starrte sie nur verwundert an. Sophie nickte nur und verschwand in der Dunkelheit. Sein Herz schlug bis zum Hals. Nein, er konnte sie nicht so gehen lassen. Ben sprang aus dem Bett und schlüpfte schnell in Jeans und T-Shirt. Bevor er den Bus verließ, riss er noch seine Regenjacke vom Haken. Er musste sie einholen.